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INTERVIEW/320: Soziale Löcher - meistbietend verkauft ...    Johannes Richter im Gespräch (SB)


Schuldzuschreibung paralysiert Gesellschaftskritik

Interview am 30. Juni 2016 in Hamburg-Wilhelmsburg


Prof. Dr. Johannes Richter forscht und lehrt seit 2010 an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg. Zuvor war er unter anderem als Sozialarbeiter beim Deutschen Kinderschutzbund, in der Drogenberatung und in der "Elternschule Wilhelmsburg" tätig. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit und Publikationen sind Themen aus der Geschichte der Sozialpädagogik und Sozialarbeit. [1]

Am 20. Juni führten die Bürgerschaftsfraktion der Partei Die Linke und die Stadtteilgruppe Wilhelmsburg im Bürgerhaus eine Veranstaltung zum Thema "Scheibchenweise weggekürzt: soziale Einrichtungen in Hamburg" durch. Johannes Richter hielt dabei einen der kurzen Vorträge und diskutierte anschließend mit den anderen Expertinnen und Experten auf dem Podium wie auch mit dem Publikum. Am Rande der Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu Armut und Reichtum, zur Aktivierungsmaxime, zu Tendenzen in der Sozialarbeit und zur Ausbildung an der Hochschule.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Johannes Richter
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Hamburg ist für wenige Menschen eine reiche Stadt, doch eine arme für sehr viele andere. Wird der Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum allzu oft vergessen oder ausgeblendet?

Johannes Richter (JR): Es besteht auf jeden Fall ein enger Zusammenhang. Wir blicken nur immer auf die Armutsseite und dann noch spezieller meistens nur auf die armen Kinder. Es wird Kinderarmut und nicht Familienarmut oder Armut in bestimmten gesellschaftlichen Lagen verhandelt. Die sozialen Disparitäten in der Stadt nehmen stark zu, Segregationserscheinungen sind auf dem Vormarsch. Insofern zeitigen die Privilegien auf der einen Seite die prekären Situationen auf der anderen. Ich sehe das als direkten Zusammenhang, der gerne auf gewisse Weise durch Projekte verschleiert wird, die Solidarität mit den Armen bürgerlich in Szene setzen.

SB: Während Sozialleistungen gekürzt werden, steigt die Zahl unterstützungsbedürftiger Menschen unablässig an, so daß Druck und Not um sich greifen. Ist das Sozialstaatsprinzip in Deutschland längst abgeschafft worden?

JR: Gerade wenn man die Jugendhilfe anschaut, schwanke ich da so ein bißchen. Bezogen auf Kinderschutz gibt es bei den häufig beschriebenen Notlagen, also der Kinderarmut, sicherlich eindeutige Zahlen und Tendenzen. Dennoch ist der Zusammenhang mit Kinderschutz oder Kindeswohlgefährdung aus meiner Sicht hoch komplex. Auf so eine einfache Formel, daß sich der Sozialstaat immer weiter zurückzieht, würde ich das nicht bringen. Er funktioniert nur anders und zwar auf die Art und Weise, daß er deutlich zudringlicher und in vielerlei Hinsicht den sozialstaatlich-paternalistischen Zugriffen aus dem 19. Jahrhundert immer ähnlicher wird.

SB: Im Zuge einer Durchsetzung der neoliberalen Ideologie ist von Eigenverantwortung des Menschen die Rede. Wird die Daseinsvorsorge in zunehmendem Maße aus dem staatlichen Auftrag entsorgt und in eine Bezichtigung des einzelnen umgelastet?

JR: Das würde ich unterstreichen. Die Aktivierungsmaxime war aus meiner Sicht ursprünglich anschlußfähig an Ansätze wie Empowerment und durchaus in linken Vorstellungen der 70er und 80er Jahre verortet. Deswegen ist sie auch schmackhaft und von vielen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern getragen geworden. Gerade in bezug auf Hartz IV, Kinderschutz und Jugendhilfe läuft die Aktivierungsmaxime auf eine Schuldzuschreibung hinaus, die gesellschaftliche Zusammenhänge ausblendet anstatt sie zu skandalisieren. Insofern sage ich ganz klar auch bezogen auf die Diskussion, die wir heute führen, daß die Aktivierung auch Fachkräfte zu spüren bekommen. Im Kontext der kommunalen Umsteuerung [2] hieß es ja häufig, daß die behäbigen Jugendarbeiter in ihren Einrichtungen sitzen und nur Kaffee trinken, aber die Bedürfnisse der Menschen draußen nicht berücksichtigen. Das ist gezielt skandalisiert worden und spielt zusammen mit den vielen bürokratischen Hürden, die da aufgebaut worden sind, natürlich mit diesem Aktivierungsgedanken, den ich in der gegenwärtigen Situation für völlig kontraproduktiv halte.

SB: War das historisch gesehen lediglich ein blinder Fleck der Linken, die nicht realisiert haben, wozu das führen könnte, oder müßte man schärfer nachfassen und möglicherweise Interessen der Teilhaberschaft wie beispielsweise Karrierestreben diagnostizieren?

JR: Das ist eine spannende Frage. Die rot-grüne Bundesregierung hat damals die Aktivierungsmaxime in den Koalitionsvertrag eingebracht, was von seiten der Grünen und der Leute aus der Graswurzelbewegung, die den Marsch durch die Institutionen angetreten haben, unterstützt wurde. Insofern finde ich es verfehlt, so zu tun, als habe es sich um eine feindliche Übernahme gehandelt. Ich glaube, es gibt auch eine Mitverantwortung, genau diese neoliberale Denkweise bei der engen Gratwanderung zwischen einer libertären und einer liberalen Stoßrichtung nicht genug im Blick gehabt zu haben. Das hat auch etwas damit zu tun, daß diese antietatistische oder antibürokratische Neigung in ihrer Kehrseite zu wenig reflektiert wurde.

SB: Hier in Hamburg fand 2012 der 8. Bundeskongreß Soziale Arbeit [3] statt. Damals stand die Problematik im Mittelpunkt, daß die soziale Arbeit infolge der Kürzungspolitik in die Krise geraten sei. Wie hat sich die Situation seither weiterentwickelt?

JR: Es handelte sich damals noch einmal um den Versuch, die Politisierung in den Mittelpunkt zu stellen. Ich sehe die aktuelle Entwicklung nicht wirklich optimistisch. In bestimmten Arbeitsfeldern findet zwar eine Ernüchterung und ein Umdenken statt, das dem Problemdruck geschuldet ist - Stichwort sogenannte Flüchtlingskrise. Nimmt man das Thema Kinderschutz in den Blick, gibt es meines Erachtens inzwischen schon unter Fachkräften ein wachsendes Bewußtsein dafür, was man da eigentlich preisgibt, wenn man immer nur das Kindeswohl in den Blick nimmt und nicht das Gemeinwohl und das Familienwohl mitdenkt, sondern wieder verstärkt auf Strafen und nicht auf Hilfe setzt. Insgesamt würde ich die Entwicklung jedoch eher pessimistisch sehen. Es gibt in der Fachöffentlichkeit einen starken Drive zu klinischen Ansätzen, sich wieder vermehrt an klinischen Modellen zu orientieren. Das hat auch etwas damit zu tun, daß verstärkt die jüngeren Alterskohorten mit dem Ausbau der frühen Hilfen, also die sehr kleinen Kinder in den Fokus genommen werden unter dem Stichwort der Prävention, die wirksamer sei und am Ende auch Geld spare. Diese Logik ist nicht durchbrochen und auch sehr schwer einzufangen. Daß Jugendarmut überhaupt nicht mehr thematisiert wird, finde ich skandalös. Im 14. Kinder- und Jugendbericht [4] ist das sehr klar angesprochen worden, aber es ist in der Kommunalpolitik aus meiner Sicht überhaupt noch nicht und selbst in Fachkreisen nicht wirklich angekommen.

SB: Welche Erfahrungen machen Sie in der Lehre an der Fachhochschule? Ist die heutige Generation der Studierenden eine grundsätzlich andere als frühere Jahrgänge?

JR: Ich glaube schon. Wir bekommen sehr viele junge Leute, die von ihrer schulischen Bildung her ein wesentlich instrumentelleres Bildungsverständnis haben. Wir haben ein besonderes Auswahlverfahren und nehmen auch Leute, die einen Schnitt von 3,0 haben, weil das bei uns nicht das alleinige Kriterium ist. Da diese Studierenden aber keine guten Bildungserfahrungen gemacht haben, müssen wir mit ihnen im Grunde noch einmal neu erarbeiten, was Bildung unter den Rahmenbedingungen eines schlanken Studiums von sechs Semestern sein könnte. Das ist natürlich eine enorme Herausforderung, weil unsere Studiengänge akkreditiert werden müssen. Es gibt diese schlanke Vorstellung von Bildung, die Kompetenzen erzeugen soll. Wir versuchen, da gegenzuhalten, und das gelingt uns mal besser, mal weniger gut.

Ich würde nur insofern nicht von einer eindeutigen Tendenz sprechen, als ich unsere Jahrgänge mit Blick darauf, wie die Studierenden aufeinander eingehen, immer sehr unterschiedlich erlebe. Es gibt schon einen starken Drang in Richtung Individualisierung, aber es gelingt dann doch auch immer wieder, den Raum Hochschule auch als Raum erlebbar zu machen, in dem man über Reflexion eine bestimmte Haltung entwickelt, die darauf hinausläuft, Aufgaben solidarisch zu bewältigen. Das erlebe ich schon so, und es hat meines Erachtens auch etwas damit zu tun, daß wir eine kleine Hochschule sind, allerdings in den letzten Jahren von 200 auf 600 Studierende gewachsen, auch unter ökonomischen Zwängen. Es gelingt uns immer noch, im Kollegenkreis die gemeinsame Idee zu verfolgen, daß wir sehr stark an der Reflexivität der Menschen ansetzen und diese ausbilden wollen.

SB: Herr Richter, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.ev-hochschule-hh.de/studienangebot/lehrende/johannes-richter/

[2] Siehe dazu:
Mechthild Seithe: Problematische Entwicklungen in der Sozialen Arbeit in Zeiten des Neoliberalismus
http://zukunftswerkstatt-soziale-arbeit.de/2015/11/22/907/

[3] Berichte und Interviews zum 8. Bundeskongreß Soziale Arbeit 2012 in Hamburg im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Quo vadis Sozialarbeit?"
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

[4] Der Kinder- und Jugendbericht (Volltitel: "Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland") ist ein Bericht einer von der Bundesregierung beauftragten Expertenkommission, der pro Legislaturperiode schriftlich herausgegeben wird. Der 14. Kinder- und Jugendbericht wurde am 30. Januar 2013 mit dem Titel "Kinder- und Jugendhilfe in neuer Verantwortung" durch das Bundesfamilienministerium eingebracht.
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/14-Kinder-und-Jugendbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf


Beiträge zur Veranstaltung "Scheibchenweise weggekürzt: soziale Einrichtungen in Hamburg" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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