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INTERVIEW/234: Weggenossen unverdrossen - erst eine demokratische Gesellschaft ..., Issam Haddad im Gespräch (SB)


Der Libanon im Schatten sozialer und regionaler Erschütterungen

Interview am 29. Juni 2014 auf dem UZ-Pressefest in Dortmund



Issam Haddad ist Mitglied der KP Libanon, hat in der Bundesrepublik Medizin studiert und als Arzt gearbeitet. Auf dem UZ-Pressefest im Revierpark Wischlingen in Dortmund beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur politischen Situation im Libanon und zu möglichen Zukunftsaussichten.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Issam Haddad
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Haddad, die gesellschaftspolitische Situation im Libanon droht zu eskalieren. Könnten Sie die aktuelle Lage aus Ihrer Sicht schildern?

Issam Haddad: Im Schatten des Bürgerkriegs in Syrien mit seiner gefährlichen Bedrohung des inneren Friedens auch für unser Land steckt der Libanon in einem großen sozialen und politischen Konflikt. Seit dem 25. Mai haben wir keinen Staatspräsidenten mehr. Das Parlament, dessen Aufgabe es ist, einen Nachfolger zu wählen, ist durch die gegenseitige Blockierung der verschiedenen Strömungen gelähmt. Schlimmer noch als das ist jedoch, daß die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes seit Monaten in einen Lohnstreik getreten sind. Über 200.000 Menschen gehen auf die Straße und fordern in einem offenen Kampf ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte ein. Die Vorgängerregierung hat die Forderungen dieser Bewegung, die von einem Koordinierungskomitee repräsentiert wird, prinzipiell anerkannt und an das Parlament weitergeleitet, um darüber zu entscheiden. Das Parlament ist jedoch durch die beiden Parteienblöcke blockiert. Zudem verhindert der Einfluß des Bankenkartells, das einen Machtfaktor ersten Grades in diesem kleinen Land bildet, jegliche Art von sozialer Umwälzung oder selbst so kleiner Schritte wie die seit dreizehn Jahren fällige Lohnerhöhung der Bediensteten im Staatsapparat. Tatsächlich wird ihre Besoldung und Staffelung immer wieder hinausgeschoben, so daß es seit vier Monaten zu anhaltenden Demonstrationen kommt. In der Folge dieser Streiks stehen die Abschlußprüfungen sowohl auf den Mittelschulen als auch auf den Hochschulen aus. In dieser Hinsicht ist das Land tatsächlich wie gelähmt. An den Streiks beteiligen sich neben Lehrern, Gerichtsdienern und Richtern auch die höchsten ehemaligen Diplomaten und hohen Offiziere, aber auch die Polizei und die Zollbeamten, überhaupt alle Branchen des öffentlichen Dienstes, die solidarisch im Koordinierungskomitee versammelt sind, um ihre Rechte zu verteidigen.

Durch die nicht stattgefundene Wahl des neuen Präsidenten ist die letzte Instanz blockiert. Das Parlament wiederum hat seine Legislaturperiode vor einem dreiviertel Jahr quasi durch einen unrechtmäßigen Akt der Selbstbedienung verlängert. Eigentlich waren im letzten Jahr im Zeitraum von Juni bis spätestens September Neuwahlen angesetzt. Nun soll in zwei Monaten gewählt werden. Damit ist nicht nur das Parlament handlungsunfähig, auch das höchste Staatsamt bleibt vakant, nachdem der ehemalige Präsident Michel Suleiman aus dem Staatsdienst ausgetreten ist. Abgesehen von immer wiederkehrenden terroristischen Anschlägen wird der soziale Frieden des Landes durch die anderthalb Millionen syrischen Flüchtlinge bedroht. Der Libanon könnte daher in eine sehr gefährliche Situation geraten.

SB: Welche Fraktionen und Kräfte stehen sich im Parlament gegenüber, um die Nachfolge der Hariri-Dynastie anzutreten?

IH: Treibende Kraft ist der Parteienblock, der sich Allianz des 14. März nennt. Unter diesem Dach sind neben den Hariri-Anhängern sowohl die aus profaschistischer Ideologie entstandenen Kräfte der Forces Libanaises als auch die Phalange selbst versammelt. Dieses Bündnis stellt effektiv ein Drittel des Parlaments, aber durch die weitere Vernetzung mit anderen, fast selbständigen Gruppen, die am rechten Rand stehen, bildet es fast die Hälfte des Parlaments. Demgegenüber steht als anderes Konglomerat die Koalition des 8. März, worunter die Anhänger und Unterstützer der Hisbollah sowie die Amal-Bewegung fallen. Letztere steht in ihrer politischen Ausrichtung sowohl der Hisbollah als auch dem syrischen Regime nahe. Ein dritter unabhängiger Block ist die Freie Patriotische Bewegung des Generals Michel Aoun als der größten Vertretung der christlichen Gemeinden, die allerdings Allianzen mit den beiden anderen Blöcken unterhält. All diese Blöcke blockieren sich gegenseitig und neutralisieren das Parlament, so daß bis jetzt kein Lager wirklich eine Mehrheit bilden konnte, um eine richtungsweisende Entscheidung zu treffen. Auch die Gruppe um den Drusenführer Walid Jumblatt verfolgt einen Sonderweg, indem sie zwischen den verschiedenen Kräften laviert.

Im Schatten des Bürgerkriegs in Syrien wird das gesamte libanesische Regierungssystem in Frage gestellt, das seit der Unabhängigkeit 1943 in Koalitionen der verschiedensten religiösen Gruppen nur Bürgerkriege produziert und das Land immer wieder an den Abgrund getrieben hat. Es stellt sich wirklich die Frage, inwieweit die demokratischen, liberalen Kräfte zusammenrücken, um die Initiative für ein neues Libanon zu ergreifen, wo alle Libanesen unabhängig von Religion oder ethnischer Zugehörigkeit als Bürger anerkannt und vor dem Gesetz gleich sind. Auf dieser Basis könnte die Möglichkeit geschaffen werden, daß alle Libanesen sich in die Entwicklung des Landes einbringen.

SB: Die Organisation der politischen Macht im Libanon war immer problematisch aufgrund der verschiedenen Religionen und Ethnien, ist aber doch auf eine gewisse Weise demokratisch gelöst worden. Verschärft wurden die Probleme jedoch durch äußere Einflüsse aus Israel und Syrien sowie den inneren Machtfaktor des Bankenkapitals. Können Sie sich vorstellen, daß sich die Situation im Libanon unter diesen Bedingungen mit einer anderen Verfassung und einem anderen parlamentarischen System verbessern ließe?

IH: Formell kann ich mir das vorstellen, aber real nicht, weil dazu erst einmal die Voraussetzung geschaffen werden müßte, daß alle Bürger des Libanon vor dem Gesetz gleich sind und dies auf der Basis eines demokratischen Staatswesens gesichert ist. Dazu bedarf es tatsächlich der Neugründung des Libanon. Und das wird in der Zukunft die Aufgabe einer liberalen, demokratischen Strömung sein, die sich als Vertretung der Interessen der breiten Masse sowohl der Mittelschicht der Beschäftigten und Werktätigen als auch der verarmten Bauern versteht.

SB: Heißt das, daß Sie das bestehende Staatssystem, das im Grunde ein Kompromiß zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Interessengruppen war, abschaffen wollen?

IH: Dieses Staatssystem hat nur Kriege bewirkt, weil es den Filz einzelner Gruppen begünstigt, die den politischen Impuls an sich reißen und Einfluß auf das ganze Land ausüben. In Verbindung damit haben sie Allianzen mit ausländischen Kräften geschlossen, um ihre Position zu verteidigen. Das ging aber immer zu Lasten der Werktätigen, verarmter Bauern und der immer wieder gepeinigten neuen Generation, die hier mit der Hoffnung heranwächst, durch Bildung aus dem Elend herauszukommen. Statt dessen steht sie immer wieder vor derselben Situation, entweder auszuwandern, um irgendwo arbeiten zu können, oder im Land zu bleiben und unter den mafiösen Verhältnissen zu verarmen.

SB: Wer verfügt über die Kapitalmacht im Libanon? Stecken dahinter zum Beispiel Gelder aus Saudi-Arabien oder transnationale Finanzinteressen, die auf den ersten Blick nicht als solche auszumachen sind?

IH: Die Ressourcen oder Strömungen des Kapitals im Libanon kommen nicht nur von den arabischen Nachbarn. Manchmal ist es auch Kapital, das durch dunkle Kanäle fließt. Es ist weithin bekannt, daß der Libanon ein Markt für das Waschen schwarzer Gelder ist. Aber abgesehen davon zirkulieren auch schwer erarbeitete Kapitalströmungen im Land von Libanesen, die im Ausland arbeiten und die Existenz ihrer zurückgebliebenen Familien absichern, indem sie Devisen ins Land schicken. Beirut ist das große Becken für das arabische Kapital, seien es die Golfstaaten, Saudi-Arabien, aber auch Syrien und der Irak, um es in Form von Investitionen in den Banken oder Depots abzusichern. Man kann nicht sagen, daß Europa oder die USA jetzt unbedingt die Herkunftsländer der Kapitale sind, meistens kommen sie aus dem arabischen Raum, aber manchmal sind es auch Anleihen aus dem europäischen oder lateinamerikanischen Ausland. Das Kapital ist im Grunde international. Das libanesische Bankensystem, das im Dienste vieler politischer Strömungen steht, hat sich bis jetzt gehalten, weil seine Aufgabe darin besteht, den Staatsapparat im Libanon selber zu finanzieren. Das Staatsbudget wird praktisch von den libanesischen Banken finanziert. Das geht immer auf Pump. Daher können die Banken auch einen starken Druck auf den Staat ausüben. Wenn sie nein zur Redefinition der Staffelung und Besoldung der Staatsbediensteten und Beamten sagen, dann können sie das von einem Standpunkt der Stärke aus tun, weil sie den Staatshaushalt vorfinanzieren.

SB: Stellt die KP Libanon Abgeordnete im Parlament?

IH: Nein, durch das Wahlsystem, das Kontingente der religiösen Gruppen vorsieht, wurden wir immer daran gehindert. Das heißt, auf nationaler Ebene gibt es keine Einheitsliste. So ist zum Beispiel der Nordlibanon in sieben Distrikte konfessionell aufgeteilt. Auf diese Weise werden die Möglichkeiten der kommunistischen und anderer Parteien zersplittert, es sei denn, man hängt an irgendeiner Hauptströmung wie zum Beispiel der Hisbollah und wird mitgenommen. Ansonsten bleibt man im politischen Spiel draußen. Wenn es im Libanon gelänge, eine Liste für das ganze Land aufzustellen, würden die Kommunisten wahrscheinlich auf neun bis elf Prozent kommen. Diese Kraft, die unter den Bauern auf dem Lande und den Werktätigen in den Städten und in der Mittelschicht existiert, wird durch die Zersplitterung des Wahlsystems blockiert, das solche Kräfte nicht in die Legislative kommen läßt.

SB: Die Hisbollah hat im Verhältnis zu Israel lange Zeit eine Rolle in der Landesverteidigung gespielt. Hat sie Ihrer Ansicht nach dabei nur eigene machtpolitische Ziele verfolgt oder tatsächlich im Interesse der libanesischen Bevölkerung gehandelt?

IH: Wir sind mit der Hisbollah in diesem Punkt einig, daß wir die Souveränität des Landes und der Bevölkerung, nicht nur im Süden, zu sichern und in dieser Widerstandsbewegung gemeinsam zu handeln haben. Was uns von der Hisbollah trennt, ist die soziale Politik. Wie jede andere religiös ausgerichtete Gruppe im Libanon stellt die Hisbollah die Religion über die soziale und wirtschaftliche Frage. Wir meinen, daß der Widerstand gegen den Einfluß der Supermächte oder die Androhung seitens Israels nur dann in der Bevölkerung verankert sein kann, wenn er die Belange der kleinen Leute, der Bauern und auch der Mittelschicht im Süden wie im ganzen Land berücksichtigt. Von daher muß die soziale und demokratische Frage mit der Nationalfrage und Sicherheit des Landes verbunden sein. Ein starker Widerstand ist nur im Namen des Volkes und im Interesse der Arbeiter möglich. Das kritisieren wir an der Politik der Hisbollah, aber in der militärischen Verteidigung des Landes treten wir mit ihr in den gemeinsamen Kampf. Wenn die Hisbollah ihre Märtyrer beklagt hat, waren unter den Gefallenen auch immer Opfer von uns. Wir stehen dafür, diesen Widerstand zu verstärken und auch besser zu organisieren, aber wir differieren darin, daß wir den Widerstand mit unserer sozialpolitischen Ausrichtung verbinden.

SB: Herr Haddad, vielen Dank für das Gespräch.


Bisherige Beiträge zum 18. UZ-Pressefest in Dortmund im Schattenblick unter
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6. August 2014