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INTERVIEW/243: NYC Climate Convergence - Da geht doch was ...    Judith LeBlanc im Gespräch (SB)


Wie kann sich die US-Linke politisch durchsetzen?

Interview mit Judith LeBlanc am 24. September 2014 in New York



Judith LeBlanc ist Vorstandsmitglied der Communist Party USA und passionierte Friedensaktivistin. Auf der Tagung NYC Climate Convergence am 20. September in New York war sie Referentin der Workshops "Climate Change and Militarism: Following the Money and Unterstanding the Costs" und "Deadly Connections: Challenging Nuclear Weapons, Nuclear Power and Climate Change, Part 2". Wenige Tage später traf der Schattenblick mit LeBlanc an ihrem Wohnort Harlem zu folgendem Interview zusammen.

Judith LeBlanc spricht bei einem Workshop der NYC-Climate-Convergence-Konferenz - Foto: © 2014 by Schattenblick

Judith LeBlanc
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Frau LeBlanc, könnten Sie etwas über ihren politischen Werdegang erzählen?

Judith LeBlanc: Als ich noch Schülerin war, nahm mein Vater als Angestellter der Telefongesellschaft und Mitglied der Elektrikergewerkschaft an einem langen und erbitterten Tarifstreit teil. Das hat mir die Augen für das Machtverhältnis zwischen Reichen und Armen in diesem Land geöffnet. Als Jugendliche in den bewegten sechziger Jahren habe ich mich über die methodistische Kirche bei verschiedenen sozialkritischen Gruppen engagiert. Damals ging es um die Abschaffung der Diskriminierung der Schwarzen, um geschlechtliche Gleichberechtigung, um mehr soziale Gerechtigkeit sowie gegen den Krieg in Vietnam. Wir hatten in unserer Kirchengemeinde einen überaus progressiv denkenden Pfarrer. Von ihm habe ich eine ganze Menge über die Bedeutung sozialer Bewegungen und des persönlichen Engagements gelernt, nämlich daß ohne diese beiden Aspekte fundamentale gesellschaftliche Veränderung nicht möglich ist.

SB: In den letzten Jahren haben Sie sich sehr stark bei den beiden Organisationen United For Peace and Justice (UFPJ) und Peace Action (PA) engagiert. Könnten Sie den Unterschied zwischen den beiden erklären?

JLB: United For Peace and Justice ist das Ergebnis eines beeindruckenden Zusammenkommens lokaler und nationaler Friedensgruppen zuerst gegen den drohenden Einmarsch der USA unter Präsident George W. Bush in den Irak und später gegen den Krieg dort. Als 2002 die Absicht der Bush-Regierung, die 9/11-Anschläge als Vorwand zum gewaltsamen Sturz Saddam Husseins zu nutzen, immer deutlicher wurde, wuchs unter den Friedensaktivisten in den USA die Erkenntnis, daß eine Massenmobilisierung notwendig wäre, um ein klares Signal dafür zu setzen, daß Krieg keine Antwort sein könne und die Lage im Nahen Osten nur noch verschlimmern würde.

Zum Zeitpunkt der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 habe ich bereits in New York gelebt und als Journalistin für die Zeitung People's World gearbeitet. Ich habe damals über die Nachwirkungen von 9/11 geschrieben, zumal ich sie selbst hautnah miterlebt habe. In dem Zusammenhang habe ich mit vielen der tausenden Freiwilligen, die gleich nach den Anschlägen in den Süden von Manhattan strömten, um bei den Aufräumarbeiten mitzuhelfen, gesprochen und dabei zahlreiche Interviews geführt. Von allen habe ich immer nur das Eine zu hören bekommen: Krieg ist keine Antwort, und ein Unrecht würde niemals ein anderes Unrecht aufheben. Darüber hinaus kam es damals zur Massenverhaftung Tausender unbescholtener Araber, Südasiaten und sonstiger Muslime wegen des "Terrorverdachts". Darüber habe ich kritische Artikel geschrieben. All das hat mich 2002 dazu veranlaßt, mich der Friedensbewegung anzuschließen.

SB: Ihre Schilderung ist schon deshalb interessant, weil in den großen Medien der gegenteilige Eindruck vermittelt wurde. Die Bilder vom Auftritt Bush jun., wie er wenige Tage nach den Anschlägen oben auf dem Trümmerhaufen am Ground Zero mit einem Megaphon in der Hand stand, Vergeltung für die Opfer des 11. September versprach und dafür von den versammelten Bauarbeitern frenetisch bejubelt wurde, gingen um die ganze Welt. In dem Moment schien zwischen Kriegsfalken und amerikanischem Volk völlige Einigkeit über das weitere Vorgehen zu bestehen.

JLB: Die Botschaft jenes berühmt-berüchtigten Auftritts war ganz klar und hat leider ihre gewünschte propagandistische Wirkung erzielt. Aber man darf eine solche Einzelepisode nicht überbewerten. Natürlich gab es viele Bauarbeiter, Polizisten und Feuerwehrleute, die vom Ausmaß des Grauens überwältigt und verbittert waren. Viele von ihnen haben bei den Anschlägen Freunde und Kollegen verloren. In den Tagen vor dem Einmarsch in Afghanistan im Oktober 2001 sowie 11 Monate später vor dem ersten Jahrestag von 9/11, als die Vorbereitungen des Pentagons und des Weißen Hauses für die Irakinvasion auf Hochtouren liefen, hatte ich Gelegenheit, mit zahlreichen Bauarbeitern sowie einfachen Gewerkschaftsmitgliedern aus New York zu sprechen. Übereinstimmend hielten sie einen weiteren Krieg als Reaktion auf die Flugzeuganschläge für völlig sinnlos und kontraproduktiv. Diese Erfahrungen haben meinen Glauben an die Menschlichkeit gestärkt.

Als United For Peace and Justice (UFPJ) 2002 ins Leben gerufen wurde, war ich als offizielle Vertreterin der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten (CPUSA) an der Gründung beteiligt. Damit war eine wirklich interessante Koalition entstanden, denn bei der UFPJ machten Gruppierungen und Organisationen aus dem ganzen politischen Spektrum mit - Kriegsveteranenvereinigungen, religiöse Gruppen, Umweltverbände, Gewerkschaften, politische Parteien et cetera. Die CPUSA war aber die einzige Partei Amerikas, die einen Sitz im Leitungskomitee erhielt. Daraufhin hat die CPUSA mich gebeten, sie dort zu vertreten. Die CPUSA hatte die exponierte Stelle im Komitee erhalten, weil sie bereits im Vorfeld starke Arbeit beim Zustandekommen von Antikriegskoalitionen in mehr als 25 Städten geleistet hatte. Die Wahl der CPUSA in den Vorstand einer solch großen, landesweiten Bewegung, an deren Veranstaltungen, Treffen, Märschen et cetera im Verlauf der Jahre Abermillionen von Menschen teilgenommen hatten, war in Anbetracht der traditionellen Drangsalierung unserer Partei in den USA - Stichwort McCarthyismus - eine einzigartige Sache und bot Anlaß für Hoffnung in der Zukunft.

Die Wahl der CPUSA in den Vorstand der UFPJ war auch ein Zeichen dafür, daß die Menschen über die verschiedenen Schranken - Hautfarbe, Politik, Religion, Klasse - bereit waren zusammenzuarbeiten, um den schrecklichen Krieg im Irak zu stoppen. Am großen Meinungsumschwung in den USA - von der mehrheitlichen Zustimmung für den Kriegskurs von Präsident Bush 2002 bis zum erdrutschartigen Wahlsieg des damals erklärten Kriegsgegners Barack Obama 2008 - hatte die amerikanische Friedensbewegung im allgemeinen, UFPJ im besonderen meiner Meinung nach großen Anteil. Als Obama dann kurz nach dem Amtsantritt im Januar 2009 den vollständigen Abzug der US-Kampftruppen aus dem Irak ankündigte, empfanden das alle in der amerikanischen Friedensbewegung als einen sehr großen Erfolg.

Mit dem Einsetzen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 widmeten sich immer mehr Aktivisten der Friedensbewegung aus naheliegenden Gründen sozialen Themen wie dem Kampf gegen die Zwangsräumung der Wohnungen von in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Hypothekenbesitzern. Hinzu kam, daß unsere Spenden zurückgingen. Es wurde absehbar, daß UFPJ irgendwann finanziell nicht mehr in der Lage sein würde, die Posten im Vorstand als bezahlte Vollzeitstellen weiterzutragen. Als mir dann Peace Action 2008 eine Position anbot, nahm ich dankend an.

Peace Action ist eine der ältesten Friedensorganisationen der USA. Sie wurde 1957 aus Protest gegen das atomare Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion gegründet. Zu den frühesten Mitgliedern zählten Marilyn Monroe und Albert Schweitzer. Inzwischen hat sie die Friedensfrage mit der nach sozialer Gerechtigkeit stark gekoppelt. Von daher besitzt sie landesweit zahlreiche Basisgruppen, die auf lokaler Ebene Aktionen durchführen - gegen Fracking, Obdachlosigkeit, Polizeibrutalität et cetera -, während sie gleichzeitig Lobbyarbeit in Washington betreibt, um die Gesetzgebung im progressiven Sinne zu beeinflussen. Wenn man US-Außenpolitik zum Besseren verändern will, dann ist PA eine erstklassige Adresse. Meine Zeit dort in den letzten fast sieben Jahren habe ich als höchst produktiv empfunden.

Judith LeBlanc im Porträt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wie lautet Ihre Erwiderung auf den häufig erhobenen Vorwurf, die US-Friedensbewegung rege sich nur in Zeiten republikanischer Administrationen und glänze durch Abwesenheit, sobald ein Demokrat im Weißen Haus sitzt?

JLB: Meines Erachtens ist die riesige Kampagne der US-Kriegsgegner im vergangenen Jahr, die massiven Druck auf den Kongreß ausgeübt und Präsident Obama schließlich dazu veranlaßt haben, die angedrohten Raketenangriffe auf Stellungen der syrischen Streitkräfte doch nicht zu befehlen, der Beweis dafür, daß der Vorwurf deplaziert ist. Ich denke, daß diejenigen, die den Vorwurf erheben, wenig darüber wissen, was alles dazugehört, die Friedensbewegung in den Phasen vor und nach den großen Massenmobilisierungen gegen diesen oder jenen Krieg am Laufen zu halten. In solchen Zwischenphasen halten Organisationen wie Peace Action die Infrastruktur der Friedensbewegung aufrecht, veranstalten überall im Land Vorträge und Diskussionsabende, klären die Menschen auf und versuchen, in Washington positiv auf die Außenpolitik der USA einzuwirken. So unterstützt Peace Action auch bei den Zwischenwahlen zum Senat und Repräsentantenhaus Kandidaten, die in der internationalen Problemlösung eher auf Diplomatie als auf Militärintervention seitens der USA setzen. Darüber hinaus betreiben wir Projekte an der Basis, die den Menschen deutlich machen sollen, daß es globale Lösungen für die Frage von Krieg und Frieden nur geben kann, wenn man vorher auf der niedrigen, lokalen Ebene das Problem der gesellschaftlichen Gerechtigkeit angeht.

Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Verringerung des US-Militärengagements in Afghanistan sowie der knappen Haushaltslage in Washington haben wir von Peace Action vor einigen Jahren begonnen, mit Vertretern anderer Friedens- und Bürgerrechtsgruppen darüber zu diskutieren, wie man die Reduzierung der Pentagon-Ausgaben, was sicherlich zu Problemen in vielen Landesgemeinden führen würde, abfedern könnte. In den letzten Jahren machte der Wehretat rund die Hälfte der staatlichen Ermessungsausgaben aus, die im Unterschied zu den verpflichtenden Ausgaben jedes Jahr vom Kongreß bewilligt werden müssen. Schon seit langem forderten wir von der Friedensbewegung eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben, und als sie sich dann tatsächlich abzeichnete, fühlten wir uns in der Pflicht, genau zu sagen, wofür die eingesparten Milliarden verwendet werden könnten. Nach den 11. September hatte sich der Wehretat praktisch verdoppelt. Langfristig war das haushaltstechnisch nicht tragbar. Also war abzusehen, daß es irgendwann zu Kürzungen kommen würde, die schwere Auswirkungen auf die betroffenen Gemeinden und Städte haben würden.

Als der Rotstift endlich angesetzt werden sollte, hat Peace Action die Kampagne "Move the Money" gestartet. In Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, Umwelt- und Kirchengruppen haben wir Vorschläge ausgearbeitet, wie man die Reduzierung der Waffenherstellung für die Produktion ziviler Güter etwa im Bereich der erneuerbaren Energien nutzen könnte. Auf diesem Feld haben wir sogar Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen konnten. Nach dem Ende des Kalten Krieges, während der Präsidentschaft von George Bush sen., gingen die Militärausgaben der USA um 25 Prozent zurück. Damals hat das Pentagon extra ein Amt geschaffen, das Umstellungsprogramme fördern sollte, um die betroffenen Regionen nicht im Stich zu lassen. Mit Hilfe des Ökonomen und großen Militarismus-Kritikers Seymour Mellman sowie der Metallgewerkschaft hat man damals mehrere erfolgreiche Umstellungsprojekte durchgeführt, um das Vorhaben der Defense Industry Transition voranzutreiben.

SB: Ist es nicht dennoch ein Problem für die Friedensbewegung, wenn führende Politiker der Demokraten, wie dieser Tage Präsident Obama und Außenminister John Kerry, in bezug auf die Bekämpfung des Islamischen Staates (IS) Militäroperationen der US-Streitkräfte im Ausland einen humanitären Anstrich statt wie bei den Republikanern einen nationalistischen verleihen? Wie können die Kriegsgegner verhindern, daß nicht ein Teil ihrer Anhängerschaft auf moralisch wohlklingende Begründungen hereinfällt - und sei es nur in der ersten Auftaktphase? Wie kann man die Kriegstreiberei der "humanitären Interventionisten" gleich von vornherein enttarnen?

JLB: Zwei Sachen sind notwendig: Erstens eine stichhaltige Analyse der politischen und wirtschaftlichen Mißstände, die zu Krieg und Militarismus führen, und Ideen, wie man sie beheben könnte, und zweitens ein institutionelles Durchhaltevermögen, um die notwendigen gesellschaftlichen Aufklärungsbemühungen aufrechtzuerhalten. Wir von der Friedensbewegung müssen einräumen, daß bei uns die Luft nach der Wahl Obamas für eine Weile raus war. Doch nach einem solchen historischen Ereignis wie der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten Amerikas, der mit dem Versprechen angetreten war, die ganzen Fehlentwicklungen der Ära George W. Bush wie Folter, illegale Inhaftierung von "Terrorverdächtigen" - siehe Guantánamo Bay -, den Krieg im Irak und die illegale Überwachung des Internet- und Telefonverkehrs durch die NSA zu beenden, ist das irgendwie verständlich. Wir glaubten, einen entscheidenden Sieg errungen zu haben, und stellten uns naiverweise auf den angekündigten "Wandel" ein.

Um so größer war die Enttäuschung, als Obama kaum eines seiner Versprechen eingehalten hat. Er hätte vermutlich mindestens 10.000 US-Kampftruppen im Irak behalten, hätte sich Premierminister Nuri Al Maliki nicht geweigert, seine Unterschrift unter das Stationierungsabkommen zu setzen, das Pentagon und Außenministerium zur Bedingung für eine dauerhafte amerikanische Truppenpräsenz machten. Während er im ersten Amtsjahr zum einen eine Truppenreduzierung im Irak ankündigte, ordnete er zum anderen eine massive Truppenaufstockung in Afghanistan an. Wie wir jedoch inzwischen wissen, hat die damalige Militärführung, allen voran Verteidigungsminister Robert Gates, Generalstabschef Admiral Michael Mullen und CENTCOM-Chef General David Petraeus, Obamas Unerfahrenheit im Amt ausgenutzt und ihm zur Entsendung von zusätzlichen 40.000 Soldaten nach Afghanistan keine andere Wahl gelassen.

Am Anfang hatte die Friedensbewegung Schwierigkeiten, das Argument Obamas, wonach es sich im Irak um den "falschen" Krieg, dafür im Afghanistan um den "richtigen" handele, zu entkräften, denn die Begründungen waren sehr unterschiedlich - die eine war vollkommen erlogen, die andere betraf die vermeintliche Ausrottung von Al Kaida. Mittlerweile sind die wirtschaftlichen und humanen Kosten beider Konflikte so hoch und für jeden Amerikaner unübersehbar geworden, daß in den USA inzwischen eine große Kriegsmüdigkeit herrscht. Die Argumente der Friedensbewegung, die vor Jahren von den Mainstream-Medien als Standpunkt einer kleinen Minderheit ewig Unzufriedener abgetan wurden, sind seit Jahren Mehrheitsmeinung in allen Landesteilen und Gesellschaftsschichten.

Mit dem Aufkommen von IS, seiner Offensive im Irak und seiner ungeheuren Brutalität gegenüber gefangenen Kämpfern und Frauen sowie westlichen Geiseln hat sich die Situation in den letzten Wochen wieder verändert. Wegen der entsetzlichen Videoaufnahmen aus dem Irak und Syrien und der unbestreitbaren Bedrohung für die Kurden, des Leides der verfolgten Minderheiten der Christen, Yesiden et cetera stimmen laut Umfragen mehr als 70 Prozent der US-Bürger dem Ansatz von Präsident Obama, eine große Koalition gegen IS zu schmieden, um die Gruppe militärisch zu dezimieren, zu. An dieser Stelle reagieren die Menschen emotional. Gleichzeitig geben wiederum mehr als 70 Prozent der Befragten an, sie glaubten nicht, daß die Probleme im Nahen Osten, einschließlich des Phänomens IS, durch den Einsatz von US-Waffengewalt zu lösen seien - da sprechen dann der Verstand und die leidvollen Erfahrungen der USA in den letzten mehr als zehn Jahren im Zweistromland und am Hindukusch.

Zu Beginn einer jeden internationalen Krise stellen sich die allermeisten US-Bürger im ersten Moment, noch ehe sie richtig wissen, was los ist, hinter den Präsidenten und die eigenen Soldaten. Irgendwie kann man das nachvollziehen. Über kurz oder lang begreifen sie die Kompliziertheit der Situation und die Kurzsichtigkeit des Ansatzes Washingtons und werden immer kritischer. In dieser zweiten Phase kann die Friedensbewegung ihre Argumente gut anbringen. Dafür jedoch müssen Organisationen wie Peace Action ihre Netzwerke und den Druck auf die Politiker im Kongreß aufrechterhalten, um im richtigen Moment per Gesetz für positive Veränderungen zu sorgen. Deswegen nehmen wir derzeit an den Wahlkämpfen im Vorfeld der Zwischenwahlen zum Kongreß im November aktiv teil. Auch in der Zeit zwischen dem Urnengang und dem Auftakt der neuen Legislaturperiode im Januar kommenden Jahres wollen wir in unserer Arbeit mit der Legislative in Washington nicht nachlassen. Nur über Beständigkeit und Beharrlichkeit kann man gesellschaftliche Veränderungen bewirken.

Als wir im letzten Herbst westliche Raketenangriffe auf Syrien verhinderten, war das nur möglich, weil wir bereits über eine bestehende Koalition aus 25 Organisationen verfügten, die all ihre Energien in die Vereitelung des Drangs der Kriegstreiber nach militärischer Aktion werfen konnten. In den entscheidenden Tagen und Wochen im August und September 2011 haben die Friedensaktivisten Hunderttausende Mitbürger dazu bewegt, sich per E-Mail oder Telefon bei ihren Senatoren oder Kongreßabgeordneten in Washington zu melden und ihnen zu sagen, daß eine Militärintervention der USA in den syrischen Bürgerkrieg ein schwerer Fehler wäre. Das hat auch funktioniert. Obama hat die in der Vorbereitung weit vorangetriebene Aktion nicht abgeblasen, weil zuvor eine Mehrheit im Londoner Unterhaus gegen eine Beteiligung der britischen Streitkräfte votiert hatte, sondern weil er sich der Zustimmung des Kongresses in Washington nicht mehr sicher war.

Judith LeBlanc am Kaffeetisch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Innerhalb des Pentagons scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß es keine militärische Lösung für den Klimawandel und seine zahlreichen Folgen gibt. Auf der Konferenz NYC Climate Convergence am letzten Wochenende haben Sie von Projekten in Massachusetts und Wisconsin erzählt, bei denen Politiker, Geschäftsleute und Umweltaktivisten mit Zuschüssen aus dem Verteidigungsministerium erfolgreiche Projekte bei der Umstellung von Rüstungsbetrieben in ökologiefreundliche Unternehmen angestoßen haben, die als Paradebeispiel für nachhaltiges Wirtschaften gelten können. Könnten Sie etwas Genaueres darüber berichten?

JLB: Nun, das Pentagon hat vor kurzem den Klimawandel als die größte potentielle Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA bezeichnet. Wenn es uns nicht gelingt, die bestehenden Kriege auf der Welt zu beenden und künftige zu verhindern, werden uns tatsächlich die Ressourcen fehlen, um die notwendigen Maßnahmen zur Aufhaltung, Verlangsamung oder Linderung des Klimawandels ergreifen zu können. Einige Studien der letzten Zeit zum Beispiel vom Institute for Policy Studies (IPS) in Washington haben das völlige Mißverhältnis zwischen den staatlichen Ausgaben der USA für das Militär und denen für die sogenannte Klimasicherheit kritisiert. Es liegt, wenn ich mich richtig erinnere, bei 96 zu 4 Prozent. Eigentlich müßte es genau andersherum sein. Im Grunde ist der Klimawandel ein globales Problem, das die Menschheit nur über eine länderübergreifende Zusammenarbeit lösen wird, wenn überhaupt. Darum freut es mich, daß der People's Climate March, der nicht nur in New York, sondern auch in vielen anderen Städten der Welt stattfand, ein so großer Erfolg gewesen ist.

Was Ihre Frage betrifft, so gibt es im US-Verteidigungsministerium eine Behörde, die Office of Economic Adjustment (OEA) heißt und deren Aufgabe darin besteht, nach der Schließung von Basen und Rüstungsbetrieben den betroffenen Gemeinden zu helfen, den Wegfall an Arbeitsplätzen und Kaufkraft zu kompensieren. Es werden staatliche Gelder für die Umweltsanierung der Grundstücke und Gebäude, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, die Ansiedlung neuer Betriebe oder die Umstellung auf die zivile Produktion u. a. bereitgestellt. Für das US-Verteidigungsministerium macht das Programm Sinn, denn die Betriebe und ihre Belegschaften bleiben erhalten und können im Fall eines Krieges schnell wieder in die Waffenproduktion einsteigen. Für die Kriegsgegner und die Verfechter sozialer Gerechtigkeit gibt es so die Gelegenheit, in Kontakt mit denjenigen zu treten, die vom Militarismus am stärksten abhängig sind, und ihnen andere Möglichkeiten im Bereich des ökologisch-freundlichen, nachhaltigen Wirtschaftens aufzuzeigen. Wir bringen Konzernleitungen, Betreiber kleinerer und mittlerer Unternehmen, Arbeiter und Angestellte, Gewerkschaftler und Friedensaktivisten sowie Lokalpolitiker mit linken Ökologen und Ökonomen zusammen, die ihnen konkrete Vorschläge zum Umstellungsprozeß machen können.

Für Gemeinden mit hoher Arbeitslosigkeit und der drohenden Steigerung derselben können solche Veranstaltungen, die vom OEA unterstützt werden, sehr nützlich sein. Führen sie stets zu konkreten Ergebnissen? Nein. Aber sie tragen dazu bei, das allgemeine Bewußtsein für die Notwendigkeit, Wünschbarkeit und Realisierbarkeit einer nachhaltigen Wirtschaft zu erhöhen. In Oshkosh, Wisconsin, nimmt Peace Action an einer Initiative teil, um den Wegfall von rund 1500 Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie durch verschiedene Maßnahmen abzufangen. Die Initiative, an deren Ende neue hochwertige Arbeitsplätze in zukunftsrelevanten Industriesektoren stehen sollen, wird vom OEA zunächst mit mehr als 800.000 Dollar subventioniert. Für Projekte, die sich daraus ergeben wie zum Beispiel Firmengründungen, können weitere Staatsgelder beantragt werden.

SB: Bei seiner gestrigen Rede auf der Clinton Global Initiative hier in New York hat Präsident Obama Rußland und Kuba zu Unrechtsstaaten gestempelt und der "Zivilgesellschaft" in beiden Ländern die Unterstützung und Solidarität der USA versprochen. An Sie als jemand, der sich seit Jahren in zivilgesellschaftlichen Gruppen engagiert, die Frage: Wie können Regierungskritiker und Reformer, sei es in Osteuropa, Lateinamerika oder hier in den USA, ihr Anliegen voranbringen, ohne von gegnerischen Kräften des Staats oder der Privatindustrie unterwandert und für deren Zwecke manipuliert zu werden?

JLB: Die Geschichte der versuchten Einflußnahme oppositioneller Gruppen im Ausland durch die USA ist alt und sattsam bekannt. Dagegen gibt es kein Wunderrezept. Was wir in der amerikanischen Friedensbewegung dagegen machen können und auch tun, ist, unsere Kontakte zu befreundeten Gruppen im Ausland, sei es zum Beispiel in Kuba, Rußland, Afghanistan, der Ukraine oder im Irak, zu intensivieren, um ihnen einerseits zu helfen und andererseits Fälle der versuchten oder tatsächlichen Einflußnahme durch Organisationen wie George Soros' Open Society Institute oder der US-finanzierten National Endowment for Democracy (NED) aufzudecken und dies der Öffentlichkeit in den USA bekanntzumachen. Peace Action arbeitet nur mit Gruppen zusammen, die unser Ziel einer Friedensordnung im Rahmen der Vereinten Nationen, in der soziale Gerechtigkeit das oberste Gebot ist, teilen. Um Dissidenten, die sich in ihren Ländern hauptsächlich für "Regimewechsel" und Annäherung an die NATO stark machen, schlagen wir einen großen Bogen.

Über unsere Kontakte ins Ausland hoffen wir jedenfalls, die Manipulationsversuche der US-Regierung durchkreuzen zu können. Ein Beispiel dazu sind die Vorbereitungen von Peace Action und befreundeter Gruppen in In- und Ausland für die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die im April 2015 im UN-Hauptquartier in New York stattfindet. Derzeit tauschen wir uns über Strategien aus, wie wir auf nationaler sowie internationaler Ebene unsere Regierungen unter Druck setzen können, konkrete Schritte zur Realisierung des eigentlichen Ziels des Vertrages, nämlich einer nuklearwaffenfreien Welt, zu unternehmen. In den Ländern, die über keine Atombomben verfügen, macht sich die Erkenntnis breit, daß die Existenz solcher Waffen eine inakzeptable Bedrohung der gesamten Menschheit darstellt.

Druck auf die USA von innen und von außen auszuüben ist von großer Wichtigkeit, denn allen hehren Vorsätzen zum Trotz hat die Obama-Regierung vor kurzem ein großangelegtes Programm zur Modernisierung des amerikanischen Atomwaffenarsenals gestartet. Die Milliarden, die dafür in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eingeplant sind, wären viel besser in das öffentliche Gesundheitssystem, die Schaffung neuer Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien oder die Überholung unserer maroden Bahn- und Straßeninfrastruktur investiert. Bei der Kampagne gegen Atomwaffen soll die Friedensbewegung daher in der US-Öffentlichkeit das Thema der Verschwendung von Finanzmitteln, die in anderen Bereichen dringend benötigt werden, zum Zwecke des Festhaltens an einem Waffensystem, das wegen seiner schrecklichen Potenz sowieso niemals zum Einsatz kommen sollte, besonders hervorheben.

Wir müssen die Anti-Atomwaffenbewegung, die in den achtziger Jahren Millionen von Menschen auf die Straße brachte, wiederbeleben. Die Hoffnungen auf eine atomwaffenfreie Welt, die Obama zu Beginn seiner Amtszeit als Präsident weckte, sind nicht in Erfüllung gegangen. Dennoch sollten wir versuchen, der Obama-Regierung in ihren letzten beiden Jahren kleine Zugeständnisse abzuringen, die sich als ganz bedeutend erweisen könnten. Allein wenn wir es schafften, daß die US-amerikanischen Nuklearwaffen - zusammen mit den russischen natürlich - aus dem Zustand des "Launch on warning" herausgenommen werden würden, damit sie nicht mehr rund um die Uhr startklar und abfeuerbereit wären, ließe sich das Risiko eines Atomkrieges erheblich verringern.

Leider steht diesem Vorhaben die Situation in der Ukraine und die Verschlechterung der Beziehungen der USA zu Rußland im Weg. Wladimir Putin gilt aus Sicht der außenpolitischen Elite in Washington inzwischen als Persona non grata. Das ist ziemlich verrückt. Ohne die Zusammenarbeit mit Rußland werden wir niemals eine Beilegung des Krieges in Syrien, eine Verbesserung der Lage im gesamten Nahen Osten und/oder eine Abschaffung der Bedrohung der ganzen Menschheit durch Kernwaffen hinbekommen. Auch in der Frage des Klimawandels ist der Westen auf die Kooperation mit Rußland und China dringend angewiesen.

Ich glaube, es gibt eine Reihe von Gebieten, in denen die Obama-Regierung Bewegungsbereitschaft signalisiert hat, sich aus Rücksicht auf die Zwischenwahlen zum Kongreß im November jedoch bedeckt hält. Es geht hier zum Beispiel um eine eventuelle Lockerung der Einwanderungsgesetze, das Aus für die XL-Pipeline und ein paar andere Dinge mehr. Nur haben wir das Problem, daß man all diese Initiativen vergessen kann, sollten im November die Republikaner zusätzlich zum Repräsentantenhaus die mehrheitliche Kontrolle über den Senat übernehmen. Dann hätten wir einen politischen Stillstand. Wegen der republikanischen Blockade-Politik würde Obama dann in seinen beiden verbleibenden Jahren als Präsident keine nennenswerte Initiative mehr durch den Kongreß bekommen.

Judith LeBlanc vor unverputzter Steinwand im Café - Foto: © 2014 by Schattenblick

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SB: Was hat es mit dem RISE out of Poverty Act auf sich?

JLB: Mit diesem Gesetzesentwurf soll die Armutsbekämpfung zum obersten Ziel erklärt und der Drangsalierung von Arbeitslosen durch die soziale Gesetzgebung ein Ende gesetzt werden. Die Initiative geht aus dem Kampf um eine Anhebung des Mindestlohns hervor, den seit einigen Jahren vor allem die Mitarbeiter im Dienstleistungssektor im allgemeinen und der Fast-Food-Ketten im besonderen gegen die Großkonzerne führen. Deren Forderung nach Würde und einem Lohn, von dem man vernünftig leben kann, hat in der Öffentlichkeit großen Anklang gefunden. In einzelnen Unternehmen haben die Arbeitgeber bereits nachgegeben.

SB: Diese Tarifabschlüsse finden auf der Ebene der einzelnen Kommunen, Städte und Gliedstaaten, nicht jedoch auf der Bundesebene statt, oder?

JLB: Das stimmt, wenngleich Präsident Obama im vergangenen Juni per Exekutivbefehl, das heißt am Kongreß vorbei, den Mindestlohn für die Mitarbeiter aller Auftragsfirmen, die Aufgaben für die Bundesbehörden erledigen, auf zehn Dollar und zehn Cent die Stunde hochgesetzt hat. Damit hat er mit einem Schlag die Löhne Hunderttausender Menschen und die finanzielle Lage ihrer Familien verbessert. Die Friedensbewegung unterstützt den Kampf gegen Niedriglöhne und für soziale Gerechtigkeit nicht nur wegen der Wichtigkeit dieser Ziele, sondern weil wir dem Militarismus und Rüstungswahn nur mit Hilfe der Arbeiterschaft ein Ende setzen werden können.

SB: Seit der Erschießung des unbewaffneten schwarzen Jugendlichen Michael Brown durch den weißen Polizisten Darren Wilson am 9. August in Ferguson, Missouri, findet in den USA eine lebhafte Debatte über die Militarisierung der Polizei statt. Kehrt die US-Polizei vielleicht zu einem weniger martialischen Auftritt zurück?

JLB: Die Ereignisse von Ferguson, nicht nur die Erschießung von Michael Brown, sondern auch die völlig überzogene Reaktion der Behörden auf die friedlichen Proteste der schwarzen Gemeinde dort, haben viele Menschen aufgeschreckt. Innerhalb weniger Tage hatten 130.000 Menschen eine Petition mit der Forderung nach Einstellung des Pentagon-Programms, sein überflüssiges Kriegsgerät - Panzerfahrzeuge, Nachtsichtbrillen, Sturmgewehre, Flugzeuge u. v. m. - an die Polizeibehörden in den USA zu verteilen, unterschrieben. Die Fernsehbilder aus Ferguson, wie sich Hundertschaften praktisch zum Krieg ausgerüsteter Polizisten tage- und nächtelang den Demonstranten in den Weg stellten und sie an der Ausübung ihres verfassungsmäßigen Rechts auf Versammlung und freie Meinungsäußerung hinderten, hat bei vielen Menschen das Gefühl ausgelöst, die Aufrüstung der Ordnungshüter sei völlig aus dem Ruder gelaufen. Die Vorgänge in Ferguson haben auch den Kongreß in Washington beschäftigt. Derzeit wird im Senatsausschuß für Heimatschutz die Frage thematisiert, ob das entsprechende 1033-Programm des Verteidigungsministeriums zur Weitergabe ausgemusterter Waffen und Munition an die Polizei nicht eine Fehlentwicklung gewesen sei und deshalb zurückgefahren werden sollte.

Ich glaube, daß das jüngste Geschehen in Ferguson das Problem des Militarismus vielen Amerikanern, die es bis dahin nicht wahrgenommen haben oder nicht wahrnehmen wollten, vor Augen geführt hat. Solange nur die ärmeren Bevölkerungschichten und vor allem die schwarze Jugend davon betroffen waren, hat es die weiße Mittelschicht wenig interessiert. Nun aber wachen die Leute auf und nehmen erstmals richtig wahr, in welchem ungeheuren Ausmaß der Staat in den letzten zwanzig, dreißig Jahren die Polizei aufgerüstet hat. Das hat man zum Teil während der Occupy-Proteste vor drei Jahren mitbekommen, aber in Ferguson war und ist es besonders kraß. Für uns in der Friedensbewegung besteht nun verstärkt die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen den Kriegen im Ausland und der überbordenden Militarisierung der Polizei im Inneren hervorzuheben und eine neue Allianz zwischen den meist weißen Antikriegsaktivisten und den vielen schwarzen Kämpfern für soziale Gerechtigkeit und gegen Polizeirepression zu schmieden. Nur wenn wir die negativen Folgen, welche die USA mit ihrer aggressiven Außenpolitik nach Hause importieren, deutlich machen, haben wir eine Chance, dem Militarismus amerikanischer Prägung ernsthaft etwas entgegenzusetzen.

SB: Was sagen Sie als führendes Mitglied der Kommunistischen Partei der USA und damit als potentielles oder vielleicht sogar tatsächliches Objekt staatlicher Ausspähung zu den Enthüllungen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden? Haben sie den Vormarsch des nationalen Sicherheitsstaats, wie ihn die Bürger der USA spätestens seit dem 11. September 2001 erleben, vielleicht gebremst?

JLB: Die Informationen, die Snowden der breiten Öffentlichkeit hat zukommen lassen, sind von ungeheurer Tragweite. Sie lassen erkennen, gegen welche Übermacht aus staatlichen Behörden und befreundeten Großunternehmen diejenigen stehen, die für eine gerechte Gesellschaft kämpfen. Gleichzeitig bin ich zuversichtlich, daß die Snowden-Enthüllungen uns helfen werden, die scheinbar grenzenlosen Befugnisse der Geheimdienste zu beschneiden und den Staat wieder demokratischer zu machen. Mich persönlich haben die Angaben über das gigantische Ausmaß der NSA-Überwachung des Telefon- und Internet-Verkehrs weder überrascht noch schockiert. Spätestens seit der Gründung des FBI nach dem Ersten Weltkrieg unter der Leitung von J. Edgar Hoover stehen politische Aktivisten in den USA im Blickfeld der Staatsgewalt und werden von ihr observiert, drangsaliert und schikaniert. Gleichwohl gehen die Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten, welche die neuen Digitaltechnologien bieten, weit über das hinaus, was viele Leute für möglich gehalten haben.

Die Praktiken und Programme, deren Existenz Snowden bekanntmachte, kannte man bisher lediglich aus Science-Fiction-Büchern und -Filmen. Nun stellt man fest, daß sie keine Zukunftsvisionen, sondern Wirklichkeit im Hier und Jetzt sind. Vor diesem Hintergrund steht den Bürgern nicht nur in den USA, sondern in allen Staaten eine wahre Herkulesarbeit bevor, den richtigen Ausgleich zwischen Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und dem polizeilichen Überwachungsstaat zu finden. Wir dürfen uns nicht davor fürchten, denn diese Aufgabe ist wichtig. Menschen müssen in der Lage sein, sich gesellschaftlich zu engagieren und politisch zu betätigen, ohne Angst davor zu haben, vom Inlandsgeheimdienst ins Visier genommen zu werden. Zum Kampf gegen die neue Sicherheitsarchitektur gehört, sich nicht davon einschüchtern zu lassen. Das Gegenteil ist der Fall. Jede E-Mail und jedes Telefonat, das man als politischer Aktivist verschickt bzw. führt, muß man als Bekenntnis zur Demokratie und deren Grundprinzipien der Glaubens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit verstehen und sich dafür mit aller Macht einstehen.

SB: Einer vor einiger Zeit veröffentlichten Umfrage des renommierten demoskopischen Unternehmens Pew zufolge steht inzwischen eine Mehrheit der US-Bürger zwischen 18 und 29 Jahren dem Sozialismus positiv gegenüber. Profitiert die Kommunistische Partei der USA von der wachsenden Unzufriedenheit mit dem ausbeuterischen, menschenfeindlichen Wirtschaftssystem hierzulande? Sorgen wachsende Armut, Dumping-Löhne, fehlende Karriereperspektiven inzwischen dafür, daß die Ideen von Karl Marx und seinen Nachfolgern auf größere Akzeptanz in der US-Gesellschaft stoßen?

Judith LeBlanc neben einer Bushaltestelle in Harlem stehend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

JLB: Absolut. Auf dem People's Climate March zum Beispiel dürfte das Durchschnittsalter der Teilnehmer am Block der CPUSA bei 25 Jahren gelegen haben. Eines der bedeutendsten geschichtlichen Phänomene der letzten Jahre in den USA war die Occupy-Wall-Street-Bewegung, die durch die Besetzung des Zucotti-Parks in Süd-Manhattan Nachahmer im ganzen Land und auf der ganzen Welt fand, die allesamt eine Abkehr vom Turbo-Kapitalismus forderten. Die berühmte Formulierung der Occupy-Bewegung, wonach die Wirtschaft auch den 99% der Menschen und nicht ausschließlich dem obersten 1% zu dienen habe, ist wegen ihrer Einfachheit und Schlüssigkeit zum Inbegriff der heutigen Gesellschaftsproblematik geworden. Anstelle des früheren Begriffs des Klassenkampfes wurden mit der Gegenüberstellung 99% zu 1% die Ursachen für die Finanzkrise, steigende Arbeitslosigkeit, Massenverelendung, Vernichtung von gutbezahlten Jobs, die steigende Kluft zwischen den Superreichen und dem Rest auf einen Nenner gebracht.

Die Kräfte, welche die Occupy-Bewegung geweckt hat, sind immer noch spürbar. Das sieht man zum Beispiel an der großen Empörung über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, die Grenzen der Wahlkampffinanzierung abzuschaffen und somit die Ämtervergabe zu einer Kandidaten-Versteigerung unter den Konzernen und Superreichen zu degradieren. Das hat bei sehr vielen Menschen Fragen aufgeworfen: Wessen Land ist das hier überhaupt noch? Für wen werden die Gesetze gemacht? Leben wir noch in einer Demokratie oder inzwischen in einer Plutokratie, und wenn in letzterer, wie können wir das wieder ändern? Deswegen denken immer mehr, besonders junge Amerikaner in Richtung Systemveränderung oder -wechsel. Sie erleben am eigenen Leib mit und sehen es um sich herum, daß der Kapitalismus nicht funktioniert, es sei denn nur für ganz wenige, und fragen, wie man die Gesellschaft anders organisieren könnte.

Die Kommunistische Partei hatte ihren diesjährigen Parteitag im Juni in Chicago abgehalten. Mehr als 400 Delegierte aus dem ganzen Land nahmen daran teil. Die Beratungen wurden im staatlichen Fernsehkanal C-SPAN über Stunden live ausgestrahlt. Im Vorfeld hatte die CPUSA auf ihrer Internet-Homepage und Facebook-Timeline nach Ideen für Workshops gefragt. Wir erhielten mehr als 60 ausgefeilte Vorschläge, viele von Menschen, die keine Parteimitglieder sind. Wir konnten nicht alle auf dem Parteitag umsetzen, haben aber 40 davon realisiert. Gleichzeitig haben wir während des Parteitages mittels der Hangout-Funktion bei Google+ acht Diskussionsrunden online laufen lassen, in die sich zwischendurch jeweils mehr als 200 Menschen gleichzeitig eingeschaltet haben. Das sind für mich Beweise sowohl für die Bemühungen der CPUSA, Menschen aller Bevölkerungsschichten zu erreichen als auch für das zunehmende Interesse der Leute an unserem Eintreten für gesellschaftliche Gerechtigkeit.

In den USA hat es zu keinem Zeitpunkt eine wirklich starke linke Partei gegeben. Dies könnte sich nun vielleicht ändern. Die CPUSA blickt auf eine traditionsreiche Geschichte zurück. Lange Zeit hatten wir mit schweren Repressalien zu kämpfen und wurden in der amerikanischen Öffentlichkeit praktisch als Volksfeinde gehandelt. Dennoch melden sich heutzutage immer mehr Menschen bei uns online, die Mitglied werden wollen. Ob sie alle unser aktuelles Parteiprogramm kennen? Nein, das vielleicht nicht, aber sie wissen von den humanistischen Grundzielen der Kommunistischen Partei und wollen helfen, sie zu realisieren. Dabei ist die CPUSA nur Teil einer größeren Strömung, denn in den USA gibt es eigentlich sehr viele Menschen, die politisch links einzuordnen wären, aber parteipolitisch nirgendwo eingebunden sind.

Vor kurzem habe ich an einem Seminar hier in New York teilgenommen, das von der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert wurde. Von den Referenten kamen etwa 60 aus den USA und die restlichen 20 aus Europa. Es ging um neue politische Strategien der internationalen Linken. Während der Gespräche mit den ausländischen Mitstreiter wurde mir erneut bewußt, wieviel mehr Wirkungs- und Entfaltungsmöglichkeiten kleine linke Parteien in Europa haben. In vielen EU-Staaten sitzen ihre Vertreter nicht nur im Parlament, sondern auch in der Regierung. Für die Linke in den USA sind die Bedingungen erheblich schwieriger. Die Demokraten und Republikaner haben den Zugang zum Kongreß in Washington und zum Weißen Haus gepachtet. Die anderen politischen Parteien haben da kaum eine Chance. Im Kongreß ist der Sozialdemokrat Bernie Sanders aus Vermont praktisch der einzige Nicht-Demokrat oder -Republikaner, der in den letzten Jahrzehnten einen Sitz im Repräsentantenhaus und später im Senat erobern konnte. Er will 2016 für die Präsidentschaft kandidieren, aber hat leider keine nennenswerte Chance. In den USA schlägt sich die Linke immer noch mit den Hinterlassenschaften der McCarthy-Ära herum, das heißt auch mit den vielen formellen und rechtlichen Hindernissen, welche die Herrschaft der beiden Blockparteien - Demokraten und Republikaner - einst etabliert haben und bis heute zementieren. Daher bin ich der Meinung, daß die linken Parteien mehr zusammenarbeiten müssen, um den vielen linken, parteiunabhängigen Wählern, die es zweifelsohne gibt, politisches Gehör zu verschaffen.

Die Linke in den USA hat sich über die Jahre auseinanderdividieren lassen. Diese Spaltung müssen wir überwinden. Dazu gehören selbstverständlich offene und ehrliche Diskussionen über unsere unterschiedlichen Perspektiven und Ansätze. Um echte politische Veränderung im progressiven Sinne in diesem Land zu verwirklichen, müssen wir uns auf allen politischen Ebene betätigen, von den Kommunen, Bezirken und Städten über die Kongresse in den einzelnen Bundesstaaten bis hin zum Repräsentantenhaus und Senat in Washington. Wenn wir auf der höchsten Kongreßebene keine andere Möglichkeit haben, als einen Kandidaten oder eine Kandidatin vom linken Flügel der Demokraten im Wahlkampf zu unterstützen, dann sollten wir selbst das machen. Denn dort findet das große politische Spiel statt, und wenn wir gewinnen wollen, müssen wir auch dort nach Einfluß streben.

Bei allem Streben nach Geschlossenheit innerhalb der amerikanischen Linken dürfen wir die Rassenproblematik nicht unter den Teppich kehren. Die Schwarzen sind in den USA überproportional häufig Opfer der gesellschaftlichen Mißstände und werden weitaus häufiger von Polizisten erschossen als Weiße. Der Antidrogenkrieg richtet sich hauptsächlich gegen die schwarze Jugend. Die gigantische Gefangenenbevölkerung des amerikanischen Strafvollzugssystems besteht überwiegend aus jungen schwarzen Männern. Ihnen in ihrer Notsituation zu helfen und auf diesem Wege die alten Rassenschranken endlich zu beseitigen, muß zum obersten Gebot der US-Linken gehören. Wie schon das Sprichwort sagt: In der Vielfalt liegt die Stärke.

SB: Vielen Dank, Judith LeBlanc, für das Interview.

Vorderseite des East Harlem Café, das sich rühmt, den 'Best Coffee in El Barrio' zu servieren - Foto: © 2014 by Schattenblick

Eine gemütliche Kaffeeoase im Nordosten Manhattans
Foto: © 2014 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zum New Yorker Klimagipfel im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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8. November 2014