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INTERVIEW/379: Initiativvorschläge - die Vereinzelung brechen ...    Turgay Ulu im Gespräch (SB)


Auf dem Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie", der vom 28. bis 30. April im Bethanien in Berlin-Kreuzberg stattfand, stand beim Workshop "Zwischen Holidarity, Hobby-Aktivismus und selbstbestimmtem Refugee-Widerstand" das Verhältnis zwischen Refugee-Aktivistinnen und Unterstützern zur Diskussion. [1] Turgay Ulu hat die Türkei aufgrund politischer Verfolgung verlassen und sich über Griechenland nach Deutschland durchgeschlagen. Er gehörte zu den Organisatoren des Flüchtlingsmarsches von Würzburg nach Berlin [2], wo er dann im Camp auf dem Oranienplatz gelebt hat. Im Workshop berichtete er von diesen Erfahrungen und brachte seine Position in die Debatte ein. Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.



Demotransparent 'Refugees welcome' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Turgay, du bist als türkischer Oppositioneller, als Flüchtling und als Linker im Grunde an drei verschiedenen Fronten aktiv, aber du bindest sie zusammen. Auf welche Weise lassen sich diese unterschiedlichen Problematiken deines Erachtens zusammenführen?

Turgay Ulu (TU): Sie passen zusammen, weil Flüchtlinge aus unserer Sicht ein Teil der Arbeiterbewegung sind. Deswegen haben wir hier in Deutschland auch das DGB-Haus besetzt. Dort haben wir vertreten, daß auch wir zur Arbeiterbewegung gehören und eine Arbeitserlaubnis fordern. Was für die Mitglieder der Gewerkschaft gilt, trifft auch für uns zu: Es ist ein Klassenproblem.

SB: Du hast im Workshop angedeutet, daß es sehr wichtig sei, die Geschichte anderer Bewegungen - sowohl der historischen als auch der aktuellen in anderen Ländern - kennenzulernen. Warum ist das wichtig, was droht andernfalls verlorenzugehen?

TU: Ich halte es für wichtig, unsere Erfahrungen zu vermitteln und weiterzugeben. Aus diesem Grund haben wir im Camp am Oranienplatz ein Magazin gestaltet und ins Internet gestellt. [3] Das ist unseres Erachtens von großer Bedeutung, weil seit Anfang 2015 sehr viel mehr Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, die über keine Erfahrung mit Widerstand verfügen. Wir wollen diesen neuen Flüchtlingen unsere Erfahrungen vermitteln. Auf diese Weise erfahren sie, wie wir den Protestmarsch von Würzburg nach Berlin organisiert und die Büros diverser politischer Parteien, der Gewerkschaft und sogar das Parlament besetzt haben. Wir müssen diesen Menschen, von denen sich inzwischen ungefähr eine Million in Deutschland aufhalten, berichten, wie wir das alles organisiert haben. Angesichts ihrer fehlenden Erfahrung in den Auseinandersetzungen halten wir das für unverzichtbar.

SB: Die Flüchtlinge werden hier zumeist als Opfer gesehen, und viele Deutsche überlegen, wie man ihnen helfen könnte. Du hast dieser Auffassung gegenüber eine kritische Position vertreten.

TU: Unserer Erfahrung nach denken auch die deutschen Linken, daß die Flüchtlingskrise nicht ihr Problem sei, man aber den Flüchtlingen helfen müsse. Das ist eine falsche Analyse. Hier in Deutschland gibt es beispielsweise viele rassistische und kolonialistische Gesetze. Die Linken sind gefordert, mit den Flüchtlingen gegen diese Gesetze zu kämpfen, die von der Regierung entworfen und vom Parlament beschlossen worden sind. Angesichts einer Vielzahl antidemokratischer Gesetze stehen Flüchtlinge und Linke vor demselben Problem.

SB: Ein vielzitiertes geflügeltes Wort besagt, der Feind stehe im eigenen Land. Was bedeutete das deines Erachtens für eine deutsche linke Bewegung, an der eigenen Front zu kämpfen?

TU: Das ist wichtig, weil die Flüchtlinge wegen der deutschen Waffen in Afghanistan, Syrien, im Irak und auch in Afrika hierher gekommen sind. Deswegen sind so viele Menschen nach Europa geflüchtet. Das Problem fängt hier an, die Lösung muß von den Menschen hier herbeigeführt werden, indem sie die Regierung zwingen, den Waffentransfer einzustellen. Es ist im Kern ein deutsches Problem, weshalb wir die Lösung auch nur hier herbeiführen können.

SB: Wir haben vorhin auch über die Glaubwürdigkeit der linken Unterstützer von Flüchtlingen diskutiert. Dabei wurde vehement vertreten: Klärt ihr erst einmal eure eigene Position. Was sagst du dazu?

TU: Viele Linke denken, Flüchtlinge seien arme und hilfsbedürftige Menschen, die nicht einmal unsere Sprache beherrschen. Daher müssen wie sie versorgen und unterstützen. Es bringt jedoch gar nichts, wenn sie Brot geben, Wasser geben, Kleidung geben, aber drei Monate später die Abschiebung folgt. Am Ende ist das die Realität. Ohne die Waffenlieferungen gäbe es keine Kriege in Syrien, im Irak, in Afghanistan, und dann kämen auch keine Flüchtlinge hierher.

SB: Die Bundesregierung hat mit der Türkei den Flüchtlingsdeal abgeschlossen. Wie würdest du ihn einschätzen?

TU: Das ist Pragmatismus, sie geben der türkischen Regierung Waffen wie zum Beispiel den Leopard-Panzer. In Cizre, Silopi, Rojava sind viele Zivilisten gestorben, aber die deutsche Regierung hat ihre Stimme nicht dagegen erhoben. In Cizre beispielsweise sind beim Einsatz von Leopard-Panzern aus Deutschland 150 Zivilisten verbrannt. Merkel hat tagelang kein Wort darüber verloren, sondern das Flüchtlingsabkommen unterschrieben. Das nenne ich Pragmatismus.

SB: Derzeit wird beklagt, daß der deutsch-türkischer Journalist Deniz Yüzel in der Türkei gefangengehalten wird. Es wurde jedoch mit keinem Wort erwähnt, daß die ersten Luftangriffe der türkischen Streitkräfte gegen Rojava und gegen die Jesiden stattgefunden haben. Wie ist dieses Mißverhältnis aus deiner Sicht zu bewerten?

TU: Das ist immer so. In der Türkei sitzen ständig viele Journalisten im Gefängnis. Europa und die USA behaupten zwar, daß sie das entschieden verurteilten, aber sie unternehmen praktisch nichts dagegen. Sie liefern der türkischen Regierung weiter Waffen und interessieren sich meines Erachtens nicht dafür, ob die AKP-Führung eine Diktatur herbeiführt. Wenn weiter Waffen verkauft werden können, ist für dieses System alles in Ordnung, es ist kein Problem. Sie haben kein Interesse daran, daß in der Türkei Demokratie herrscht.

SB: Welche Erfahrung hast du als türkischer Linker mit rechtsgerichteten Bewegungen sowohl in der Türkei oder unterwegs als auch hier in Deutschland gemacht?

TU: In der Türkei ist es ganz anders. Ich habe in Istanbul gelebt, und als ständig Krieg gegen die Kurden geführt wurde, habe ich gesagt, das ist mein Problem. Wenn ich schweige, sind das im Grunde meine Waffen, also muß ich gegen diese Operationen der Streitkräfte kämpfen. Ich habe in der Türkei fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen. Ich wurde auch gefoltert, der Isolationshaft unterzogen und habe fünf Jahre in einer winzigen Zelle verbracht. Verglichen damit herrschen in Deutschland etwas andere Verhältnisse. Dennoch halte ich es für einen fatalen Irrtum zu glauben, die Probleme in der Türkei hätten nichts mit den hiesigen zu tun.

SB: Ist deine persönliche Lebensgeschichte eine Thematik, die du hier mit jüngeren Linken besprechen könntest? Oder gibt es da erst einmal Brücken, die zu schlagen wären?

TU: Ja, das ist hier in Deutschland schon ein Problem, daß sich die Antifa fast durchweg aus jüngeren Leuten zusammensetzt. Das geht bis 30, 35 Jahre, älter ist kaum jemand. Sie machen das in ihrer Jugend wie ein Hobby oder eine Therapie und vergessen es dann. Das ist das Problem. In der Türkei ist das häufig anders. Dort kämpfen die gesamten Familien, auch die Frauen und Kinder. Ungefähr 3000 Kinder sitzen in türkischen Gefängnissen. Das ist eine andere Atmosphäre.

SB: Du hast vorhin angesprochen, daß die Lebensverhältnisse hier in Deutschland für viele Menschen besser als in anderen Ländern sind und das auch Konsequenzen für die Interessenlage der Flüchtlinge hat.

TU: Deutschland ist ein imperialistisches Land, das Kolonien ausbeutet und Waffen dorthin verkauft. Viele Geflüchtete spenden ein bißchen Geld für die Menschen in ihrem Heimatland, aber sie haben hier einen etwas besseren Status als in Syrien, der Türkei oder in Afghanistan. Deshalb kämpfen sie nicht weiter und sagen, es ist genug, ich lebe jetzt hier, mache Urlaub, gehe in die Disko, das ist okay.

SB: Erlebst du das auch bei deutschen Linken, die für sich den Anspruch erheben, es ganz anders zu machen?

TU: Wir haben unter anderem mit der Münchner Antifa-Bewegung dieses Thema intensiv diskutiert und Artikel über den Hobby-Aktivismus geschrieben. Ich glaube, wenn die große Krise nach Deutschland kommt, müssen auch sie kämpfen. Dabei gibt es hier schon jetzt jede Menge Probleme. Allein in Berlin leben 11.000 Obdachlose, und das sind keine Flüchtlinge. Als wir die alte Schule besetzt haben [4], lebten dort auch deutsche Frauen und Männer. Es gibt auch hier sehr viele Probleme.

SB: Glaubst du, daß die Menschen hier überhaupt realisieren, was auf sie zukommt?

TU: Die Bundesregierung und das deutsche System foltern und schlagen in der Regel nicht, aber es gibt ein bürokratisches Regime, das überall mit Papier, mit Briefen kontrolliert. Und die Leute haben keine Zeit, darüber nachzudenken, ob sie es anders machen sollten. Sie müssen immer nur arbeiten und vielleicht auch Urlaub machen wie Roboter.

SB: In Deutschland wurden die Arbeitskämpfe verrechtlicht und die Gewerkschaften in hohem Maße eingebunden, so daß sie die Interessen der Unternehmen mitvertraten. Es wurde die Mitbestimmung eingeführt mit dem Ergebnis, daß sich die Gewerkschaften immer mehr anpaßten.

TU: Ja, die Gewerkschaften sind nicht für die Arbeiter. Das war ein Grund, warum wir das DGB-Haus besetzt haben. Es gibt Millionen Mitglieder, aber sie machen nichts für die Arbeiter, sie arbeiten mit der Regierung für das System. Das ist für mich keine richtige Gewerkschaft.

SB: Eine vieldiskutierte Frage auf diesem Kongreß bezieht sich darauf, wie die verschiedenen Kämpfe zusammengebunden werden könnten. Manche sagen, man muß sich vernetzen, aber was heißt das konkret?

TU: Wir müssen zusammenarbeiten, wir haben die gleichen Probleme. Wir haben Kontakt mit Schulstreiks, Bewegungen gegen Zwangsräumung, auch mit der Antifa-Bewegung. Wir bemühen uns um die Basisorganisierung. Nach der Besetzung des DGB-Hauses sind viele Leute von der Gewerkschaftsbasis gekommen und haben mit uns zusammen etwas gemacht.

SB: Aus deinen Diskussionsbeiträgen im Workshop ging hervor, daß du, egal wo du auf deiner Flucht gewesen bist, denselben Kampf weitergeführt hast. Was bedeutet das für dich?

TU: Es ist insofern überall das gleiche System, indem es auf Isolation setzt. Wenngleich sie es hier anders machen und Flüchtlinge nicht ins Gefängnis werfen, sind doch die Lager wie Gefängnisse: Normalerweise kannst du nach draußen gehen, aber wenn du kein Geld hast, mußt du immer im Lager bleiben. In der Türkei, im Iran oder in Afghanistan nehmen sie die Leute fest, dort bist du im Gefängnis. Hier bist du im öffentlichen Gefängnis. In diesem System ist überall die Isolation ein zentrales Zwangsmittel.

SB: Gibt es eine Waffe gegen die Isolation?

TU: Wir müssen auf die Straße gehen und kämpfen, das ist unsere Form der Auseinandersetzung. Deswegen haben wir einen Park am Oranienplatz besetzt. Wie haben dort ungefähr zwei Jahre mit 400 oder 500 Leuten gelebt, die verschiedene Sprachen sprachen und unterschiedlichen Religionen angehörten. Es ist möglich, auf der Straße mit Menschen zusammenzuleben und zu kämpfen.

SB: Turgay, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0283.html

[2] Der Protestmarsch begann am 8. September 2012 in Würzburg und führte über 600 Kilometer nach Berlin, wo die Flüchtlinge am 5. Oktober ankamen. Sie protestieren damit gegen Einschränkungen wie die Residenzpflicht, Arbeitsverbote, das Asylbewerberleistungsgesetz und die Unterbringung in Wohnheimen.

[3] http://www.oplatz.net

[4] Im Dezember 2012 besetzten Flüchtlinge vom Oranienplatz in Kreuzberg die nahegelegene frühere Gerhart-Hauptmann-Schule. Im Juli 2014 bot der Bezirk einen Umzug in Flüchtlingsheime an und sicherte die Räumung mit einem großen Polizeiaufgebot. Etwa 40 Flüchtlinge verweigerten jedoch den Auszug und harrten neun Tage auf dem Dach des Gebäudes aus, um das selbstorganisierte Flüchtlingszentrum zu verteidigen. Daraufhin lenkte der Bezirk ein und schloß ein Abkommen mit ihnen.


Beiträge zum Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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