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INTERVIEW/408: Newroz Hannover - neuer Vorwand alter Feinde ...    Yilmaz Peskerin Kaba im Gespräch (SB)


Der in Celle geborene Yilmaz Peskerin Kaba, dessen Eltern aus Nordkurdistan stammen, ist Vorstandsmitglied des Zentralverbandes der Ezidischen Vereine, NAV-YEK e.V., sowie des Demokratischen Gesellschaftszentrums der Kurdinnen und Kurden in Deutschland NAV-DEM e.V.

Am Rande der diesjährigen Newroz-Feier am 17. März auf dem Opernplatz in Hannover beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur kulturellen und politischen Bedeutung des Newroz-Festes, zur Situation in Afrin und zu potentiellen Verbündeten im Kampf gegen die türkischen Streitkräfte und deren dschihadistische Söldner.



Demotransparent 'Macht Platz, die Jugend kommt - Wir werden Afrin verteidigen' - Foto: © 2018 by Schattenblick

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Schattenblick (SB): Das kurdische Newroz-Fest hat eine kulturelle Tradition, aber auch eine politische Bedeutung. Wie lassen sich diese beiden Aspekte umreißen?

Yilmaz Peskerin Kaba (YPK): Der kulturelle Hintergrund des Newroz-Festes für die kurdische Bevölkerung, aber nicht nur für sie, sondern auch für viele andere Völker im Nahen und Mittleren Osten, ist der des Neujahrsfestes, das sehr traditionell in klassischen Trachten, mit bestimmten Farben und vor allem mit Liedern begangen wird. Und natürlich auch mit dem Feuer, das Newroz symbolisiert. In der Mythologie hat der Schmied Kawa damals den Tyrannen Dehak besiegt und danach ein großes Feuer als Zeichen entfacht. Seitdem ist das Feuer ein wichtiges Symbol der Feier des Newroz, also eines neuen Tages, sprich ein Ende der Tyrannei, ein Ende des Winters - es symbolisiert viele verschiedene negative, schlechte, dunkle Aspekte, die überwunden werden. Das ist kurz zusammengefaßt der kulturelle Hintergrund.

Auch den politischen Aspekt dürften die meisten kennen: Das kurdische Volk wird bekanntlich von vier Besatzerstaaten unterdrückt. Die Sprache, Kultur und viele weitere Elemente der kurdischen Existenz und Identität können nicht frei gelebt werden. In diesem Zusammenhang bekam Newroz auch eine politische Bedeutung, indem man gesagt hat, wir versuchen uns durch Newroz wie Kawa zu erheben, gegen Unterdrückung zu verteidigen, gegen alles Unmenschliche zu behaupten und zu schützen. Wir gehen politisch gegen die Staaten an, die unser Land und unsere Heimat besetzen, die unsere Sprache verboten haben, die uns unsere Kultur genommen haben, die all unsere wichtigen Merkmale als Kurden unter Strafe gestellt haben. Newroz ist also nicht nur in einem kulturellen Sinn ein traditioneller Feiertag, sondern symbolisiert auch den Widerstand gegen Unmenschlichkeit, Unterdrückung, Ausbeutung, Frauenfeindlichkeit, Feindlichkeit gegenüber Glaubens- und Religionsgemeinschaften - wir gehen mit unserem Newroz gegen all das an, was im Mittleren Osten durch Erdogans menschenverachtende Denkweise vertreten wird.

SB: Über den Angriff der türkischen Streitkräfte und ihrer islamistischen Hilfstruppen auf Afrin wird in den deutschen Medien nur sporadisch und selektiv berichtet. Auf welche Weise ließe sich eine Gegenöffentlichkeit schaffen?

YPK: Wir haben gerade die Eilmeldung bekommen, daß in Afrin Dutzende Menschen bei einem Angriff auf einen zivilen Konvoi getötet wurden. Die türkischen Streitkräfte bombardieren gezielt und bewußt die Zivilbevölkerung, weil die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten aus der Bevölkerung kommen. Man muß dazu sagen, daß die Menschen vor Ort von Anfang an erklärt haben, daß sie sich nicht ergeben werden, schon gar nicht Erdogan mit seinem menschenverachtenden Weltbild. In diesem Zusammenhang werden absichtlich die Konvois von Zivilisten auch zur Verpflegung und medizinischen Unterstützung bombardiert, es sind bereits Hunderte Frauen, Kinder, ältere Leute Opfer dieses völkerrechtswidrigen Angriffs geworden. Die Behauptung des türkischen Staates, es sei kein einziger Zivilist getötet worden, ist eine dreiste Lüge.

Obgleich weithin bekannt ist, daß vor allem Zivilisten von den Angriffen betroffen sind und dies dokumentiert und nachgewiesen ist, schweigt die internationale Staatengemeinschaft. Auch die Bundesregierung weiß Bescheid, denn die Informationen, die wir aus Afrin bekommen, werden als Dossiers mit allen Zahlen und Belegen direkt an die Presse, an die Öffentlichkeit, an die Politik, an alle wichtigen Institutionen weitergeleitet. Dennoch bleibt eine Reaktion der Verantwortlichen aus, was allein schon ein Verbrechen ist: Dort werden Zivilisten nach ihrem Hilfeschrei bombardiert, obgleich sie immer wieder dazu aufrufen, diesem Krieg ein Ende zu machen. Vor den Augen der internationalen Staatengemeinschaft, vor den Augen der Weltöffentlichkeit werden dort Menschen massakriert, die Gefangenen werden gefoltert, der türkische Staat arbeitet mit dem IS, der Al-Kaida, der Al-Nusra zusammen.

Das muß auch hier in Deutschland nicht nur kritisiert werden, dagegen muß man angehen. Es kann nicht sein, daß der Islamische Staat, der Feind der Menschlichkeit, Hand in Hand, Schulter an Schulter mit der Türkei dort Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Wie ist es möglich, daß auf der einen Seite ein NATO-Mitglied mit Waffen beliefert und aufgerüstet wird, das dann auf der anderen Seite mit solchen Mörderbanden zusammenarbeitet? Das ist ein Widerspruch in sich, und es darf nicht nur bei einer verbalen Verurteilung bleiben, es müssen Konsequenzen gezogen werden. Das zivile Leben ist in Afrin nicht mehr gewährleistet, es gibt kein Trinkwasser, es gibt keine Medikamente, die Menschen brauchen in jeder Hinsicht Unterstützung und Hilfe.

SB: Es gab von kurdischer Seite einen Aufruf an die syrische Regierung, die Grenzen des Landes gegen Invasoren zu schützen. Meldungen zufolge haben sich syrische Verbände nach Norden in Bewegung gesetzt. Gibt es Informationen, was aus ihnen geworden ist? Stellen sie potentielle taktische Bündnispartner für die YPG und YPJ dar?

YPK: Offiziell gibt es nur die Demokratischen Kräfte Syriens und Einheiten Assads waren tatsächlich vor Ort, jedoch nur in kleineren Gruppen, die sich relativ schnell wieder zurückgezogen haben. Hintergrund des kurdischen Aufrufs an die Regierung in Damaskus war die Auffassung, daß Afrin zu Syrien gehört und sich innerhalb der Landesgrenzen befindet, so daß die Truppen Assads auch für den Schutz und die Verteidigung dieser Region mitverantwortlich seien. Assad selbst hat vor dem völkerrechtswidrigen Krieg der Türkei erklärt, er werde im Falle einer türkischen Offensive diese Region schützen. Zunächst nahm er sich jedoch nicht des türkischen Angriffs an, erst später kamen Truppen nach Afrin, doch leider nicht effektiv.

SB: Welche Rolle spielen die US-amerikanischen Streitkräfte, die Berichten zufolge zumindest in Manbidsch die Stellung halten wollen?

YPK: Sie sind zwar in Manbidsch stationiert, man muß aber dazu sagen, daß sie sich aus Afrin komplett herausgehalten haben. Das gilt auch für Rußland, also all diejenigen, die die Volks-und Frauenverteidigungseinheiten unterstützt und für ihren mutigen Kampf gegen den IS gelobt, die auch die YPG und YPJ mit Waffen unterstützt hatten. Sie haben sich komplett zurückgezogen und damit der Türkei die Möglichkeit gegeben, diesen Angriff überhaupt durchführen zu können. Hätten die USA und Rußland diesen Angriff nicht zugelassen, weil diese Region die friedlichste, ruhigste und sicherste ist, nicht nur für die Bevölkerung Afrins, sondern für alle Binnenflüchtlinge, dann wäre es nie zu diesem Ausmaß des Krieges gegen die Bevölkerung in Afrin gekommen. In diesem Zusammenhang muß man die Haltung der USA und der Russischen Föderation kritisieren und sie mit dafür verantwortlich machen, daß sie nicht rechtzeitig und richtig agiert haben.

SB: Erdogan hat angekündigt, daß er nicht nur Afrin und Manbidsch angreifen will, sondern die gesamten kurdischen Gebiete in Nordsyrien. Er hat zudem erklärt, daß er auch im Nordirak einmarschieren werde. Hat dies zu einer Solidarisierung anderer kurdischer Regionen geführt, daß sie nun sagen, wir müssen das jetzt alle zusammen ausfechten?

YPK: Es gibt aus allen Richtungen, da, wo es möglich ist, wo die Menschen sich noch trauen und die Masse nicht im Gefängnis sitzt wie zum Beispiel in der Türkei, im Norden des Irak, also in Südkurdistan, und in ganz Rojava, sprich Westkurdistan, sehr starke Solidaritätsbekundungen. Darin kommt klar und deutlich zum Ausdruck: Wir werden es nicht zulassen, daß die Türkei auch in anderen Regionen diesen Krieg durchführt. Wir werden uns solidarisch zeigen und unsere Region verteidigen und schützen. Viele Organisationen aus Südkurdistan, Zivilorganisationen, Nichtregierungsorganisationen, andere Parteien wie zum Beispiel die Goran-Bewegung haben sich solidarisch gezeigt und immer wieder gesagt, wir stehen hinter den YPG und YPJ und werden es auch nicht zulassen, daß andere Besatzer Kurdistan einnehmen können.

SB: In Hannover wird heute ein deutliches Zeichen im Interesse aller Kurdinnen und Kurden gesetzt. Was wäre die Zielrichtung, was sollte und könnte die deutsche Bevölkerung zur Unterstützung machen?

YPK: Wir sagen grundsätzlich immer, aber insbesondere nach dem Angriff auf Afrin, daß die deutsche Bevölkerung die Haltung der Bundesregierung kritisieren und das in aller Deutlichkeit zur Sprache bringen muß. Sie soll vor allem dafür sorgen, daß der NATO-Partner Türkei diesen Krieg beendet, weil die deutsche Bevölkerung auch mitbetroffen ist. Sollte der türkische Staat erfolgreich sein, bedeutet das gleichzeitig, daß der Islamische Staat aus diesem Verbrechen gestärkt hervorgeht. Wir möchten mit unserem Newroz-Fest in Hannover ein Zeichen für Frieden, Freiheit, Menschlichkeit und Frauenrechte setzten, das international unterstützt werden muß. Wir alle stehen in der Verantwortung und sind verpflichtet, für ein Ende dieses Krieges zu sorgen, der sich nicht nur gegen die Kurden, sondern die Menschlichkeit richtet. Und Menschlichkeit schließt alle Menschen ein.

Wir möchten eine Botschaft an die deutsche Bevölkerung, an die deutschen Politikerinnen und Politiker, an die Institutionen und die NGOs übermitteln, an alle ergeht unser Aufruf: Seid solidarisch mit der YPG, mit der YPJ, und wenn ihr das nicht wollt, seid solidarisch mit den Menschen, mit der Bevölkerung vor Ort. Seid solidarisch mit allen Glaubens- und Religionsgemeinschaften in der Region, die Vielfalt und die sicherste Region muß verteidigt und geschützt werden. Sie liegt zwar Tausende Kilometer entfernt, aber es betrifft uns mehr denn je, vor allem auch, weil eine große Anzahl von geflüchteten Kurdinnen und Kurden hier in Deutschland lebt. Ich würde sagen, fast zwei Millionen Menschen mit kurdischem Hintergrund leben hier und sind ein Teil dieser Gesellschaft. Die Unmenschlichkeit des IS und des türkischen Staates kennt keine Grenzen, deswegen darf auch unsere Solidarität keine Grenzen kennen - keine staatlichen Grenzen und keine Bevölkerungsgrenzen. Das heißt nicht, daß wir Chaos stiften wollen, ganz im Gegenteil, wir rufen zu Solidarität im Sinne von Geschwisterlichkeit und Demokratie auf: Laßt uns auf die Straße gehen, laßt uns unsere Stimme erheben! In dieser Zeit, in der alle stumm bleiben, müssen wir lauter denn je das Sprachrohr der Bevölkerung in Afrin sein.

SB: Yilmaz, vielen Dank für dieses Gespräch.


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25. März 2018


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