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INTERVIEW/353: Gegenwartskapitalismus - im Namen der Revolution ...    Zilan Yagmur im Gespräch (SB)


Z. Yagmur im Porträt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Zilan Yagmur
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die kapitalistische Moderne herausfordern, eine demokratische Moderne aufbauen - das war, aufs Kürzeste zusammengefaßt, inhaltlicher Schwerpunkt einer Konferenz, die von einem Netzwerk kurdischer Organisationen (Network for an Alternative Quest [1]) vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg durchgeführt und von rund 1.200 Teilnehmenden besucht wurde.

Am zweiten Konferenztag nahm mit Zilan Yagmur eine Repräsentantin des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan YXK/JXK als Referentin an der dritten Session teil, wie die insgesamt sechs inhaltlich aufeinander aufbauenden Vortrags- und Diskussionsblöcke der Konferenz genannt wurden. Session III war unter den Titel "Wege, das Neue aufzubauen und zu verteidigen" gestellt worden, ausgehend von der in der kurdischen Bewegung grundlegend akzeptierten Auffassung, daß die Ablehnung des vorherrschenden kapitalistischen, staatlichen und patriarchalen Systems nicht in eine wirklichkeitsverändernde Qualität übergeführt werden könne, wenn nicht zugleich auch die Entwicklung von etwas Neuem eingeleitet und vorangetrieben werde.

Zilan Yagmur studierte Politikwissenschaft an der Universität Marburg und engagiert sich seit drei Jahren in der YXK und JXK. In ihrem Vortrag vertrat sie unter anderem die These, daß der Kapitalismus nicht überwunden werden könne, wenn nicht in allen Bereichen, auch dem eigenen Denken, Alternativen entwickelt werden. Im Anschluß an die Veranstaltung im Audimax der Universität Hamburg erklärte sie sich bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu diesem Thema, aber auch der besonderen Rolle, die die Frauen und die Jugend in der kurdischen Bewegung einnehmen, zu beantworten.


Schattenblick (SB): Häufig wird der kurdischen Bewegung auch von Linken vorgeworfen, sie sei nationalistisch. Wie würden Sie dazu Stellung nehmen?

Zilan Yagmur (ZY): Unser Paradigma oder unsere Ideologie stehen dem entgegen. Ein Grund dafür ist, daß für uns der Begriff Nation von Nationalismus getrennt ist. So sprechen wir zum Beispiel auch von der demokratischen Nation. Wir erklären den Nationalismus und seine Entstehung ganz klar mit dem Kapitalismus und führen auch die Einschränkungen bestimmter Regionen auf die Kapitalakkumulation zurück. Das ist für uns auch der Grund, warum überhaupt Nationalstaaten entstanden sind und die Ideologie des Nationalismus gebraucht wurde, um die Menschen zu beeinflussen. Nach der Renaissance, als der Glaube nicht mehr so sehr im Vordergrund stand, hat die Bourgeoisie angefangen, anstelle dessen den Staat zu etablieren. Die Menschen sollten an den Staat glauben, so wie sie schon an Gott geglaubt haben. Der Staat wurde mit der Ideologie des Nationalstaats und dem Nationalismus in Verbindung gebracht, um die Menschen davon zu überzeugen, daß er zum Überleben notwendig sei. So wie das Gesetz Gottes als unverzichtbar galt, wurde nun auch der Nationalismus für notwendig erklärt, um den Staat am Leben zu halten. Dementsprechend hat man dann auch Grenzen gezogen.

Wenn wir von der demokratischen Nation reden, sprechen wir von einer Föderation oder einer Lebensform, in der verschiedene Ethnien und Minderheiten ihre Identität leben dürfen und können und in der dieses Miteinander auch geschützt wird, ohne daß eine Ethnie ihre Identität über die anderer stellen darf. Das ist unsere Auffassung von Nation. Der Nationalismus aber ist eine ganz andere Seite. Er ist erst später entstanden und hat nichts mit demokratischen Werten zu tun.

SB: Sie haben vorhin auf der Veranstaltung gesagt, daß die kurdische Bewegung sich nicht getrennt sieht von anderen Widerstandsbewegungen. Gibt es da auch eine konkrete internationale Solidarität?

ZY: Wir solidarisieren uns als Bewegung mit allen Gruppen und Minderheiten, die vom Staat unterdrückt werden bzw. solchen Unterdrückungsmechanismen ausgesetzt sind. Gleichzeitig versuchen wir, mit Organisationen, die sich gegen Staat oder Kapitalismus positionieren, zusammenzuarbeiten, was nicht bedeutet, daß wir ihren Auffassungen in allen Punkten genauso zustimmen. Aber wir finden es wichtig, Bündnisse zu schließen mit Gruppen, die den kapitalistischen Staat ideologisch bekämpfen, weil der ja auch unser Feind ist.


Z. Yagmur in Großaufnahme - Foto: © 2017 by Schattenblick

Widerstand heißt Leben - Zilan Yagmur während ihres Vortrags im Audimax der Universität Hamburg
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Sie sprachen in der Veranstaltung eben auch davon, daß demokratischer Aufbau und Sozialismus für Sie identisch seien. Das erinnert zumindest vom Wortgebrauch her an den demokratischen Sozialismus, wie ihn in Deutschland beispielsweise die Partei Die Linke propagiert. Sehen Sie da eine gewisse politische Nähe oder wie verhält sich das Ihrer Meinung nach?

ZY: Das einzige, das vielleicht ein wenig für eine Gemeinsamkeit sprechen würde, ist, daß wir auf allen Ebenen versuchen, demokratische Autonomie oder den Konföderalismus aufzubauen. Das bedeutet für uns, daß wir auch in den staatlichen Institutionen diplomatische Arbeit leisten, aber unser Paradigma bzw. das System, das wir etablieren wollen, hat an sich nichts mit Parlamentarismus zu tun. Wir glauben auch nicht, daß eine Lösung durch den parlamentarischen Weg möglich ist, er ist aber unserer Meinung nach für bestimmte Entwicklungsprozesse notwendig. Der größte Kampf wird jedoch außerhalb geführt, um das bestehende System sozusagen zu durchlöchern und immer mehr zu schwächen und dann das eigene System aufbauen zu können.

SB: In den 70er Jahren hat sich in Deutschland die Frauenbewegung aus guten Gründen von der Studentenbewegung gelöst. Wenn Sie heute von der Frauenbewegung gefragt werden würden, was würden Sie zu diesem Thema sagen?

ZY: Was ich dazu sagen kann, ist auf jeden Fall, daß die feministischen Ansätze von damals und die von Frauen geführten Kämpfe auch ein Teil unserer Geschichte sind. Wir sehen uns nicht getrennt davon, wie wir uns auch nicht getrennt sehen von allen übrigen Kämpfen. Für uns ist es aber auch sehr wichtig zu betonen, daß die heutigen feministischen Strömungen leider vom Kapitalismus vereinnahmt worden sind. Viele Frauen haben nicht mehr die Kraft, gegen das bestehende System zu rebellieren. Feministische Ansätze sind vielfach mit individualistischen Ideologien zusammengeflossen und durch ihren Kontakt zu parlamentarischer Politik sozusagen auf einen liberalen Weg abgedriftet. Das alles sind meiner Meinung nach Gründe, warum der Feminismus in Europa heute zum größten Teil auch nicht mehr vorankommt und es da eine Blockade gibt.

Wir haben seit den 80er Jahren sehr lange, über viele Jahre hinweg, über die Frauenthematik und Frauenbefreiung diskutiert. Die feministischen Autorinnen und Philosophinnen wurden alle gelesen und ihre Texte in die Diskussionen einbezogen. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß wir uns nicht getrennt davon sehen, aber daß wir das, was daraus geworden ist, nicht als unseren Kampf ansehen. Unserer Einschätzung nach sind Fehler gemacht worden, wie sie in anderen Kämpfen und Bewegungen natürlich auch vorkommen. Wir halten es für einen Fehler, dieses Problem innerhalb des Staates lösen zu wollen und sind der Meinung, daß manche Dinge nicht richtig analysiert wurden wie beispielsweise die Frage, wie der Kapitalismus und das Patriarchat entstanden sind. Das geht zurück bis zu den Sumerern, und es wird oft nicht erwähnt, daß das Patriarchat eine 5000jährige Geschichte hat.

Wenn über diese Themen diskutiert wird, führt man sich häufig nicht vor Augen, daß die erste Form der Unterdrückung die der Frau und ihrer Identität war. Durch die verschiedenen Diskussionen zur Identität der Frau und darüber, was es überhaupt bedeutet, eine Frau zu sein und ob dieser Begriff wirklich sinnvoll ist, wird den Frauen heute der Raum zum Kämpfen genommen. Sie haben nicht mehr die Kraft dazu, weil sie sich untereinander auf diesem Wege sehr weit auseinanderdifferenzieren und spalten lassen. Das ist, so wie ich es sehe, ein sehr großes Problem auch hier in Europa.

SB: Von welchem Begriffsverständnis gehen Sie aus, wenn Sie Ihre Arbeit als Studierende als revolutionär bezeichnen?

ZY: Wir versuchen natürlich, überall über diese Themen zu sprechen und die Revolution, die gerade in Rojava oder generell in Kurdistan stattfindet, auf die Tagesordnung zu bringen. Wir stellen das Beispiel, das dort gelebt wird, zur Diskussion, vermitteln es aber auch als ein Vorzeigemodell, damit andere Menschen überhaupt wieder Hoffnung schöpfen können. Ich glaube, daß vor allem den Menschen in Europa, denn hier ist das Zentrum des kapitalistischen Systems, die Utopien genommen worden sind und der Glaube daran, daß eine andere Welt möglich ist. Diese revolutionären Gefühle wurden von uns abgeschnitten, und nun müssen wir sie zurückgewinnen.

Das können wir zum Beispiel sehr gut tun, wenn wir uns das Beispiel der kurdischen Revolution vor Augen führen, auch wenn es da viele Probleme gibt. Wir dürfen uns die Revolution nicht wie ein Paradies vorstellen. Es ist wichtig zu wissen, daß das Entwicklungsprozesse sind, zu denen wir beitragen können, und das müssen die Menschen auch sehen können. Wenn wir ihnen das zeigen und wir gemeinsam diese Gefühle wiedererwecken, kann es auch möglich sein, diese Themen auch für Europa zu diskutieren und zu fragen, ob nicht auch das System hier eine Erneuerung braucht oder durch ein anderes ersetzt werden sollte, damit auch hier die Menschen ein besseres Leben führen und freier sein können.

SB: Welche Rolle nimmt denn die Jugend in diesen Prozessen ein? Gibt es da Ihrer Einschätzung nach eine besondere Eigenschaft jüngerer Menschen, oder besteht ein Problem vielleicht auch darin, daß ältere ihre Träume aufgegeben haben?

ZY: Da gibt es ein, wie ich finde, sehr bemerkenswertes Zitat von Abdullah Öcalan, denn er sagt: "Ich bin eigentlich sehr jung, weil ich meine Träume niemals verraten habe". Ich glaube, das gilt eigentlich für uns alle. Ich diskutiere oft mit älteren Menschen aus Europa, aber auch in der kurdischen Gesellschaft. Die sagen dann: "Ja, als wir noch jung waren, haben wir auch so gedacht oder gehandelt." Aber es ist wichtig, daß man, wenn man an etwas glaubt, das auch weiterhin tut und diesen Weg wirklich geht, auch wenn 'mal etwas schiefgeht. Wenn man einen Traum hat und für eine bessere Welt kämpft, dann darf das nicht in einen bestimmten Zeitabschnitt des Lebens gequetscht werden, sondern muß ein Leben lang anhalten.

Ein anderes Problem ist, daß die Jugend in der kapitalistischen Moderne starken Angriffen ausgesetzt ist. Sicher gibt es ältere Menschen, die die Hoffnung vielleicht verloren haben, aber davon sind auch Jugendliche betroffen. Die Angriffe gegen sie sind sehr, sehr umfangreich. Dazu gehört die Partykultur und die Selbstzerstörung, also daß Jugendliche anfangen, auch in linken Kreisen, sehr viel Drogen und Alkohol zu konsumieren. Damit versuchen sie ihr politisches Bewußtsein und das politische Empfinden für das, was auf der Welt passiert, zu unterdrücken, weil sie es anders nicht ertragen können.

Aber es ist wichtig, gerade wenn man als Revolutionär oder Revolutionärin etwas verändern möchte, diese Gefühle ertragen zu können, denn auf der Welt ist eben nicht alles schön. Wenn man seine Gefühle versucht zu betäuben, dann nimmt man sich eigentlich auch den Mut und die Kraft, das System zu verändern. Damit fängt eigentlich alles an. Wenn wir unsere Augen davor verschließen wollen, können wir auch nicht kämpfen. Ich glaube, in diesem Punkt ist es wichtig, daß auch die Linke hier in Europa wie in allen anderen Regionen der Welt begreift, daß die Angriffe des Systems überall geschehen und daß der Feind eigentlich in uns selbst steckt, denn wir sind in diesem System aufgewachsen und wissen überhaupt nicht, was Freiheit bedeutet. Wir sind hier mit der Mentalität des Staates aufgewachsen, der Staat hat uns erzogen, und jetzt müssen wir uns noch einmal neu erziehen und lernen. Das ist meiner Meinung nach ein Prozeß, der wichtig ist, um etwas voranzutreiben und die Gesellschaft zu revolutionieren.

SB: Ein letztes Wort vielleicht noch zu der Konferenz. Wie ist Ihr Eindruck, können Sie da schon etwas zu sagen?

ZY: Wenn wir uns die letzten beiden Konferenzen anschauen, können wir auf jeden Fall feststellen, daß die dritte Konferenz eine sehr, sehr große Masse erreicht hat. Wir haben es geschafft, daß Menschen von überall auf der Welt hierher gekommen sind, um gemeinsam über fortschrittliche Ideen zu diskutieren. Ich glaube, das könnte der Anfang von etwas Großem sein. Ein Freund hat gestern in seiner Rede daran erinnert, daß wir hier genau 100 Jahre nach der russischen Revolution zusammentreffen. Ich glaube auch, daß das eine Bedeutung hat, daß wir 2017 - 100 Jahre später - zusammen in dieser Konferenz sitzen und darüber diskutieren, ob nicht eine andere Welt und mit den Schriften Öcalans oder anderer eine gemeinsame revolutionärere Kraft möglich ist.

Ich finde, wir müssen das auch als unsere Pflicht ansehen, denn ich glaube, daß es wieder soweit ist, daß das System zusammenbricht oder sich in einem Chaos-Intervall befindet. Da ist es notwendig, sich selbst als Subjekt zu begreifen. Auch nach der Konferenz sollten wir in Diskussionen mit anderen Menschen in eine politische Praxis übergehen, um Räume und Kämpfe zu schaffen, damit diese Welt endlich und ein für alle Mal in eine bessere verwandelt oder ein solcher Prozeß eingeleitet werden kann.

SB: Vielen Dank, Frau Yagmur, für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] Im Netzwerk "Network for an Alternative Quest" haben sich folgende Gruppen, Organisationen, Initiativen, Vereine und Medien zusammengeschlossen: Internationale Initiative "Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan", KURD-AKAD Netzwerk kurdischer AkademikerInnen, YXK/JXK - Verband der Studierenden aus Kurdistan, Kurdistan Report, ISKU - Informationsstelle Kurdistan e.V., Ceni - Kurdisches Frauenbüro für Frieden, Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/262: Gegenwartskapitalismus - den Droh- und Vernichtungswuchten revolutionär entgegen ... (SB)
INTERVIEW/351: Gegenwartskapitalismus - fundamentale Gegenentwürfe ...    Yavuz Fersoglu im Gespräch (SB)
INTERVIEW/352: Gegenwartskapitalismus - unterdrückt und totgeschwiegen ...    Mako Qocgiri im Gespräch (SB)

2. Mai 2017


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