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INTERVIEW/369: Gegenwartskapitalismus - links liegengelassen ...    Murat Yilmaz im Gespräch (SB)


Murat Yilmaz ist SAP-Berater und in der Partei Die Linke aktiv. Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April 2017 an der Universität Hamburg stattfand, beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zum Thema Digitalisierung, Demokratie und Aktivismus.



Porträt privat - Foto: © 2017 by Murat Yilmaz

Murat Yilmaz
Foto: © 2017 by Murat Yilmaz

Schattenblick (SB): Was interessiert dich am Thema der digitalen Revolution vor allem?

Murat Yilmaz (MY): Daß sie in den nächsten Jahrzehnten definitiv unsere Lebensart beeinträchtigen wird. Natürlich sorgt die Wissenschaft für Fortschritt, was auch Erleichterungen für die Menschheit mit sich bringt und unseren allgemeinen Lebensstandard erhöht. Das ist die positive Seite der digitalen Revolution, aber es gibt auch eine negative Seite, die mit Gefahren verbunden ist. Neben der Rationalisierung des Menschen durch Maschinen bewegen wir uns in ein neues Zeitalter der digitalen Revolution. Auch die Demokratie wird davon beeinflusst werden. Wir müssen kritisch hinterfragen, wie groß der Einfluß der digitalen Welt auf die parlamentarischen Parteien ist. Wer hat auf diesem Feld den meisten Profit?

Ein Beispiel hierfür ist die USA, wo mit Donald Trump dieses Thema in besonderer Schärfe aufgeworfen wurde. Zweifellos wurde eine digitale Unterstützung bei der Wahl des US-Präsidenten angewandt, schon deshalb, um Verhaltensmuster und vor allem den Gemütszustand der Gesellschaft ausrechnen und bestimmen zu können. Ist die Gesellschaft ängstlich oder befindet sie sich in einem neutralen Zustand, welche Wählerschaft lebt in dieser oder jener Region? Hinzu kommen bei diesem ganzen Informationsüberfluss in sozialen Netzwerken die sogenannten Fake-News, wo ein Zurechtkommen bei der Wahrheitsfindung erschwert wird. Dann stellt sich die Frage, ob diese Daten weitergegeben werden und wer der Adressat ist. Das Establishment oder das kapitalistische Monopol könnte schlussendlich vor Ort mit den Daten agieren, wodurch gewisse Parteien einen Wettbewerbsvorteil hätten. Das sollte uns Sorgen bereiten.

Wenn die Gesellschaft und politische Entscheidungen wie am Beispiel der USA auf diese Weise leichter manipuliert werden können, ist die Demokratie hinter der Diktatur eines kapitalistischen Machtmonopols verschleiert. Dabei ist es unerheblich, welche Partei regiert. Diesen Aspekt zu thematisieren und die damit verbundenen Gefahren ins Bewußtsein der Menschen zu bringen, halte ich für sehr wichtig, da man durch die Errechnung von Verhaltensmustern viel mehr machen kann, als nur die Daten zu werten. Wir müssen erfahren, was mit den Daten geschieht, sonst sind unsere freiheitlich-demokratischen Errungenschaften in Gefahr.  

SB: Wenn die gesellschaftliche Verfaßtheit einer Bevölkerung als Datenkonglomerat abgebildet werden kann, bräuchte man im Grunde genommen weder einen Staat noch eine Regierung, weil sich alles über Algorithmen regeln ließe. Dann würde die Gesellschaft wie ein selbstregulativer Automatismus funktionieren. Hältst du eine solche Entwicklung für möglich?

MY: Ja, mehr oder weniger. Wir müssen abwarten, denn die digitale Revolution ist ja gerade erst im Aufbruch. Noch sind die Konsequenzen undurchsichtig, aber schon jetzt wirft die Frage der Sicherheit und Kontrolle, sprich der Umgang mit den Daten, beängstigende Schatten voraus. Wir müssen auf der Hut sein, denn wenn wir unsere Daten bzw. unsere Freiheit und Demokratie nicht in ausreichendem Maße schützen, könnten wir früher oder später mit einer solchen technokratischen Situation konfrontiert werden. Die Befürworter behaupten gerne, daß der freie Zugang zu Daten für die Sicherheit unerläßlich sei. 

Man kann die Auswirkungen in der Sicherheitsfrage im Fall Amri und der Silvesternacht in Köln betrachten. Das Versagen der Bundesregierung und des Bundeslandes NRW mit ihren Sicherheitsapparaten BND und LKA sowie das Versagen der Kölner Polizei in der Silvesternacht beantwortet sie damit, indem sie all die Vorkehrungen wie z.B. Überwachungskameras, Datenspeicherung, Ausspähung sowie neue Anti-Terror-Gesetzte, hinzu kommt noch das Racial Profiling, ohne Weiteres und ohne große Gegenwehr umsetzen konnten, was sie sonst niemals so einfach erreicht hätten. Die Demokratie und die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger wurden schlichtweg eingegrenzt, obwohl die beiden Sicherheitsapparate und die Polizei total versagt haben. Das hat nichts mehr mit Sicherheit zu tun - es ist ein Generalverdacht auf die gesamte Bevölkerung und dieser Staat entwickelt sich immer mehr zu einem Kontrollstaat. Obwohl wir die größten Sicherheitsdienste haben, können terroristische Anschläge nicht verhindert werden. Schon heute sind unsere demokratischen Freiheiten durch Kontrollmaßnahmen, die mehr Sicherheit versprechen, eingeschränkt. Weiteren Einschnitten würde die Gesellschaft niemals zustimmen. Würde man sogar die Wählerschaft von CDU, SPD und den Grünen befragen, ob sie eine Kriegsbeteiligung Deutschlands befürworten, so würde die große Mehrheit mit "Nein" stimmen.

Aber was wäre, wenn es zu einem oder mehreren Anschlägen kommen sollte? In dem Moment würde sich das Blatt schlagartig wenden, weil die Gefahr jetzt vor unserer Haustür steht und die Politiker damit argumentieren werden, dass wir unsere Werte verteidigen müssen gegen all jene, die unsere Lebensform, unsere Freiheit und Demokratie angreifen. Aber müssen wir uns nicht ebenso die Frage stellen, in wieweit die Bundesregierung mitverantwortlich ist und durch ihre Fehlpolitik dazu beigetragen hat, dass der Terror nach Deutschland importiert wurde, während sie mit fragwürdigen Waffenexporten und Auslandseinsätzen in Krisengebieten ihre nationalen Interessenkonflikte verfolgen, was auch die Ursache der Flüchtlingsströme ist?  

SB: Bei der sogenannten Arabellion sprachen einige sogar von einer Facebook-Revolution, während andere die Meinung vertraten, daß es Facebook nicht bedurft hätte, weil die objektive Situation der ägyptischen Gesellschaft reif war für einen derartigen Aufstand. Auch hier auf dem Kurden-Kongreß organisieren sich viele Aktivisten über Facebook. Ist es für dich wichtiger, daß sich die Menschen von Angesicht zu Angesicht treffen und miteinander reden, oder hältst du die abstrakte Sphäre der sozialen Netzwerke für relevant genug?

MY: Das ist ein sehr interessantes Thema. Der Arabische Frühling war meiner Ansicht nach keine fortschrittliche Revolution, ohne dabei die mutigen Menschen zu verunglimpfen. Wenn man sich vor Augen führt, wie diese Massenbewegungen zustande kamen, die durch eine große soziale Ungerechtigkeit und Korruption nur noch einen Funken benötigten, um gegen den Staatsapparat und seine Diktatoren ihre Stimme zu erheben, so sehen wir nach dem Sturz der Diktatoren eine Militärdiktatur oder eine Regierung, die unfähig ist, eine Demokratie zu verfestigen. Facebook hat seine größte Werbung in den Zeiten des arabischen Frühlings erlangt. Durch die Massenmobilisierung in den sozialen Netzwerken wurde Facebook allgegenwärtig und der arabische Frühling ist in die Geschichte eingegangen und wie ein Tsunami von einem Land ins andere übergeschwappt. Die westlichen Staaten haben den Aufstand der Massen interessanterweise zu Beginn unterstützt, obwohl sie gegen ihre zuverlässigen Partner (Diktatoren) gerichtet war. Danach haben sie aber das Volk sich selbst überlassen.

Wir sehen heute in gestürzten Regimes, dass die Muslimbruderschaften einen starken Zuwachs und eine Vormachtstellung einvernommen haben. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass es unter den Reihen des Daesh, des sogenannten IS (Islamischer Staat) u. a. viele Rekruten aus den nordafrikanischen Ländern gibt. Doch so sehr ich Facebook einerseits kritisiere, weil es einfach ein Machtmonopol ist, wo unter anderem Verhaltensmuster ausgerechnet werden können und vieles mehr, bekommt man andererseits durch die Vernetzung sehr viel mit und es ist ein Teil unserer Gesellschaft geworden. Obgleich es eine öffentliche Plattform bietet, wird es durch den Informationsüberfluß immer schwieriger, die Wahrheit zu zeigen bzw. zu vermitteln. Aber was heißt schon Wahrheit? Und vor allem - wessen Wahrheit? Ich bin überzeugt, dass hier etwas schiefläuft. Denn das Establishment und die Medien haben die größte Bandbreite, um die Bevölkerung zu erreichen. Sie sind so immer im Fokus, andere sind es weniger. Natürlich sind wir als Linke oder Aktivisten dort auch mehr oder weniger organisiert. Man hat sein eigenes Netzwerk und erreicht so eine bestimmte Bandbreite. In diesem Zusammenhang wird auch von Filterblase gesprochen.  

SB: Zur Zeit herrscht in der Türkei eine starke Repression gegen die Kurden. Wie sieht die Situation von Menschen aus, die sich dort in sozialen Netzwerken zu Wort melden?

MY: Wir sehen in der Vergangenheit, dass soziale Netzwerke nicht umsonst gesperrt wurden. Die jetzige Situation ist, daß diejenigen, die gegen den Staat, sprich gegen Erdogan und seine AKP-Regierung Beiträge teilen, im Internet denunziert werden. Das heißt, kritische Beiträge werden an die Regierung weitergeleitet. Sogar Menschen, die hier in Deutschland leben, werden gemeldet, zum Beispiel in den Konsulaten. Da kann man durchaus von einer Vorphase der Diktatur sprechen. Es ist sehr beängstigend, was in der Türkei passiert. Am heutigen Tag findet das Verfassungsreferendum in der Türkei statt. Ich bin der Ansicht, daß unabhängig davon, ob das Evet- oder Hayir-Lager gewinnt, es dort zum Krieg gegen die Kurden kommen wird. Im Grunde herrscht jetzt schon ein latenter Bürgerkrieg in der Türkei. In einem gewissen Sinne ist es erfreulich, daß die Medien hier nun auch die Kehrseite der Medaille zeigen. Das haben sie viel zu spät gemacht, aber manchmal ist spät besser als nie. Viele Menschen wurden in den Kurdengebieten von ihrem Grund und Boden vertrieben. Ich bin der Meinung, dass kein Mensch einfach so zur Waffe greift. 

Bei der kurdischen Bewegung geht es um mehr als nur die Freiheit der Kurden. Seit Jahrhunderten sind sie über fünf Länder aufgeteilt und erfahren dort Repressionen, Massaker und Pogrome. Hiervon sind nicht nur die Kurden betroffen, auch andere Ethnien, Kulturen und Religionen sind gewissermaßen Opfer eines kranken nationalen Bewusstseins und des damit verbundenen Nationalstaates  geworden. Die Selbstverteidigung ist ein Naturgesetz des Menschen und als solches im Völkerrecht verankert. Nur muss den Kurden auf internationaler Ebene auch die Gelegenheit gegeben werden, dazu Stellung zu beziehen. Aber die bekommt sie nicht. Hier in Deutschland solidarisiert sich die Partei Die Linke am meisten mit der HDP und es gibt auch Abgeordnete, die sich mit der PKK solidarisch erklären. Ich finde das großartig, weil sie ihre Solidarität als parlamentarische Partei zum Ausdruck bringt. Aber reicht so eine Solidarität aus? Denn mit einer der größten Migrantenorganisationen Deutschlands, der NAV-DEM (Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland e.V.) könnten die Kurden für sich selbst sprechen und Klarheit schaffen. An der Solidarität der GenossenInnen gibt es keinen Zweifel, darum geht es nicht, es geht vielmehr um die Aufrichtigkeit und Glaubhaftigkeit, denn während ein Volk systematisch einem Vernichtungsprozess ausgesetzt ist in der Türkei, wird sie in Deutschland kriminalisiert und mundtot gemacht, daher finde ich die jetzige Situation mehr als fragwürdig. Hier hat die Linke ein großes Defizit, aber auch die Migrantenorganisationen haben in der Vergangenheit Fehler gemacht und dies einzugestehen.   

SB: Hier auf der Konferenz beschäftigt man sich stark mit Zukunftsvisionen und neuen Lebensentwürfen. Was hältst du davon, daß man einerseits utopische Visionen vorstellt, während andererseits Menschen unter großer Bedrängnis verfolgt werden und ihr Leben bedroht ist?

MY: Was hier vorgestellt wird, ist etwas ganz Wichtiges und stellt im Grunde das Fundament einer Gesellschaft dar. Ich meine die Bildung und Denkweise und damit die Frage: Wie sozialisiere ich eine Gesellschaft? Wie schaffe ich die Basis für einen Pluralismus, damit Menschen in Frieden miteinander leben und antimilitaristisch und ökologisch denken? Dieser Gedanke muß immer wieder nachhaltig gefördert werden. Wir sehen im Nordirak mit der KDP-Regierung den Autokraten Barzani am Werk, der eine nationalistische und leicht islamistische Gesellschaftsform prägt, das meiner Ansicht nach eine Nachahmung der türkisch-islamischen Synthese ist, nur mit kurdischen Vorzeichen. Das ist sehr beängstigend. Was wäre eine Alternative für diese multiethnische und multireligiöse Region? Wie schaffen wir es, daß die Menschen dort in friedlicher Koexistenz miteinander leben können?

Hier auf der Konferenz hat die kurdische Bewegung eine alternative Lösung vorgetragen. Wenn man die Geschichte Mesopotamiens betrachtet, wo die erste Zivilisation entstanden ist und viele Lebensentwürfe über Jahrhunderte erprobt wurden, so wird das eine ganz große Herausforderung werden. Hoffnung ist zumindest vorhanden, die zu einer Art Euphorie verleitet, man möchte mit dabei sein. Diese Euphorie spürt man auch in Europa, weil die Aktivisten hier mitbekommen, daß dort etwas aufblüht. Der Fokus der Welt liegt im Moment auf Kurdistan. Die Frauenbewegung mit ihrer Standhaftigkeit, ihrem Ehrgeiz, ihrer Freude und Liebe zur Freiheit und zum Leben beeinflusst auch mich als Mann. Diese Revolution ist nicht nur eine Revolution für die Befreiung des kurdischen Volkes und aller anderen Minderheiten, es ist zugleich auch ein Demokratisierungsprozess der kranken Nationalstaaten sowie gleichzeitig auch die Revolution der Frauen gegen das kranke Patriarchat. 

Schattenblick: Murat, vielen Dank für das Gespräch.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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31. Mai 2017


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