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INTERVIEW/350: Die Armutsschere - schöngeredet und geleugnet ...    Christoph Butterwegge im Gespräch (SB)



Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien. Seit Ende Oktober 2016 ist er im Ruhestand. Am 21. November 2016 nominierte ihn Die Linke als unabhängigen Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl, bei der am 12. Februar 2017 128 Stimmen auf ihn entfielen, obgleich die Linkspartei lediglich über 95 Stimmen in der Bundesversammlung verfügte. Zuletzt sind seine Bücher "Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition" (Springer VS 2016) und "Armut" (PapyRossa Verlag 2017) erschienen. Im Gespräch mit dem Schattenblick legte Christoph Butterwegge wesentliche Aspekte seiner Kritik am aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung dar.


Schattenblick (SB): Die Bundesregierung hat sich auch diesmal mit dem Armuts- und Reichtumsbericht schwergetan und ihn erst mit erheblicher Verspätung sowie gravierenden Mängeln fertiggestellt. Was waren die entscheidenden Unterschiede zu dem ursprünglichen Entwurf des Arbeits- und Sozialministeriums?

Christoph Butterwegge (CB): Wenn man sich den Ursprungsentwurf aus dem Hause von Andrea Nahles ansieht und vergleicht, was anschließend zwischen Oktober und Dezember 2016 verändert worden ist, sind im wesentlichen drei Punkte zu nennen. Die erste Änderung betrifft den Einfluß von Reichen auf die Gesetzgebung und die Regierungspolitik. Der ursprüngliche Entwurf enthielt noch Äußerungen, die sich auf Untersuchungen bezogen, die Armin Schäfer in Osnabrück durchgeführt hat. Es läßt sich empirisch zeigen, daß das, was sich reichere Bevölkerungsschichten wünschen, höhere Chancen hat, auch Gesetz zu werden. Das hat natürlich nicht zuletzt mit Lobbyismus zu tun, und dieses Unterkapitel, das sich auf Interessensvertretung und Lobbytätigkeit bezieht, wurde ganz gestrichen. Diese Änderung betrifft auch die Frage von Armut, Reichtum und Demokratie, wie das im Bericht genannt wird. In diesem Kapitel hat es offensichtlich seitens des Kanzleramtes und des Finanzministeriums, beide CDU-geführt, Einwände gegeben.

Der zweite Punkt betrifft die Frage der sinkenden Wahlbeteiligung von Ärmeren. Es war schon vielfach die Rede davon: Armin Schäfer hat dazu einiges gesagt, ich selber habe zu diesem Thema reichlich veröffentlicht, auch Winfried Thaa von der Uni Trier belegt die Auffassung, daß es eine Krise der politischen Repräsentation gibt. In den Hochhausvierteln der deutschen Großstädte, das kann man sogar in einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung nachlesen, ist die Wahlbeteiligung um 40 Prozentpunkte niedriger als in den Nobelquartieren. Das hat man bezogen auf die Bundestagswahl 2013 festgestellt, und Armin Schäfer hat das auch mit früheren Ergebnissen der Wahlbeteiligung von unterschiedlichen Bevölkerungsschichten verglichen. Es läßt sich nachzeichnen - und das war im Entwurf auch enthalten - wie mit der Zeit die Beteiligung der ärmeren Bevölkerungsschichten immer mehr zurückgegangen ist. Wenn nicht mehr alle Bevölkerungsschichten an der politischen Willensbildung und den Entscheidungsprozessen beteiligt sind, stellt das natürlich im Grunde das demokratische Repräsentativsystem in Frage. Diese Krise der politischen Repräsentation, die jetzt als Fachbegriff in der Politikwissenschaft verwendet wird, wurde aus dem Entwurf gestrichen. Man findet im Bericht zwar immer noch diese Ergebnisse von Armin Schäfer, aber nur noch in sehr komprimierter Form.

Der dritte Punkt bezieht sich auf eine Formulierung im Ursprungsentwurf aus dem Hause von Andrea Nahles, wo es hieß, daß extreme soziale Ungleichheit das Wirtschaftswachstum beeinträchtigt. Das wurde in der Ressortabstimmung in die Richtung geändert, daß es jetzt nur noch heißt, diese Frage sei empirisch umstritten. Es sei nicht geklärt, ob sich die soziale Ungleichheit negativ auf die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts auswirkt. Das sind die drei wesentlichen Konfliktpunkte gewesen.

Wenn man nun das Resultat mit dem Eingriff vergleicht, den Philipp Rösler, Vizekanzler und Wirtschaftsminister der FDP, an dem Berichtsentwurf 2012 von Ursula von der Leyen vorgenommen hat, so ging es damals um den Niedriglohnsektor und die extreme Verteilungsschieflage. Diesmal ging es mehr um Fragen, welchen Einfluß Arme und Reiche auf politische Willensbildung und Entscheidungen nehmen. Das heißt, die Ebene, auf der sich das Ganze abgespielt hat, ist eine andere. Damals war die Frage umstritten, ob überhaupt große soziale Ungleichheit besteht. Wenn man so will, war es diesmal im Grunde die Opposition innerhalb der Koalition, so will ich es mal nennen, die in ihrer Kritik an dem Entwurf nicht mehr in Frage gestellt hat, was da an Ungleichheit von Andrea Nahles festgehalten worden ist. Sie hat sich vielmehr darüber beklagt, daß weitergehend untersucht worden ist, wie sich Armut und Reichtum auf die politische Partizipation und auf die Einflußnahme auswirken.

Es ist natürlich eine banale Feststellung, daß ein Reicher, besonders ein sehr Reicher, politisch einflußreicher ist als ein Armer. Dazu braucht man keine empirischen Untersuchungen. Das ist einfach naheliegend, weil sich ein Reicher natürlich Gutachten bestellen oder einen Privatsender kaufen, viel einfacher als ein Armer darum kümmern kann, daß zum Beispiel sein Abgeordneter mit Schreiben, mit Gutachten und so weiter bombardiert wird. Hingegen hat der Arme logischerweise ganz andere Sorgen, nämlich wie er am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bekommt. Deswegen wird er kaum in Berlin vorstellig, um die Regierungsarbeit oder das Parlament zu beeinflussen. Daher ist es im Grunde recht absurd, daß die unionsgeführten Ministerien da Schwierigkeiten hatten. Aber andererseits hatten die das offensichtlich nicht gerne drinstehen in einem Bericht der Bundesregierung.

SB: Auch der Bericht selbst, der dabei herausgekommen ist, hat erhebliche Mängel. Was wären aus Ihrer Sicht die Hauptkritikpunkte an dieser Darstellung, wie sie der Öffentlichkeit schließlich vorgelegt wurde?

CB: Meine Kritik richtet sich vor allen Dingen gegen den allgemeinen Duktus des Berichts, wonach es zwar soziale Ungleichheit in unterschiedlichen Facetten, beispielsweise durch die Ausbildung des Niedriglohnsektors, gibt, das alles aber gar nicht mehr so schlimm sei. In letzter Zeit habe sich beispielsweise durch den Mindestlohn, den sich Andrea Nahles auf die Fahne schreibt, das Ganze zum Guten gewendet. Das ist der Tenor, den man an vielen Stellen des Berichts findet. Dort heißt es bezüglich der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich, daß bis 1998 alles einigermaßen gut gewesen sei. Zwischen 1998 und 2005 sei die Schere auseinandergegangen, doch ab 2006 bis in die Gegenwart - der Bericht reicht nicht bis heute, aber an dieser Stelle bis 2011 - sei alles wieder besser geworden. Diese Darstellung halte ich für völlig unlogisch. Denn 2005 ist die Senkung des Spitzensteuersatzes in Kraft getreten, also von ursprünglich 53 Prozent unter Helmut Kohl auf 42 Prozent und für ganz wenige diese Reichensteuer in Höhe von 45 Prozent, die dann später durch die erste große Koalition unter Angela Merkel eingeführt wurde. Es sind Unternehmenssteuern gesenkt und diejenigen, die Kapitaleigentum und ein großes Vermögen haben, an vielen Stellen steuerlich entlastet worden. Mir leuchtet daher nicht ein, daß alles besser geworden sei, wo doch 2009 solche Senkungen von Steuersätzen in Kraft getreten sind, die vor allen Dingen Reiche entlasten. Am 1. Januar 2009 ist die Kapitalertragssteuer in Kraft getreten, das heißt, ein Spitzenverdiener, ein Reicher, um es pauschaler zu sagen, mußte ursprünglich für seine Kapitaleinkünfte den Spitzensteuersatz von 53 Prozent bezahlen. Nach 2005 waren es nur noch 42 Prozent, aber nun trat ein Gesetz in Kraft, das Peer Steinbrück als damaliger Finanzminister zu verantworten hat, wonach der Reiche nur noch 25 Prozent Kapitalertragssteuer, die sogenannte Abgeltungssteuer, begleichen muß.

Aus dem Kreise der ganz Reichen, die ich immer gerne nenne, werden in wenigen Wochen, wahrscheinlich im Mai dieses Jahres, an die beiden reichsten Geschwister unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, also die Erben, denen 46,7 Prozent von BMW gehören, eine Milliarde und 74 Millionen Euro allein an Dividende aus BMW-Aktien bezahlt. Das müssen sie mit ihrem persönlichen Steuersatz versteuern, weil sie Funktionen im Unternehmen innehaben. Sie sitzen noch im Aufsichtsrat und kassieren dort Tantiemen. Hätten sie aber keine Funktion im Unternehmen, sondern nur die Aktien, müßten sie lediglich 25 Prozent Steuern darauf zahlen. Das heißt, Großaktionäre sind ab dem 1. Januar 2009 deutlich entlastet worden und zahlen kaum noch Steuern. Der Facharbeiter bei BMW, der viele Überstunden macht, zahlt hingegen den Spitzensteuersatz von 42 Prozent. Ich nenne das eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip, denn es heißt im Evangelium des Matthäus: Wer hat, dem wird gegeben, doch wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen.

Am 1. Januar 2007 ist die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht worden, was natürlich die Armen trifft, ganz besonders die Armen mit Kindern, weil eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug ihr ganzes Einkommen, das ohnehin sehr gering ist, natürlich in den Alltagskonsum stecken muß. Wenn sie in den Laden geht und Windeln kauft, dann zahlt sie 19 Prozent Mehrwertsteuer. Der Reiche, der sich ein Reitpferd kauft, zahlte bis zum 1. Januar 2012 nur 7 Prozent Mehrwertsteuer. Der ganz Reiche, der sich für 30 Millionen Euro Aktien kauft, zahlt überhaupt keine Umsatzsteuer, weil die Börsenumsatzsteuer 1991 von der Regierung Kohl abgeschafft worden ist. Die unten werden stärker belastet, die oben auf vielerlei Weise entlastet, zumal die Körperschaftssteuer auf 25 Prozent gesenkt worden ist. Die Einkommenssteuer der großen Kapitalgesellschaften betrug unter Helmut Kohl noch 53 Prozent.

Wenn man so eine Steuerpolitik macht, ist die logische Folge, daß sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Jetzt behauptet aber der aktuelle Bericht der Bundesregierung, daß die Ungleichheit der Vermögen ab 2006 wieder zurückgegangen sei, und das bezweifle ich ganz stark. Diese Tendenz des Reports, daß nicht zuletzt durch den Mindestlohn alles besser geworden sei, halte ich für Schönfärberei der tatsächlichen Situation. Der Bericht enthält viele aufschlußreiche Statistiken, Tabellen und Schaubilder, die im Grunde zeigen, daß sich das Land auseinanderentwickelt. Aber wo das einmal kenntlich wird, schüttet man sofort eine Prise Sand darüber, um das Ganze zu vertuschen und zu vernebeln. Das trifft besonders für die Konzentration des Reichtums zu, die im Grunde verschleiert wird, wenn man an solche Zahlen denkt, wie ich sie gerade genannt habe, daß ein Geschwisterpaar allein an Dividenden aus den Aktien eines Unternehmens über eine Milliarde Euro für das Vorjahr bezieht. Und die beiden haben auch noch Aktien von Chemiekonzernen, von Privatbanken und vielen anderen Unternehmen. Sie besitzen zudem nicht nur Aktien, aus denen sie Dividende beziehen, sondern natürlich auch weitere Wertpapiere, Grundstücke, Häuser, Privatjachten, Privatflugzeuge und vieles andere mehr, das zu einem solchen Reichtum gehört.

Die Bundesregierung macht in diesem Bericht etwas, was eigentlich erst einmal löblich ist: Andrea Nahles hat das auch groß angekündigt, daß sich der Bericht zum ersten Mal auch ausführlich mit dem Reichtum befaßt. Dieser war stets das Stiefkind der Berichterstattung, wenngleich der Report seit 2001 Armuts- und Reichtumsbericht heißt. Andrea Nahles hat ein Forschungsprojekt in Auftrag gegeben, in dem 130 Hochvermögende befragt worden sind. Diese haben dem Bericht zufolge ein durchschnittliches Vermögen von 5,3 Millionen Euro. Na ja, Susanne Klatten würde das kaum als Hochvermögen bezeichnen, die würde sich wahrscheinlich totlachen. Aber sei's drum. Da steht zu lesen, daß die ganz Reichen hohe Steuern bezahlen, was sie ja auch selber immer beklagen. Zudem stiften und spenden sie auch noch, eigentlich ist alles gut. Beim Einkommensreichtum ist jedoch eine Tendenz, im Grunde den Reichtum zu verschleiern, deutlich sichtbar. Der Bericht erklärt nämlich das Zwei- bis Dreifache des mittleren Einkommens für einkommensreich. Wenn man als Alleinstehender 3500 Euro netto im Monat verdient, ist man laut Bericht einkommensreich. Wenn ich fast jeden, der halbwegs wohlhabend ist, selbst mich als Pensionär, wegen der 3500 Euro netto für reich erkläre, wenn ein alleinstehender Studienrat wegen seines Gehalts für reich erklärt wird, ist das gemessen an den ganz Reichen abstrus. Wenn man so vorgeht und fast alle für reich erklärt, wird natürlich der wirkliche Reichtum im Land und die Tatsache, daß sich der Reichtum immer stärker auf wenige Familien konzentriert, vernebelt. Jetzt kann man entweder sagen, daß die bei dem Bericht vielleicht ein bißchen zu oberflächlich rangegangen sind, oder unterstellen, daß das bewußt so gemacht worden ist.

SB: In welchem Maße werden Armut und extreme Armut in dem Bericht berücksichtigt? Werden sie angemessen behandelt?

CB: Da verhält es sich ähnlich wie beim großen Reichtum. Für die extreme Armut, sprich Wohnungs- und Obdachlosigkeit, hat die Regierung überhaupt keine Daten, sondern stützt sich auf Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe aus dem Jahr 2014, wonach 335.000 Menschen wohnungslos und 39.000 obdachlos sind. Da sage ich als Kritiker, es ist bezeichnend, daß man überhaupt keine Daten hat. Wenn ich das richtig sehe, erhebt außer einer einzigen Landesregierung, nämlich der von Nordrhein-Westfalen, kein Land und auch nicht der Bund Daten über die Wohnungslosigkeit. Polemisch ausgedrückt weiß man zwar, wie viele Bergziegen und Zwerghasen es in Deutschland gibt, aber nicht, wie viele Menschen ohne Wohnung dastehen. Wenn man das noch nicht mal weiß - vielleicht in Klammern gesagt, weil es einen auch nicht so wahnsinnig interessiert -, kann man erst recht nicht erwarten, daß etwas dagegen getan wird.

Kommen wir von der extremen Armut zu relativen Armut, bei der man natürlich die Zahlen angibt, die das Statistische Bundesamt nennt: 15,7 Prozent der Bevölkerung sind, wie es da heißt, armutsbedroht. Ich würde sagen, wer weniger als 942 Euro im Monat netto zur Verfügung hat, der ist für mich nicht armutsbedroht, sondern einkommensarm. Nun wird aber angeführt, daß in diesen Zahlen auch die vielen Flüchtlinge zumindest zum Teil enthalten seien, weshalb die relative Armut nicht gestiegen, sondern auf einem recht hohen Niveau stabil sei. Auch da wird wieder ein bißchen Sand in die Augen gestreut, wenn man Einkünfte von weniger als 942 Euro im Monat nur als Armutsrisikoschwelle sieht, nicht aber von einkommensarm spricht. Auf diese Weise wird wiederum beruhigt und beschwichtigt, was der Tendenz des gesamten Berichts entspricht: zu beschönigen und das Problem auf jegliche Art zu relativieren.

SB: Welche Rolle spielt Ihres Erachtens Hartz IV als Ursache oder Problemlage bei der Armut in Deutschland?

CB: Wer Hartz IV bezieht, lebt natürlich in Armut. Das wird aber, glaube ich, auch nicht in Zweifel gezogen. Nur ganz wenige bekommen ja in Hartz IV mehr als 942 Euro. Wer natürlich in München lebt und da eine Wohnung hat, die das Jobcenter noch als angemessen anerkennt, aber wegen der dortigen Mieten hohe Wohnkosten aufbringen muß, kommt natürlich über die 942 Euro. Das betrifft in der Bundesrepublik aber nur sehr wenige Menschen. Deswegen sind fast alle, die Hartz IV beziehen, in dieser Einkommensarmutsstatistik enthalten.

SB: Die Bundesagentur für Arbeit hat für 2016 einen sehr hohen Überschuß von 4,9 Milliarden Euro ausgewiesen, der als Rücklage gehortet wird. Der damalige Behördenchef Weise sagte denn auch, die BA habe sehr gut gewirtschaftet und sei eine sichere Bank. Wie ist denn das zu verstehen?

CB: Sein Nachfolger Detlef Scheele will jetzt mehr Arbeitsmarktpolitik machen und, wenn ich das richtig erkenne, auch Qualifizierungsmaßnahmen finanzieren. Es wäre natürlich sinnvoll, wieder verstärkt auf die aktive Arbeitsmarktpolitik zu setzen und berufliche Weiterbildung und Umschulung zu unterstützen. Das ist ja seit Hartz IV sehr stark zurückgefahren worden. In dieser Hinsicht müßte meines Erachtens eine Menge geschehen, und das sieht wohl auch Andrea Nahles so, die jetzt zusammen mit Martin Schulz das Arbeitslosengeld Q einführen will, das allerdings mit der Digitalisierung und nicht von den Menschen her begründet wird, wie ich es machen würde. Man sollte die Leute nicht in kurzen Maßnahmen halten oder ihnen zum Beispiel das fünfte Bewerbungstraining anbieten, sondern wieder vernünftige, zwei Jahre laufende Qualifizierungsmaßnahmen ermöglichen und auch dafür sorgen, daß es entsprechend honoriert wird, wenn Langzeiterwerbslose solche Weiterbildungsmaßnahmen absolvieren. Das scheint zumindest, wenngleich mit einer anderen Begründung, die aktuelle Position der SPD zu sein. Das fände ich notwendig und bin darüber hinaus natürlich der Meinung, daß die Regelsätze zu niedrig sind, und das gilt nicht nur für die der Kinder, wobei besonders für sie erheblich mehr getan werden muß. Da die Lebenshaltungskosten seit 2005 viel stärker als die Regelsätze gestiegen sind, ist ein verstärkter Anpassungsbedarf festzustellen.

SB: In den USA sind über zehn Millionen Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie im Strafvollzugssystem sind oder waren. Könnten Sie sich auch in Deutschland ähnliche Versuche vorstellen, die demokratische Partizipation einzuschränken und eine Art Klassenwahlsystem einzuführen, bei dem die sogenannten Leistungsträger auch an der Wahlurne mehr Einfluß nehmen?

CB: Das taucht als Forderung immer mal wieder auf. Ich erinnere mich, daß Gottfried Ludewig, Bundesvorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), im Mai 2008 in BILD und dann bei Anne Will ein doppeltes Wahlrecht für "Leistungsträger" und weniger Stimmrechte für Arbeitslose und Rentner gefordert hat. Ich war selber in der Sendung, wo darüber diskutiert wurde, doch selbst der damalige FDP-Vorsitzende Westerwelle hat den Vorschlag sofort als völligen Unfug zurückgewiesen. Für Arme und Reiche bestehen ohnehin längst unterschiedliche Einflußmöglichkeiten in der Politik. In den USA ist das natürlich extrem ausgeprägt. Ich würde es als Plutokratie bezeichnen, wenn man Milliardär sein muß, um überhaupt eine Chance bei der Präsidentschaftswahl zu haben. Und daß jetzt ein Multimilliardär US-Präsident ist, treibt das Ganze auf die Spitze und macht es deutlich sichtbar. Dennoch wurde er auch von Ärmeren oder von Menschen gewählt, die Angst haben, sozial abzustürzen. Vielleicht, weil sie ihn für weniger korrupt halten als eine Hillary Clinton, die mit mehreren 100.000 US-Dollar dotierte Vorträge an der Wall Street hält, und denken, ein Milliardär habe es nicht nötig, Gelder von den Hyperreichen anzunehmen, weil er selber reich genug ist.

Aber bei uns gibt es diese Tendenz auch, daß die Gesetzgebung durch Lobbytätigkeit sehr stark beeinflußt wird. Mir ist das bewußt geworden und ich habe es besonders detailliert bei der Reform der Erbschaftssteuer für Firmenerben nachvollzogen. Dazu hat Wolfgang Schäuble, der nun wirklich kein Kommunist ist, ein Eckpunktepapier vorgelegt, für das er jedoch von manchen dieser Leute, die Familienunternehmer genannt werden, was ein Kosename für Oligarchen ist, heftig angegangen wurde. Dadurch ist der Gesetzentwurf nach und nach so verwässert worden, bis am Ende nur übriggeblieben ist, daß man bei uns immer noch einen ganzen Konzern erben kann, ohne einen einzigen Cent betriebliche Erbschaftssteuer zahlen zu müssen. Dabei ist mir der Lobbyismus der Hyperreichen, die ich so nenne, weil sich "Superreiche" zu positiv anhört, und ihr Einfluß auf die Politik ganz besonders bewußt geworden. Da das durchaus funktioniert, glaube ich nicht, daß es zu Gesetzesänderungen bezüglich der Partizipation an den Wahlen kommen muß oder wird. Der Einfluß der Hyperreichen müßte meines Erachtens viel stärker kritisiert werden, doch wenn so eine Kritik im Entwurf des Armuts- und Reichtumsbericht auftaucht, dann interveniert sofort das Kanzleramt, und wie ich aus erster Quelle weiß, auch das Finanzministerium.

SB: Herr Butterwegge, vielen Dank für das Gespräch.

26. April 2017


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