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INTERVIEW/363: Gegenwartskapitalismus - getrennt marschieren, gemeinsam schlagen ...    Cassia Figueiredo Bechara im Gespräch (SB)


Cassia Figueiredo Bechara ist Mitglied des Nationalvorstands der Bewegung der Landlosen (MST) in Brasilien. Begonnen hat ihr Engagement in der MST bei einer Landbesetzung im Bundesstaat Sao Paolo im Jahr 2001. Seit 2005 ist sie MST-Aktivistin in Pernambuco im Nordosten des Landes. Als Mitglied des nationalen Vorstands organisierte sie dort Camps, Landbesetzungen und politische Bildungskurse, wobei sie auch in der nationalen Koordinierung des MST-Kommunikationssektors tätig war. Heute koordiniert sie das Kollektiv für Internationale Beziehungen der Landlosenbewegung.

Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, gab Cassia Figueiredo Bechara in der Session VI - "Demokratische Moderne: Perspektiven für die Zukunft" einen Einblick in die Prinzipien, Vorgehensweisen und Ziele der MST. [1] Im Anschluß daran beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zur Bedeutung der Bewegung, ihrem Verhältnis zur Regierung im allgemeinen und der Arbeiterpartei im besonderen, zu Angriffen auf die Camps und zur Zusammenarbeit mit anderen sozialen Bewegungen.



Mit Mikrofon auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Cassia Figueiredo Bechara
Foto: © 2017 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Cassia, du hast in deinem Vortrag berichtet, daß inzwischen 1,5 Millionen Menschen in der Bewegung der Landlosen organisiert sind. Wie ist es dazu gekommen, daß die MST derart viele bäuerliche Familien aktiviert und zusammengeführt hat?

Cassia Figueiredo Bechara (CFB): Wie ist sie so groß geworden? Ich glaube, eines ist an der Bewegung der landlosen Arbeiter besonders interessant. Im Unterschied zu anderen sozialen Bewegungen ging MST nicht etwa aus einer Idee hervor, die einige Leute zusammen entwickelt hätten, um in Brasilien für eine Agrarreform zu kämpfen und dafür Landbesetzungen als eine geeignete Kampfmaßnahme anzuwenden. In Wirklichkeit spielte es sich ganz anders ab. Nach Ende der Diktatur war die Lage der Familien in den ländlichen Gebieten so kritisch, daß sie spontan begannen, ungenutztes Land zu besetzen und darauf Camps zu errichten. Die Bewegung der Landlosen griff also einen Kampf auf, der bereits existierte. Sie wurde meines Erachtens aufgrund der spezifischen sozialen Verhältnisse in Brasilien so groß: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt mehr als 50 Prozent des Landes, und da ein gewaltiger Bedarf an fruchtbarem Land besteht, entwickelten sich die Landbesetzungen gleichsam zu einem Fanal. Hatten Menschen von solchen Besetzungen in anderen Landesteilen gehört, gelang es relativ leicht, sie zu organisieren, da auch sie dringend Bodenflächen benötigten, um ihre Existenz zu sichern.

SB: Wie du berichtet hast, wurde innerhalb der MST ein ausgiebiger Diskussionsprozeß über das Verhältnis zur Regierung geführt. Seid ihr inzwischen zu einem gemeinsamen Ergebnis gekommen, wie eure Beziehungen zur Regierung im allgemeinen und zur Arbeiterpartei im besonderen gestaltet werden sollen, die nicht zuletzt für ihre Affinität zu agroindustriellen und anderen Großprojekten bekannt ist?

CFB: Wir sind in dieser Frage noch zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen und halten sie weiterhin für ein zentrales Thema, das es zu diskutieren gilt. Wir hatten bislang autonome Beziehungen zur Regierung. Zum einen kämpfen wir innerhalb des kapitalistischen Systems um Land, und da es eine staatliche Landreform gibt, kommen wir nicht umhin, in gewissem Umfang mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Wir besetzen jedoch das Land und zwingen die Regierung, der brasilianischen Verfassung zu entsprechen, die da sagt, daß Land, welches seine soziale Funktion nicht erfüllt, zur Nutzung freigegeben werden soll. In diesem Prozeß der Landvergabe nimmt der Staat die Rolle eines Mediators ein. In diesem Sinne haben wir also eine Beziehung zur Regierung. Zum anderen sind wir der Auffassung, daß es einige Dinge gibt, die in der Verantwortung des Staates liegen. Beispielsweise organisieren wir in unseren Siedlungen die Schulen, die Lehrpläne, die Lehrer und die politische Ausrichtung, doch bleiben die Schulen öffentlich und unterstehen mithin dem Staat. So gesehen kann ich nicht sagen, daß wir keine Beziehungen zur Regierung hätten. Wir unterhalten diese Beziehungen jedoch stets auf eine sehr autonome Weise und haben keine darüber hinausgehenden Verflechtungen mit Regierungspolitik.

Als die Arbeiterpartei entstand, wurde zum selben historischen Zeitpunkt auch die MST offiziell gegründet. Viele Mitglieder der Arbeiterpartei unterstützten die Landlosenbewegung auf nationaler Ebene und umgekehrt waren auch viele Mitglieder der MST an der Gründung der PT beteiligt, so daß dieser Zusammenhang für zahlreiche Menschen in der MST eine symbolische Bedeutung hat. Andererseits bestand auf allen Ebenen der Landlosenbewegung immer der Konsens, daß wir unsere Unabhängigkeit wahren müssen, gleich wer gerade die Regierung stellt. Als wir beschlossen, diese breite Diskussion über unsere Beziehung zur Regierung zu führen, war die Arbeiterpartei gerade an der Macht. Es ging uns darum, diese Frage mit allen Leuten zu diskutieren. Wenn man in kleine Städte und Ortschaften kommt, trifft man auf Mitglieder der PT, die sehr enge Beziehungen zu den ländlichen Gemeinden und den Siedlungen haben. Wir streben eine klarere Definition dieser Beziehungen an, die sich nicht auf der nationalen Ebene abspielen. Bislang haben wir die Definition beibehalten, die wir bereits hatten, nämlich daß jegliche Beziehungen zur Regierung unsere politische Autonomie wahren müssen. Dann kam es jedoch zum jüngsten Staatsstreich mit der Folge, daß wir keinerlei Beziehungen zur Regierung mehr unterhalten. (lacht)

SB: Kommt es nach Landbesetzungen weiterhin zu Angriffen der Großgrundbesitzer oder anderer Akteure auf die Siedlungen?

CFB: O ja, die finden in großem Umfang statt. Die Familien in den Camps sehen sich zwei permanenten Bedrohungen ausgesetzt. Die Polizei kann jederzeit eingreifen, und das gilt gleichermaßen für private Milizen der Großgrundbesitzer. Die Stärke der privaten Milizen variiert, je nachdem, um welche Region des Landes es sich handelt. Im Norden Brasiliens, woher ich stamme, sind sie besonders stark. Dort herrscht noch immer weithin eine koloniale Mentalität den Großgrundbesitzern gegenüber vor, welche die politische und ökonomische Macht repräsentieren. So sind die vorherrschenden Verhältnisse im Nordosten des Landes geprägt und beschaffen. Diese mächtigen Kreise üben heute noch dieselbe Gewalt wie in früheren Zeiten aus. Es gibt in der Tat jede Menge Repression seitens der Grundbesitzer, aber auch der Agrarkonzerne. Vor einigen Jahren wurde ein Genosse bei der Besetzung einer Landfläche getötet, die in Besitz des transnationalen Agrarkonzerns Syngenta war. Dieser setzte keine Milizen, sondern private Sicherheitskräfte ein. Mitglieder eines privaten Sicherheitsunternehmens eröffneten das Feuer auf das Camp. Es sind also nicht nur die traditionellen Großgrundbesitzer, die uns angreifen, sondern auch die modernen transnationalen Konzerne.

SB: Welche Beziehungen unterhaltet ihr zu anderen sozialen Bewegungen und welche Formen der Zusammenarbeit praktiziert ihr dabei?

CFB: MST hat stets mit anderen sozialen Bewegungen zusammengearbeitet, sowohl im internationalen Maßstab als auch aus prinzipiellen Gründen. Zum einen haben wir nicht bei Null angefangen, sondern schöpfen aus anderen Kämpfen. Die Kämpfe um Land begannen, als die Invasion der Portugiesen über diese Weltregion hereinbrach. Es handelt sich also keineswegs um eine neue Entwicklung. Wir zehren von früheren Kämpfen, lernen von ihnen und ihren Erfolgen und setzen sie fort. Wir waren uns jederzeit im klaren darüber, daß wir allein aus eigenen Kräften niemals in der Lage sein würden, eine soziale Transformation herbeizuführen, die nur ein Werk der gesamten Gesellschaft sein kann. Unsere Position war stets, daß sich der Kampf um Land und eine Agrarreform auf dem Lande abspielt, aber in den Städten gewonnen wird. Sind wir nicht Teil eines Projekts, das von der ganzen Gesellschaft getragen wird, können wir keine grundlegende Agrarreform erkämpfen.

Das gilt auch im internationalen Maßstab: Wir sind Söhne und Töchter der kubanischen Revolution, ebenso der Revolutionen in Zentralamerika, von denen wir große Solidarität erfahren und gelernt haben, wie unverzichtbar die Verbindung zu Bewegungen in anderen Ländern und die Solidarität mit ihnen ist. Ich kann sagen, daß MST mitgeholfen hat, die meisten internationalen Netzwerke und politischen Artikulationsmöglichkeiten, die wir heute haben, zu etablieren: Via Campesina, ALBA Movimientos in Lateinamerika, wir arbeiten nun einschließlich der kurdischen Freiheitsbewegung, die wir eingeladen haben, uns zu besuchen, mit vielen Volksbewegungen und politischen Bewegungen aus aller Welt in einer Versammlung der Völker zusammen und treffen uns im November in Venezuela, um eine internationale Plattform der verschiedenen Kämpfe und der gemeinsamen Perspektive einer Revolution zu schaffen. Diese Zusammenarbeit ist für uns in Brasilien wie auch international außerordentlich wichtig.

SB: Ich möchte dich abschließend fragen, welche Eindrücke du auf dieser Konferenz gewonnen hast.

CFB: Für uns ist es die erste derartige Konferenz, da wir an den beiden vorangegangenen Tagungen nicht teilgenommen haben. Ich bin tief beeindruckt. Wir kamen 2015 im Rahmen eines internationalen Forums zu politischer Bildungsarbeit enger mit der kurdischen Bewegung in Kontakt, so daß man von einer sehr jungen Beziehung sprechen kann. Wir planten, mehr über ihre Kämpfe und ihre Theorie zu erfahren, wobei wir sogar in Erwägung ziehen, daß einige unserer Genossinnen und Genossen nach Rojava reisen, um dort von den Menschen zu lernen. Für mich war diese Konferenz sehr fruchtbar, um die kurdische Bewegung besser zu verstehen, wenngleich ich einräumen muß, daß ihre Konzepte noch sehr neu für uns sind und es daher vieles gibt, womit wir uns noch auseinanderzusetzen haben. Auf jeden Fall ist es sehr wichtig, diese Erfahrungen und Diskussionen für unsere Genossinnen und Genossen mit nach Hause zu bringen. Es ist eine mystische Erfahrung, wie wir in der MST sagen, mit solchen Menschen zusammenzukommen, die für eine andere Art von Revolution streiten, aber einen sehr wichtigen und inspirierenden Kampf führen, was insbesondere für die Frauen gilt. Ich verlasse diese Konferenz mit dem ermutigenden Eindruck, auf dem richtigen Weg zu sein, da sehr viele Menschen unter verschiedenen Bedingungen und mit unterschiedlichen Ausprägungen denselben Kampf führen, der uns verbindet.

SB: Cassia, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] Siehe dazu:
BERICHT/267: Gegenwartskapitalismus - Landlosenfront ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0267.html


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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16. Mai 2017


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