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INTERVIEW/214: Karawane der Richtigstellung - Für Zivilcourage keinen Lohn ... Gespräch mit Veli Türkyilmaz (SB)


Eine türkisch-deutsche Geschichte politischer Repression

Interview am 21. März 2014 in Hamburg



Veli Türkyilmaz lebt seit 42 Jahren - abgesehen von einer längeren erzwungenen Unterbrechung - in der Bundesrepublik und gehört der zweiten Generation aus der Türkei stammender Arbeitsmigranten an. Der Sohn eines bereits in den 1960er Jahren in die BRD gekommenen Arbeiters könnte auf ein ganz normales Leben eines seit langem in Deutschland lebenden Menschen aus der Türkei zurückblicken, wenn er nicht seit jeher gegen soziale und politische Mißstände, gegen Rassismus, Faschismus und Imperialismus gekämpft hätte. Was einem Menschen hierzulande wie in der Türkei aufgrund seiner linken Gesinnung widerfahren kann, weicht von einer durchschnittlichen bürgerlichen Biografie so sehr ab, wie es sich ein unvoreingenommener Bürger dieses Landes vermutlich kaum vorstellen kann.

Am Rande der Karawane "Freiheit für alle politischen Gefangenen" erklärte sich Veli bereit, die hierzulande wie anderswo praktizierte politische Repression am Beispiel seiner Person auf exemplarische Weise zu illustrieren. Seine Schilderung erlangt besondere Bedeutung durch die strategische Zusammenarbeit Deutschlands und der Türkei, die zumindest für diejenigen aus der Türkei stammenden Menschen in der Bundesrepublik, die über keinen deutschen Paß verfügen, Probleme existenzbedrohender Art auslösen kann. Auf Bitte des Schattenblicks holte Veli weit aus, läßt doch gerade der Kontext des vermeintlich "normalen" Lebenslaufs eines in der Bundesrepublik Lohnarbeit verrichtenden Menschen die Willkür staatlicher Unterdrückung in ihrem zweck- und interessenbedingten Charakter scharf hervortreten.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Veli Türkyilmaz
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Veli, könntest du einmal deinen persönlichen Werdegang in der Bundesrepublik umreißen?

Veli Türkyilmaz: Ich kam 1972 infolge der Familienzusammenführung mit meiner Mutter und meinen Geschwistern in die BRD. Mein Vater war bereits in den 60er Jahren mit den ersten türkischen Gastarbeitern in die Bundesrepublik gegangen. Ich habe die Grund- und Berufsfachschule absolviert und hinterher geheiratet. Ich habe zwei Kinder, bin aber inzwischen geschieden. 33 Jahre war ich im metallverarbeitenden Gewerbe tätig, zur Zeit bin ich jedoch erwerbslos.

SB: Die Ankunft für einen Menschen aus einem anderen Kulturkreis, der anfangs die Sprache nicht beherrscht und mit den Sitten des Gastlandes nicht vertraut ist, war sicherlich nicht leicht. Hattest du während deiner Schulzeit Probleme mit deinen deutschen Mitschülern?

VT: Nein, als Kind hatte ich in Deutschland sehr schnell Freunde gefunden. Auch die deutschen Nachbarn waren sehr freundlich. Deswegen konnte ich rasch Deutsch lernen. Die wirtschaftliche Lage war in den frühen 70er Jahren noch in Ordnung. Mein Vater arbeitete in einer Stahlfirma, aber ein paar Jahre später mußten wir wegen der hohen Miete im Stadtzentrum in ein Ghettogebiet in Duisburg umziehen. Ich bin also ein Kind aus dem Ruhrpott, genaugenommen aus Hüttenheim. Dort bin ich aufgewachsen und habe auch die Hauptschule und später die Fachschule beendet.

In den 80er Jahren begann es in Deutschland wirtschaftlich zu kriseln. Ich erinnere mich noch gut daran, daß die ARD 1981 im Rahmen der Sendung "Schmelztiegel Ruhrpott" Interviews im Ghettogebiet über die Probleme der ausländischen Mitbewohner und Kinder geführt hatte. Wir hatten uns bei der Arbeiterwohlfahrt getroffen, weil es seinerzeit nicht viele türkische Vereine gegeben hat. Die Arbeiterwohlfahrt war für uns türkische Jugendliche eine wichtige Anlaufstelle. Dort gab es eine Folkloregruppe und auch Fußballmannschaften. Zu dieser Zeit machte ich eine dreijährige Lehre bei Mannesmann als Elektriker nebst Berufsfachschule. Ein Freund hatte sich bei Mannesmann beworben, nachdem er die Prüfung mit 99 Punkten bestanden hatte. Er wollte als Elektriker anfangen, wurde aber abgewiesen. Man hat ihm offen ins Gesicht gesagt, daß er als Türke Schlosser werden könnte, vielleicht auch Dreher, aber niemals Elektriker. Diesen Vorfall hatte ich in der Sendung erwähnt. Einen Tag später bekam ich von der Firma Hausverbot.

SB: Weil du dich kritisch im Fernsehen über die Zustände bei Mannesmann geäußert hast?

VT: Ja, weil ich über den Arbeitgeber berichtet habe, durfte ich meine Lehre dort nicht abschließen. Wir haben dann eine Kampagne gestartet, und ein Jahr später hat die Firma beschlossen, auch Türken als Elektriker einzustellen. Damals war die IG-Metall noch stark und hatte uns bei der Kampagne unterstützt.

SB: Die Gewerkschaft hat sich damals auch für die türkischen Arbeiter eingesetzt?

VT: Ja, sehr sogar. Damals gab es noch diese solidarische Einheit zwischen deutschen und türkischen Arbeitern. So konnten wir erreichen, was wir erreichen wollten, obwohl ich meine Lehrstelle nicht zurückbekam. aber wir hatten für die nachkommenden Jahrgänge einen Sieg errungen. Seinerzeit herrschte Wirtschaftskrise in Deutschland. Es gab viele Streiks, an denen ich als Jugendlicher teilnahm. Ich war immer bei den Linken in türkischen und auch deutschen Vereinen aktiv. Bei der Arbeiterwohlfahrt habe ich über zwei Jahre ehrenamtlich gearbeitet und meinen Landsleuten beim Dolmetschen geholfen, wenn sie Schwierigkeiten mit den Behörden hatten.

SB: Wie haben deine Eltern reagiert, als du dich politisch engagiert hast? Hattest du als Jugendlicher Probleme wegen deiner linken Einstellung?

VT: Ja, zu Hause hatte ich ein Problem mit meinem Vater, der mich gezwungen hat, in die Moschee zu gehen und den Koran zu lernen, obwohl wir Aleviten waren. Gott sei Dank hat sich mein Onkel, der sehr fortschrittlich war, für mich eingesetzt. Von ihm habe ich vieles über die anatolische Geschichte gelernt. Er hat auch meine politische Entwicklung gefördert. Das gilt übrigens auch für meinen Klassenlehrer. Für mich war er ein Idol. Er hat mir auch erzählt, was in der Türkei passiert und mich so zum Nachdenken gebracht. Im Unterbricht hat er uns über den Faschismus in Deutschland aufgeklärt. Wir haben auch über Marx und die deutschen Philosophen gesprochen. Die 16 Strophen von Schillers "Glocke" konnte ich damals sogar auswendig aufsagen. Natürlich haben wir auch über Goethe und Kant diskutiert.

SB: Welches Verhältnis hattest du als linker Aktivist zur Türkei?

VT: 1984 waren meine Eltern für immer in die Türkei zurückgegangen. Damals gab es von der Regierung Kohl eine Rückkehrprämie von 15.000 Mark pro Kopf. Mein Vater hat das Geld genommen und ist gegangen, während meine Schwester und ich in Deutschland geblieben sind. In der Türkei war seit meiner Ausreise viel passiert. 1980 hatte es einen Militärputsch gegeben. Viele meiner Verwandten in der Türkei wurden gefoltert, verloren das Augenlicht oder waren hinterher gelähmt. Sie leiden noch heute an den Folgen. Das hat mir wehgetan. Ich hatte damals viel über die Ereignisse in der Türkei gelesen und war auf Protestdemonstrationen gegen die Militärjunta gegangen. Schließlich zog ich in den Ennepe-Ruhr-Kreis. Nach meiner Wahl in den Ausländerbeirat wurde ich von türkischen Faschisten als gefährlicher Linker bezeichnet und beim türkischen Konsulat denunziert. Ich galt als Sozialist oder Kommunist und wäre, wie sie sagten, eine Schande für die Türkei. Im Konsultat hat man darauf jedoch nichts gegeben.

Veli Türkyilmaz im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Einschüchtern, spalten, isolieren - den Strategien der Repression widerstehen
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wie kam es dazu, daß du in der Türkei inhaftiert wurdest?

VT: Ende 1997 flog ich für zwei Wochen aus beruflichen Gründen in die Türkei. Vor dem Rückflug nach Deutschland hat man mich im Flugzeug festgenommen. Als ich nach dem Grund fragte, sagte man mir, es gäbe Probleme mit meinem Paß, und forderte mich auf mitzukommen. Ich wußte, was auf mich zukam, und hatte daher noch im Flugzeug laut geschrien: "Ich bin Veli Türkyilmaz, wenn mir etwas zustoßen sollte, ist der türkische Staat daran schuld." Man hat mich zusammengeschlagen und mir den Mund zugehalten. Kurz darauf wurde ich im Istanbuler Flughafen in eine Kabine gesetzt. Dort erhielt ich weitere Prügel. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, als man mich als Mitglied der DHKP-C verdächtigte und mir vorwarf, ein Kurier der kommunistischen Kader zu sein.

Schließlich wurde ich zur Wache abgeführt, wo ich fünf Tage lang jeder Form der Folter, die man in Büchern finden kann, unterzogen wurde. Ich kann darüber nicht frei reden, sonst kommen die Erinnerungen wieder hoch. Man unterzog mich Elektroschocks, folterte mich an den Genitalien, unterwarf mich der Palästina-Fesselung und preßte mich mit eiskaltem Druckwasser an die Wand. Sie haben alle möglichen Dinge mit mir gemacht. Ich mußte jedes Protokoll unterschreiben, obwohl ich das nicht wollte. Auch durfte ich keinen Rechtsanwalt konsultieren. Nach dem fünften Tag wurde ich dem Staatsanwalt vorgeführt. Trotz der Mißhandlungen hatte ich immer noch geglaubt, daß die Türkei ein moderner Staat sei und der Staatsanwalt meine Rechte anerkennen würde, aber das Gegenteil geschah. Auch er hat mich geschlagen. Als ich nach einem Rechtsanwalt verlangte, weil ich sonst nicht aussagen wollte, erwiderte er: Du bist hier nicht in Deutschland, du bist in der Türkei. Dann brachte man mich ins Gefängnis.

SB: Geschah dies zur Regierungszeit von Mesut Yilmaz?

VT: Ja, in seiner Amtszeit. Im Ümraniye Gefängnis in Istanbul wurde ich weiter gefoltert - fünf Tage von türkischen Polizisten und dann einen Tag von türkischen Soldaten. Dort saßen viele politische Gefangene. Ich wußte anfangs nicht, welcher Gruppe ich mich anschließen sollte. Schließlich habe ich mich für die sozialistischen Gefangenen entschieden. Insgesamt war ich anderthalb Jahre in diesem Gefängnis. Sechs Monate nach meiner Einweisung fand die Gerichtsverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof (DMG) statt. Der Staatsanwalt war ein Militär. Das war ein Überbleibsel der Militärdiktatur. Ich wurde der Mitgliedschaft in der DHKP-C angeklagt, aber aufgrund der guten Verteidigung meines Rechtsanwalts wurde ich wegen Hilfsleistung für die DHKP-C zu fünf Jahren Haft verurteilt. Weil das Gefängnis zu weit vom Wohnort meiner Eltern in Ankara entfernt lag, stellte ich einen Antrag auf Überführung in das anatolische Gefängnis Cankiri, das etwa 60 Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt ist, damit ich am Wochenende Besuch erhalten konnte. Zunächst war das Leben im Gefängnis schwer, aber erträglich, weil die Genossen sich kollektiv unterstützten. Aber dann begannen die Folterungen wieder. Auch meine Eltern und Geschwister wurden gefoltert, wenn sie mich besuchten.

Ende 2000 fing die Diskussion über die F-Typ-Gefängnisse an. Am 19. Dezember 2001 kam es schließlich zum Übergriff des türkischen Militärs auf unser und viele andere Gefängnisse. Es war fürchterlich, ich erinnerte mich an die Filme, die ich früher im deutschen Fernsehen über das KZ Auschwitz gesehen habe. Ich habe Auschwitz selber besucht und konnte mir ein Bild davon machen, wie die Menschen dort gestorben sind. Die Soldaten warfen fünf verschiedene Gasbomben in die Gemeinschaftszellen. Das Nervengas war das schlimmste. Plötzlich spürte ich entsetzliche Schmerzen an den Füßen und hatte das Gefühl, gleich platzen zu müssen. Dann wurde ich ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, leisteten wir Widerstand, aber nur mit unseren Händen, Löffeln und Gabeln, während die Soldaten ihre Waffen einsetzten. Durch das türkische Militär habe ich begriffen, was Faschismus bedeutet, nicht aus Büchern, die ich in Deutschland gelesen hatte, sondern weil ich es selbst erlebt habe. So mußte es den Juden in Nazi-Deutschland ergangen sein. Später habe ich erfahren, daß sechs Frauen beim Sturm auf das Gefängnis Bayrampasa bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.

Viele Genossen hatten in der Folge mit dem Todesfasten angefangen, weil es die einzige Möglichkeit war, sich zur Wehr zu setzen. Als Europäer war ich anfangs gegen das Todesfasten. Ich sagte mir, daß ich das nicht durchhalten könnte. Aber als ich schließlich ins F-Typ-Gefängnis Sincan verlegt wurde, mußte ich den Genossen recht geben. Dagegen mußte man Widerstand leisten, sonst hätten sie uns einfach sterben lassen. Wenn man so oder so sterben muß, ist das Todesfasten die einzige Option. Ich war nur 14 Tage im F-Typ-Gefängnis. Dann kam Amnesty International in die Türkei.

SB: Könntest du den Unterschied zwischen einem F-Typ-Gefängnis und deiner vorherigen Haft in einem regulären Gefängnis schildern?

VT: In dem regulären Gefängnis gab es Gemeinschaftszellen mit 15 Leuten. Wir konnten in den Hof gehen, wann wir wollten, und Freunde in den anderen Zellen besuchen. Wir haben alles gemeinschaftlich getan, wir haben gelesen, zusammen gebastelt und den Tag verplant. Natürlich gab es viel Druck, aber man konnte sich dagegen wehren und so einige Erleichterungen durchsetzen. Sicherlich war die Unterbringung, wenn man mit 20 und manchmal bis zu 40 Leuten in einer Zelle saß, nicht hygienisch. Auch dagegen haben wir protestiert. Später im F-Typ-Gefängnis war unsere Forderung, mit den Genossen zusammenkommen und sprechen zu dürfen.

Damals gab es zwischen dem türkischen Staat und dem europäischen Parlament eine Absprache. Die Europäer hatten Druck auf die türkische Regierung ausgeübt und erklärt, daß die Türkei Geld bekäme, wenn sie diese Art von Haftanstalten bauen ließ. Uns war klar, daß wir in diesen Gefängnissen isoliert werden sollten. Ich hatte meinem Vater im Gemeinschaftgefängnis Cankiri erklärt, welche Konsequenzen das haben würde, aber er sagte darauf, nein, so etwas ist undenkbar. Als ich dann im F-Typ-Gefängnis Sincan war, hat mein Vater zu mir gesagt, deine Genossen haben recht mit dem Todesfasten, hier hat man keine andere Chance. Aber bis er in Sincan zu mir in die Zelle gelangte, wurde er geschlagen, gewürgt und erniedrigt. Wie kann man das einem 70jährigen Menschen antun!

Ich war nur 14 Tage im F-Typ-Gefängnis, wurde jedoch jeden Tag zweimal von den Gefängniswärtern gefoltert. Aus den nichtigsten Anlässen wurde man geschlagen. Ein Beispiel dazu: Ich war in einer Einzelzelle, und wenn der Wärter hineinkam, rief er: Aufstellung! Ich erwiderte darauf, hör mal, ich bin hier der einzige, was willst du mich zählen? Aus solchen Gründen hat man uns immer wieder geschlagen und gefoltert, jeden Tag zweimal. Weil ich das alles selbst miterlebt habe, weiß ich, daß die Würde das erste ist, was am Menschen abstirbt. Ich habe eine europäische Einstellung und bin daher dagegen, daß ein Genosse sein Leben für andere opfert, aber wenn man keine andere Möglichkeit mehr hat, bleibt nur dieser Weg. Wer das tut, verdient Respekt und Bewunderung.

SB: Wie hat die EU die Einführung der F-Typ-Gefängnisse in der Türkei begründet?

VT: In der Türkei gab es einen starken Aufschwung von links und viele Demonstrationen. Es hieß, daß die politischen Gefangenen Teil dieser Aufstände waren, daß sich unter ihnen gewissermaßen die Rädelsführer befanden. Daher sollten alle politischen Gefangenen isoliert werden, damit sie keine Verbindung nach draußen haben. Angenommen, in Istanbul, Ankara oder in einem anderen Teil der Türkei fanden Demonstrationen statt, dann wurde behauptet, daß der Auftrag dazu aus dem Gefängnis kam, obwohl das gar nicht stimmte. Es wurde einfach unterstellt, daß die politischen Gefangenen Pistolen und Gewehre besitzen und vom Gefängnis aus Telefongespräche führen.

Aber beim Angriff des Militärs am 19. Dezember 2001 hat man gesehen, daß die Gefangenen weder Waffen noch Telefone besaßen. Hätten sie Gewehre gehabt, wären viele Soldaten erschossen worden. Bei den Übergriffen sind zwar zwei Soldaten gestorben, aber sie kamen durch ihre eigenen Leute ums Leben, was auch bewiesen werden konnte. Vor dem Hintergrund dieser Behauptungen hat die Europäische Union bzw. die internationale Gemeinschaft gefordert, den politischen Aufstand in der Türkei zu beenden. Tatsächlich hat es seinerzeit eine Kampagne in der Türkei gegen den Imperialismus der USA und der EU gegeben. Die türkischen Linken wollten verhindern, daß die USA die Türkei als Aufmarschbasis für ihren Krieg gegen den Iran und Irak benutzen.

SB: Waren die F-Typ-Gefängnisse als Einzelzellen konzipiert?

VT: Nein, es gab Ein-, Zwei- und Drei-Personen-Zellen. Ich war zuerst in einer Dreier-Zelle und später in einer Einzelzelle. In den beiden ersten Wochen in Sincan durften wir nicht an die frische Luft gehen und keinen Besuch erhalten. Jeden Tag kamen sie zweimal - morgens um 8 Uhr und abends um 20 Uhr - mit 20 Wärtern in die Zellen und haben uns zusammengeschlagen. Dann ging es in die nächste Zelle und so weiter.

SB: Wie erklärst du dir, daß die türkische Regierung mit äußerster Brutalität gegen die Gefangenen vorging; lag es daran, daß es sich dabei um linke Gefangene handelte?

VT: Die Repression richtete sich gegen alle Gefangenen in den F-Typ-Gefängnissen, die gegen ihre Haftbedingungen rebellierten. Die Gefangenen der PKK haben sich nicht gewehrt und sind deswegen vom Angriff der Militärs verschont geblieben. Aber der Protest vieler kurdischer oder türkischer Linker, die sich gegen das Typ-F-System zur Wehr gesetzt haben, wurde gewaltsam niedergeschlagen. Hätten die Linken damals nachgegeben, wäre ihnen viel Schlimmeres geschehen. Sieben Jahre hat der Widerstand gedauert und 122 Leben durch das Todesfasten gekostet. Der letzte Todesfaster war ein Rechtsanwalt gewesen, der seine Klienten nicht besuchen durfte und deswegen fast 300 Tage jede Nahrung verweigerte. Erst durch die Unterstützung vieler Demokraten in der Türkei und aus Europa, die die Öffentlichkeit über die Zustände in den Gefängnissen aufgeklärt haben, konnte erfolgreich Druck auf die türkische Regierung ausgeübt werden. Leider haben die Genossen nicht alles erreicht, was sie erreichen wollten.

SB: Wie ging es für dich weiter?

VT: Zwei Wochen nach meiner Entlassung habe ich einen Antrag auf Rückkehr nach Deutschland gestellt. Leider war mein Reisepaß abgelaufen. In Deutschland hatte ich eine unbefristetete Aufenthaltserlaubnis. Durch Bestechung konnte ich meinen Paß wieder verlängern und nach Deutschland ausreisen. Die Ausländerbehörde war ziemlich überrascht von meiner Rückkehr. Weil sich meine damalige Ehefrau während meiner Haft für mich eingesetzt hatte, wußte die Behörde, was mit mir in der Türkei geschehen war. Sie haben meinen Paß dann ganz normal verlängert.

SB: Warst du die ganze Zeit über türkischer Staatsbürger?

VT: Ja, aber jetzt nicht mehr.

SB: Du hattest vorher viele Jahre in Deutschland gelebt. Gab es irgendeine Bemühung seitens der deutschen Regierung, sich für dich einzusetzen?

VT: Nein, überhaupt nicht. Obwohl meine Ex-Frau die Ämter über die Umstände meiner Verhaftung informiert hatte, geschah nichts.

Veli Türkyilmaz im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gegen Kontaktverbote - frei und solidarisch aus Prinzip
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Du leidest nach wie vor unter staatlicher Repression bzw. wirst durch die Polizeibehörden drangsaliert. Möchtest du dich dazu äußern?

VT: Ja. Ich möchte jedoch zunächst vorwegschicken, daß es bereits 1996 in der Türkei zum Todesfasten gekommen war. Ich habe auch damals in vielen Aktionen in Deutschland gegen die Haftbedingungen in der Türkei protestiert. Obwohl die Demonstrationen angemeldet waren, kam es zu Übergriffen durch die Polizei. Es wurde auch Anzeige gegen uns erstattet. Als ich nach Deutschland zurückkam, erhielt ich zwei Tage später Besuch von der Staatsschutzabteilung der Düsseldorfer Polizei. Es kamen drei Beamte und ein Dolmetscher, aber den Dolmetscher habe ich nicht hereingelassen. Die Polizeibeamten fragten mich, was ich hier mache. Ich antwortete, meine Familie lebt hier. Darauf sie: Wie soll es mit Ihnen weitergehen? Ich werde innerhalb der demokratischen Grenzen meine politische Arbeit weiterführen, erwiderte ich und fügte hinzu, und bleibe Mitglied in der Anatolischen Föderation. Die Polizisten sind dann gegangen. In Wuppertal gab es eine Zweigstelle der Anatolischen Föderation, wo ich häufig mitgearbeitet habe, vor allem bei den kulturellen Veranstaltungen oder wenn Informationsstände über Ausländerprobleme eingerichtet werden sollten. Meine Erfahrungen in den türkischen Gefängnissen haben mich verfolgt, weswegen ich mich für die politischen Gefangenen hier in Deutschland eingesetzt und an Protestaktionen teilgenommen habe.

SB: Beteiligst du dich erstmals an der Karawane?

VT: Nein, das ist jetzt meine zweite Karawane. Ich war 2010 ebenfalls dabei. Im Anschluß darauf führte die Polizei Razzien gegen Personen und Einrichtungen der Anatolischen Föderation durch. Bei mir standen sie morgens um 8 Uhr vor der Haustür. Ich hatte Nachtschicht, aber die Polizei wußte immer, wann ich zur Arbeit ging und wann ich zu Hause war, weil sie mein Telefon abhörten. Mir war klar, daß ich unter Beobachtung stand. Sie nahmen mich nicht fest, wollten mich jedoch dazu bringen, die Genossen vom Verein zu bespitzeln.

SB: Haben die Druck ausgeübt, um dich als Spitzel zu gewinnen?

VT: Es war mehr ein psychischer Druck, denn ich wußte, daß jeden Tag ein Auto vor meiner Wohnung stand mit zwei Leuten drin, die mich observierten. Weil ich in einer Gemeinschaftswohnung mit meiner Schwester und einem Verwandten lebte, litten auch sie darunter. Vor zwei Jahren bin ich nach Bremen gezogen. Im Juni letzten Jahres erfolgte eine weitere Razzia gegen die Anatolische Föderation. Während dieses Polizeieinsatzes wurde die Wohnung der damaligen Vorsitzenden der Anatolischen Föderation Latife Adigüzel durchsucht und sie in Untersuchungshaft genommen. Die Polizisten waren auch bei mir in Bremen, aber ich war nicht zu Hause, sondern auf Montage in Bremerhaven. Dennoch haben sie meine Wohnung in Bremen durchsucht und alles durcheinandergebracht. In Bremerhaven hatte ich eine Zweitwohnung wegen der Montage. Auch diese Wohnung wurde in meiner Abwesenheit auf den Kopf gestellt. Sie sind dann zu meinem Arbeitgeber, der ebenfalls Türke ist, gegangen und haben ihn über mich ausgefragt. Sie waren auch bei meiner Schwester in Wuppertal und haben dort das Haus, in dem ich vorher gewohnt habe, durchsucht.

Zu der Zeit habe ich in Wedel in Hamburg auf einer Schiffswerft gearbeitet. Meine Schwester rief mich auf dem Handy an und später auch mein Arbeitgeber. Nach der Arbeit bin ich dann gleich ins Polizeipräsidium gegangen und habe gefragt, was gegen mich vorliegt. Die vom Revier wußten jedoch nichts und haben daher beim Staatsschutz angerufen. Man gab mir den Hörer, und so erfuhr ich, daß Staatsschutzbeamte und ein Staatsanwalt in meiner Wohnung waren. Daraufhin habe ich zu dem Beamten am Telefon gesagt: Sie waren bei meiner Schwester, mit welchem Recht? Sie waren bei meinem Arbeitgeber, mit welchem Recht? Sie wissen ganz genau, wo ich bin, da Sie mein Telefon abhören. Liegt ein Haftbefehl gegen mich vor? Nein, war die Antwort, aber eine Anzeige. Sie haben Druck auf meinen Arbeitgeber ausgeübt, fuhr ich fort, wenn er mir jetzt kündigt, sind Sie schuld, daß ich arbeitslos werde. Der Beamte sagte noch, tut uns leid, und legte den Hörer auf.

In Bremen mußte ich meinen neuen Schlüssel beim Polizeipräsidium abholen, weil sie ein neues Schloß an der Tür angebracht hatten. Dort haben sie mich mit Gewalt ergriffen und in die Bremer Hauptzentrale gebracht. Fünf oder sechs Stunden saß ich in einer Zelle, bis sie mich freigelassen haben. Ich habe in Bremen eine Freundin. Ihr gegenüber wohnt ein älterer Kriminalbeamter. Zwei Tage später ging er zu meiner Freundin und fragte sie: "Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie befreundet sind?" Er bekam eine gepfefferte Antwort: "Ja, ich bin mit einem Revolutionär zusammen. Haben Sie etwas dagegen?" Sie weiß von meinem Leben, da wir uns von kleinauf kennen, aber bei ihrer Tochter hat dieser Zwischenfall einen verstörenden Eindruck hinterlassen. Eine Woche mußten wir mit ihr darüber reden, bis sie das Ganze verarbeitet hatte. So etwas kann eine Ehe oder Beziehung kaputtmachen. Hätte sie sich vom Polizisten einschüchtern lassen, hätte sie vielleicht zu mir gesagt: Halte dich künftig von mir fern.

SB: Mit welcher Begründung hat die Polizei dich fortwährend drangsaliert?

VT: Auf der Anklageschrift steht, ich sei eine Kontaktperson der damaligen Vorsitzenden der Föderation Latife Adigüzel. Von der Staatsanwaltschaft habe ich einen Auszug mit allen Telefongesprächen, die ich mit ihr geführt habe, bekommen. Ich kenne Adigüzel schon aus der Zeit, bevor sie der Anatolischen Föderation vorstand. Ein weiterer Grund war, daß ich mit einem Freund der Familie öfter telefoniert habe. Wir sprachen übers Heiraten und dieses und jenes, aber die Staatsanwaltschaft hat darin etwas Politisches gesehen. Das sind alles lächerliche Unterstellungen. Die gesamte Akte habe ich nicht durchgelesen. Das besorgt mein Rechtsanwalt.

SB: Heißt das, daß gegen dich ein Verfahren anhängig ist?

VT: Ja. Bereits im Verfahren gegen Sadi Özpolat nach der ersten Razzia gegen die Anatolische Föderation hatte man mich beschuldigt, ihn bei mir untergebracht zu haben. Die Klage gegen mich wurde jedoch fallengelassen. Bei mir ist jeder Revolutionär willkommen, solange er keine Gewalt ausübt und sich für die Menschenrechte einsetzt, egal, ob er Deutscher, Araber, Afrikaner, Kurde oder Türke ist.

SB: Man gewinnt den Eindruck, daß du das Objekt einer gezielten Einschüchterungsstrategie bist, mit der versucht wird, jede Art von politischer Betätigung zu unterdrücken.

VT: Ja, das ist die Absicht des Systems. Es will mich von meinen Landsleuten isolieren. Latife Adigüzel ist inzwischen auf Kaution freigelassen worden. Aber man hat ihr eine Liste mit Namen vorgelegt, darunter enge Freunde, Bekannte, Genossen, denen sie nicht einmal "Guten Tag" sagen darf. Wenn sie mit einem dieser Leute redet, kommt sie wieder ins Gefängnis. Dadurch will man uns zum Aufgeben zwingen. Erst kommt man ins Gefängnis und dann erhält man Bewährung mit strengen Kontaktverbotsauflagen. Verstößt man dagegen, wird man wieder inhaftiert.

Ich bin als Mensch, nicht als Mitglied der Anatolischen Föderation und auch nicht als türkischer oder kurdischer Linker, absolut dagegen, daß man mir untersagen will, einen Freund zu begrüßen. Das kann man mir nicht verbieten, dagegen werde ich kämpfen. Man kann mir auch nicht verbieten, an Verhandlungen hier in Deutschland gegen politische Gefangene teilzunehmen. Einer der Gefangenen, Özkan Güzel, leidet infolge der langjährigen Haft in der Türkei an der Wernicke Korsakow-Krankheit. Nachdem sich Demokraten und Linke in der Türkei für ihn solidarisch eingesetzt hatten, wurde er freigelassen. Dafür mußte man kämpfen. Ich kenne ihn. Er kann nicht allein gehen und muß sich an der Wand abstützen, weil er sonst hinfällt. Nach seiner Entlassung kam er nach Deutschland und hatte einen Asylantrag gestellt. Trotz seiner Krankheit hat er seine politische Einstellung beibehalten. Weil er legale Zeitungen und Tickets der Musikband Grup Yorum verkauft hat, erließ die deutsche Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen ihn. Er sitzt im Moment in Untersuchungshaft in Mönchengladbach. Wir sind an die Öffentlichkeit gegangen, um darauf hinzuweisen, daß Ärzte in der Türkei bescheinigt haben, daß er schwer krank ist, aber die deutschen Behörden nehmen das nicht zur Kenntnis und bestehen darauf, daß er in Untersuchungshaft bleibt, weil es angeblich keine gesundheitlichen Bedenken gäbe.

SB: Veli, vielen Dank für dieses freimütige Gespräch.

Projektion des Transparents 'Resistance is not a crime' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

Bisherige Beiträge zur Karawane "Freiheit für alle politischen Gefangenen" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/178: Karawane der Richtigstellung - Der Staat ist gekommen, Paragraphen schlagen aus ... (SB)
INTERVIEW/212: Karawane der Richtigstellung - Enttäuscht, vertrieben und verfolgt, Gespräch mit Dila Eroglu-Sahin (SB)
INTERVIEW/213: Karawane der Richtigstellung - Alte Kämpfe, neue Form, Gespräch mit Gül (SB)

7. April 2014