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INTERVIEW/265: Kurdischer Aufbruch - Grenzen sind die ersten Fesseln ...    Anja Flach im Gespräch (SB)


Konföderation - Entwurf für den gesamten Mittleren Osten

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Die Ethnologin Anja Flach ist Mitarbeiterin der Informationsstelle Kurdistan (ISKU) und gehört dem kurdischen Frauenrat Rojbin in Hamburg an. Sie war von 1995 bis 1997 als Internationalistin in den Bergen Kurdistans und teilte dort das Leben von Guerillaeinheiten der kurdischen Befreiungsbewegung. Auf Basis ihrer Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit entstand das 2003 erschienene Buch "Jiyanekê din - ein anderes Leben. Zwei Jahre bei der kurdischen Frauenarmee". 2007 veröffentlichte sie "Frauen in der kurdischen Guerilla. Motivation, Identität und Geschlechterverhältnis in der Frauenarmee der PKK". Für dieses Buch, das eine leicht überarbeitete Fassung ihrer Magisterarbeit im Fachbereich Ethnologie der Universität Hamburg darstellt, interviewte die Autorin kurdische Frauen, die in verschiedenen Phasen am Guerillakampf der PKK teilgenommen haben. Im März 2015 erschien ihr gemeinsam mit Ercan Ayboga und Michael Knapp verfaßtes Buch "Revolution in Rojava: Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo", in dem die Erfahrungen eines vierwöchigen Aufenthalts im Kanton Cizîrê im Mai 2014 verarbeitet sind, während dessen zahlreiche Gespräche geführt worden waren.

Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" moderierte Anja Flach die Session 5a "Lehren aus alternativen Praktiken". Sie erinnerte eingangs daran, daß Abdullah Öcalan 20 Jahre in Rojava gelebt, dort mit den Menschen diskutiert und sie organisiert hat. In welchem Teil Kurdistans man sich bei der kurdischen Bewegung auch aufhalte, man spüre immer wieder, daß ein anderer Gesellschaftsentwurf keine ferne Utopie, sondern dort bereits in vielen Bereichen Praxis ist. Zudem erinnerte sie an die internationalistischen Kämpferinnen Andrea Rolf, Uta Schneiderbanger und Ivana Hoffmann, die im Kampf für diese Freiheit ihr Leben gegeben haben.

Am Rande der Konferenz beantwortete Anja Flach dem Schattenblick einige Fragen zu ihren Erfahrungen in Rojava, dem dort erkämpften Gesellschaftsentwurf und der Präsenz der Kurdenfrage in Deutschland.


Bei der Moderation auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Anja Flach
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): In den 70er Jahren war Internationalismus für die deutsche Linke ebenso selbstverständlich wie die Solidarität mit dem Befreiungskampf der Kurdinnen und Kurden. Was hat sich seither aus deiner Sicht in Deutschland verändert?

Anja Flach (AF): Die Leute haben eine sehr lange Zeit wenig über ihren Tellerrand hinausgeschaut, sie waren sehr mit sich selbst beschäftigt, und durch diesen antinationalen Diskurs, der wirklich nicht hilfreich war, ist es noch schlimmer geworden. Heute gibt es unter anderem durch die Kämpfe in Rojava neue Hoffnung, und dieser Aufbruch verleiht auch Linken wieder eine Perspektive. Es fehlte einfach eine Utopie und der Glaube daran, daß man wirklich etwas verändern kann. Es geht mir selber genauso, denn wenn ich längere Zeit nicht nach Kurdistan fahre, versinke ich hier auch in meinem Elend, in diesem kapitalistischen Alltag mit seiner Entfremdung. Aber wenn ich dann wieder nach Kurdistan komme und sehe, daß die Menschen dort nicht nur an eine Veränderung glauben, sondern längst dabei sind, sie praktisch umzusetzen, dann hat das eine unheimliche Strahlkraft.

Und diese Anziehungskraft hat auch viele Jugendliche erreicht. Es haben sich schon etliche Jugendliche nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus anderen europäischen Ländern oder von noch weiter her dieser Bewegung angeschlossen. Es gibt keine Befreiung nur in einem Land, das wissen die Kurden, weshalb ihr Konzept nicht ein freies Kurdistan vorsieht, sondern eine Konföderation von Völkern, Religionen und allen erdenklichen Gruppen und Menschen, die dort im Mittleren Osten leben. Das ist eine Perspektive nicht nur für Kurdistan, sondern beispielsweise auch für den Palästina-Konflikt. Wenn man sich den Mittleren Osten ansieht, findet man dort ohnehin nur die willkürlichen Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, und in all diesen seltsamen Staatsgebilden leben mannigfaltige Ethnien und Religionen, Kulturen und Gruppen zusammen. Grenzen machen keinen Sinn mehr.

SB: Du bist des öfteren in Kurdistan gewesen und kennst dort viele Menschen. Was würdest du als deine wichtigste Erfahrung bezeichnen, die du dabei gemacht hast?

AF: Die wichtigste Erfahrung ist für mich, daß man gewinnen kann und daß es nicht reicht, nur gegen irgend etwas zu sein und auf die Straße zu gehen. Man braucht eine Basisorganisierung, um in die Gesellschaft hineinzuwirken, wobei vor allem Bildung eine zentrale Rolle dabei spielt. Es geht um Selbstermächtigung und die feste Überzeugung, etwas verändern zu können. Erforderlich ist ein sehr langer Atem, wie er die kurdische Bewegung auszeichnet. Der Sieg von Kobanê, der Sieg von Rojava, ist keine Sache von Monaten oder wenigen Jahren. Er hat einen Vorlauf von 30, 40 Jahren intensiver Organisierungsarbeit.

SB: Nach den Maßgaben deutscher Regierungspolitik war die Kurdenfrage lange entweder ein Tabu oder eine Angelegenheit der Strafverfolgung. Hat sich am grundsätzlichen Verhältnis zur Türkei und deren Führung inzwischen etwas geändert?

AF: In meinen Augen hat sich da wirklich überhaupt nichts geändert. Nach wie vor ist die Türkei Mitglied der NATO und ein wichtiger Handelspartner. Auch die anderen strategischen Bündnispartner im Mittleren Osten spielen für die Bundesrepublik auf jeden Fall eine wesentlich größere Rolle als irgendwelche Menschenrechte oder der Schutz unterdrückter Minderheiten. Die sind der deutschen Politik ohnehin gleichgültig. Wie man nicht nur in Kurdistan, sondern überall auf der Welt sieht, werden ganze Bevölkerungsgruppen hingeschlachtet.

SB: Auf diesem Kongreß steht der Kampf der kurdischen Frauen im Mittelpunkt. Offensichtlich zeichnet es diese Bewegung in besonderem Maße aus, daß die reale Rolle der Frauen tatsächlich von unabweislicher Bedeutung ist.

AF: Es war in der PKK von Anfang an eine zentrale strategische Position, daß es ohne die Befreiung der Frauen überhaupt keine Befreiung geben kann. Das kapitalistische Patriarchat gründet auf der Ausbeutung der Frauen und der Völker, weshalb die kurdische Frauenbewegung von einer Vergewaltigungskultur spricht. Sie meint nicht nur, daß Frauen ausgebeutet werden, sondern daß auch die Natur und die Völker ausgebeutet und vernichtet, Rohstoffe geplündert werden. Diese Vergewaltigungskultur herrscht seit Jahrtausenden, wobei insbesondere Europa seit vielen hundert Jahren die restlose Ausbeutung der Natur vorantreibt und das in der Gesellschaft vorhandene natürliche und ethische Wissen vernichtet. Um diese Kultur der Vernichtung zu überwinden, bedarf es einer anderen Herangehensweise als dieser männlichen Logik, die im Grunde nur auf einer Anhäufung von Macht und Gewalt beruht und die auch keine ethischen Probleme damit hat, für Rohstoffe skrupellos Menschen zu vernichten.

SB: Inwiefern ist Rojava in dem von dir angesprochenen Sinn ein emanzipatorischer Entwurf, der zwangsläufig Todfeindschaft seitens diverser reaktionärer Mächte und Interessen in der Region wachruft, die die Kurdinnen und Kurden deswegen angreifen und vernichten wollen?

AF: Diese Einschätzung trifft auf jeden Fall zu. Was dort geschieht, kann als ein letztes Aufbäumen des Patriarchats gesehen werden. Diese Logik der Vernichtung, die dort auch der Islamische Staat vertritt, ist indessen nichts, was dem Mittleren Osten inhärent wäre. Sie ist vielmehr dem Kapitalismus entwachsen und im Grunde dessen Zuspitzung in dieser Weltregion.

SB: Du kennst Kurdistan aus eigener Anschauung und bringst diese Erfahrungen nach Hause mit. Kannst du Menschen in Deutschland, die weder die Lebensverhältnisse noch die Kämpfe der Kurdinnen und Kurden kennen, vermitteln, was in Rojava geschieht und aufgebaut wird?

AF: Als größtes Problem hier in Deutschland erlebe ich, daß die Menschen so eingeknickt und in ihren Denkstrukturen derart verfangen sind, daß sie gar keine Hoffnung auf Veränderung und keinen Glauben mehr haben. Man hat sich mit den Verhältnissen abgefunden und beschäftigt sich mit kleinen Themen, kämpft sich beispielsweise über Jahre an irgendwelchen Nazigruppen ab. An einem kleinen Punkt beißt man sich fest und sieht nicht das große Ganze, wie man auch nicht erkennt, daß man die Menschen im Umfeld gewinnen, sie nach ihren Bedürfnissen fragen und für die gemeinsamen Probleme Lösungen finden muß. Das fehlt hier, und mitunter werden abstrakte Themen sogar gesucht, damit man sich mit ihnen mangels anderer Perspektiven beschäftigen kann. Es fehlt in der Linken eine zündende Idee, in die Gesellschaft hineinzuwirken und die Menschen da abzuholen, wo sie sich mit ihren Problemen herumschlagen.

SB: Du engagierst dich in Hamburg seit Jahren in der praktischen Solidaritätsarbeit mit Kurdistan. Könntest du näher ausführen, was eure Ziele sind und welche Probleme dabei auftreten?

AF: Eine Zeitlang war das sehr schwer. Im Grunde kann man sagen, daß es die letzten fünfzehn Jahre sehr schwierig war, eine Verbindung zu den Kämpfen in Kurdistan und den dort vertretenen Interessen herzustellen, wofür es hier sehr wenig Offenheit gab. Wir haben versucht, das hier in verschiedenen Bereichen zu vermitteln, nicht nur in der Linken. Wir haben Solidaritätsarbeit mit den politischen Gefangenen in der kurdischen Bewegung gemacht, wir haben versucht, wirklich allen möglichen Kreisen die Ideen der kurdischen Bewegung, die sich ja nicht auf Kurdistan beschränken, sondern eine Lösung für globale Probleme darstellen, nahezubringen.

In den letzten drei, vier Jahren, schon bevor es mit Rojava so richtig losging, zeichnete sich ein Wandel ab, auch wieder über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Es gibt ja nicht nur in Kurdistan, sondern auch an vielen anderen Orten der Welt inzwischen Bewegungen, die sich mit Kommunalismus beschäftigen, wie wir das auch auf dieser Konferenz hier sehen. Selbstermächtigung und Basisorganisierung spielen in vielen Teilen der Welt zunehmend eine Rolle, und das gibt Hoffnung. In Rojava ist man eben schon einen Schritt weiter, da diese Ideen und Ansätze bereits in der Praxis umgesetzt werden. Ein wesentlicher Punkt ist dabei die Selbstverteidigung, so daß dieser Aufbau nicht einfach wieder von der Landkarte gewischt werden kann.

SB: Die Frage der Selbstverteidigung dürfte Teilen der deutschen Friedensbewegung Bauchschmerzen bereiten. Wie würdest du mit solchen Einwänden umgehen?

AF: Es gibt natürlich breite Teile der Friedensbewegung, die bewaffneten Kampf ablehnen. Es war schon immer so. Wir selbst sind durchaus pazifistisch, da wir eine Welt ohne Krieg und Gewalt schaffen wollen. Es gibt aber Situationen, in denen man sich selbst verteidigen muß, unter Umständen bewaffnet, und so eine Situation haben wir dort in Kurdistan. Die Kurdinnen und Kurden kämpfen gegen die zweitgrößte Armee der NATO wie auch gegen Kräfte, die sich mit den allerneuesten US-Waffensystemen ausgerüstet haben. Natürlich kommt man da mit friedlichen Methoden nicht weit. Doch das Konzept von Selbstverteidigung bedeutet viel mehr, als sich bewaffnet zu verteidigen. Es bedeutet vor allen Dingen, den Menschen auch die ideologischen Waffen zu geben, um sich gegen jede Art von Angriff zu wehren. Ein Frauenkomitee ist genauso ein Teil der Selbstverteidigungsstrategie wie eine Frauenselbstverteidigungseinheit.

SB: Wenn man mit der Befreiungsbewegung der Kurden in Berührung kommt, ist man überrascht, wie oft Abdullah Öcalan genannt wird. Vermutlich wird seine Position und Rolle von Außenstehenden häufig mißverstanden.

AF: Es erstaunt mich immer wieder, daß Menschen so wenig verstehen, welche Rolle Abdullah Öcalan für die kurdische Bewegung spielt. Sie können es nicht nachvollziehen und übertragen ihre eigenen Konzepte von Führerschaft einfach auf die Person Öcalan. Das ist abstrus in unseren Augen, denn für uns ist er nicht in erster Linie eine Person, um die es einen Kult geben könnte, sondern ein umfassendes Konzept der Befreiung der Frauen und Völker. Er hat 40 Jahre daran gearbeitet und diesem Kampf immer wieder Perspektiven gegeben. Wenn wir sagen, die Freiheit Öcalans ist unsere Freiheit, dann meinen wir damit nicht nur die Person, sondern dieses Konzept, das die Idee der Freiheit für die Völker des Mittleren Osten gebracht hat.

Ich wundere mich, welche abstrusen Dinge wie Stalinismus oder Führerkult man da zu hören bekommt. Das entspricht einfach nicht der Realität. Die Realität ist vielmehr, daß Öcalan mit einigen anderen Personen zusammen in den 70er Jahren die Bewegung gegründet und dieses schon damals gemeinsam entwickelte Konzept in einem dialektischen Prozeß immer wieder erweitert hat. Die Praxis wurde in den theoretischen Auseinandersetzungen widergespiegelt. Insofern sind solche Vorwürfe schwer nachzuvollziehen, und sie tun auch weh, muß ich sagen.

SB: Auf diesem Kongreß zeichnet sich ein deutlicher Übertrag der Auseinandersetzung mit Rojava und der Kurdenfrage auf die zahlreich erschienenen jüngeren Menschen ab, die sich ihr mit Frische und Aufgeschlossenheit zuwenden. Konntest du vergleichbare Erfahrungen auch an anderer Stelle machen, wenn du über deine Reise berichtet hast?

AF: Zum Glück ist das so, und ich erlebe es in letzter Zeit immer wieder. Ich habe im letzten Jahr Rojava besucht und danach auf ungefähr 40 Veranstaltungen in verschiedenen deutschen Städten sowie in Dänemark und der Schweiz darüber berichtet. Es waren sehr viele junge Leute da, die ohne diese Scheuklappen der traditionellen Linken und wirklich ganz offen an diese Fragen herangehen. Sie sind nicht so begrenzt in ihrem Denken und fangen nicht bei Vorurteilen an - bei ihnen ist die antinationalistische Diskussion längst nicht so präsent. Sie blicken mit neuen Augen auf die kurdische Bewegung und verstehen auf Anhieb auch emotional, um was es dort geht. Das ist eine sehr schöne Erfahrung.

SB: Anja, vielen Dank für das Gespräch.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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BERICHT/194: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (3) (SB)
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4. Juni 2015


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