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INTERVIEW/439: Manifest für Gegenkultur - nicht objekt-, sondern subjektbegründet ...    Moshe Zuckermann im Gespräch (SB)


In seinem Vortrag zur Freiheit von Kunst und Kultur in der Warengesellschaft sprach der Soziologe und Kunsttheoretiker Moshe Zuckermann am 8. Juni auf der Künstlerkonferenz von Melodie & Rhythmus in Berlin-Neukölln [1] über die politische Verantwortung von Kunstschaffenden im Verhältnis zu den sozialen und materiellen Bedingungen, die ihre Handlungsmöglichkeiten einschränken. Anschließend fand der von vielen BesucherInnen der Konferenz umlagerte Gast aus Israel Zeit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.


Im Gespräch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Die im Bundestag mehrheitlich bekräftigte Aussage, der Boykottaufruf der zivilgesellschaftlichen Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) erinnere an die antisemitischen Positionen des NS-Regimes, nimmt einen Vergleich in Anspruch, in dem völlig unterschiedliche Machtverhältnisse in eins gesetzt werden. Was läßt sich zu der auch anderweitig in Anspruch genommenen Praxis sagen, aus der Gleichsetzung politisch, sozial und historisch ganz verschieden gelagerter Auseinandersetzungen politischen Nutzen zu ziehen?

Moshe Zuckermann (MZ): Der Vergleich ist normalerweise dazu da, um entweder eine Identität oder einen Unterschied aufzuzeigen. Es müssen zu diesem Zweck Kategorien sein, die vergleichbar sind, die kompatibel sind. Wenn man 1933 den Satz sagte "Kauf nicht bei Juden" und BDS heute sagt "Kauft nicht in Israel" - und in Israel wohnen Juden - um daraus zu machen: "Kauft nicht bei Juden", dann wird der Kontext ausgeblendet, nämlich die Tatsache, daß die Juden im Jahre 1933 nichts verbrochen hatten, wofür man sie boykottierte, während die Israelis eine ganze Menge verbrochen haben, wofür sie boykottiert gehören, jedenfalls nach den Gesichtspunkten derjenigen, die zum Boykott aufrufen. Von daher ist der Vergleich nicht nur unzulässig, er ist auch zutiefst unmoralisch, weil Täter und Opfer, die sich überhaupt nicht auf derselben Ebene befinden, dadurch auf eine Ebene gestellt werden. Zweimal sind die Juden die Opfer, und zweimal sind diejenigen, die die Juden opfern, die Täter.

Das heißt, 1933 waren die Nazis die Täter, die gegen die Juden vorgegangen waren, und heute sind es die "schlimmen" Palästinenser, die zu BDS aufrufen. In beiden Fällen sind die Juden die Opfer. Jedoch: Juden sind nicht die Opfer von Palästinensern, sondern Palästinenser sind die Opfer von Juden, genauer, von jüdischen Israelis. Und von daher ist dieser Vergleich absolut unzulässig! Mein Argument in bezug auf BDS befindet sich auf einer anderen Ebene. Wäre die BDS-Kampagne so umfassend, wie man sie beispielsweise gegen die Apartheid in Südafrika in den 60er, 70er und 80er Jahren weltweit organisieren konnte, würde ich sagen, ja, zwingt ruhig die Israelis in eine Notlage, damit wir endlich mit den Friedensverhandlungen vorankommen. An dieser Stelle wäre BDS ein Mittel, um die Friedensinitiative in Richtung auf eine politische Lösung anzustoßen.

Aber BDS findet keine weltweit umfassende Resonanz, sondern nur eine partikuläre, und dies zeigt die idiotischen Zustände. Als zu BDS anfangs aufgerufen wurde, war ich noch der Leiter des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. Als dazu aufgerufen wurde, israelische Hochschulen zu boykottieren, haben meinen linken Freunde und linken Kollegen aus Europa, aus Deutschland mich in Israel boykottiert, weil ich Israeli bin. Jedoch Rechte, Konservative und Liberale hatten überhaupt kein Problem, nach Israel zu kommen. Das heißt, die Benachteiligten bei der ganzen Angelegenheit waren linke Israelis, die jetzt boykottiert wurden, ohne daß dies irgendeinen nennenswerten Effekt gezeitigt hätte.

Es geht darüberhinaus aber auch um ein anderes Moment: Man ruft zum Boykott von Kulturveranstaltungen und von akademischen Veranstaltungen auf. Ich muß jedoch ganz ehrlich sagen, wenn es in Israel irgendwelche Sphären gibt, die noch emanzipativ tätig sind, sind es gerade die Universität und die Kunstszene. Die zu boykottieren ist schon wieder ein Schuß ins eigene Bein. Dennoch sage ich weiterhin, daß Boykott durchaus eine legitime politische Handlung von Menschen ist, die Unterdrückung und Repression ausgesetzt sind. Dies ist für meine Begriffe ein vollkommen legitimer Aufruf der Palästinenser. Warum ist er nicht antisemitisch? Weil sie nicht gegen die Juden aufrufen, sondern gegen die Israelis - und es gibt gute Gründe, warum Palästinenser zum Boykott gegen die Israelis aufrufen, auch wenn der Erfolg gering ist. Es sind eher Mückenstiche, so wie auch Terrorhandlungen nur Mückenstiche sind. Das hängt damit zusammen, daß die Weltkonstellation heute eine ganz andere ist als im Falle Südafrikas in den 60er, 70er und 80er Jahren. Solange ein Mann wie Trump US-Präsident ist, solange amerikanische Präsidenten auf die jüdische Stimme hören müssen, um erfolgreiche Wahlkämpfe zu machen, solange Deutschland das Sagen hat in der EU, wird es nie zu einer konsolidierten Aktion gegen Israel kommen, um nicht davon zu sprechen, was die Lobbys in ganz anderen Bereichen unterstützen.


Auf der Bühne des Veranstaltungsortes Heimathafen Neukölln - Foto: © 2019 by Schattenblick

Im Gespräch mit Esther Bejarano auf der Künstlerkonferenz
Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Um noch einmal das Thema des Vergleiches aufzugreifen - der bei Marx elementar in Frage gestellte Tausch beruht auf vermeintlichen Äquivalenten, die zu bestimmen der Abstraktion bedarf. Menschen hingegen sind zu 100 Prozent einzigartig, auch wenn es viele Ähnlichkeiten gibt. Was ist für dich der tiefere Sinn und Zweck dessen, zusammenzufassend zu kategorisieren und dann zu vergleichen und gegeneinander zu halten?

MZ: Weil wir sonst nicht fähig sind, in irgendeiner Weise unsere Vernunftkategorien einzusetzen. Das heißt, wir können nicht jedesmal namentlich aufführen, wer alles auf welche Weise auf die Straße geht, sondern man sagt: Menschen gehen auf die Straße. Das heißt, es gibt eine abstrakte Kategorie, in der die Individuen subsumiert werden. Das ist aus sprachökonomischen Gründen nicht anders möglich. Wir haben die Neigung in Gruppen zusammenzufassen. Ein schönes Beispiel ist die Entwicklung der Religionen. Beim Animismus ist jeder Stengel, der im Wind zittert, animiert, also ist irgendein Geist in dem Stengel. Bis man eines Tages auf den Polytheismus kam - es gibt die Stengel, es gibt die Felsen, es gibt die Wolken, es gibt die Bäume, und eines Tages gibt es einen Gott der Felsen, einen Gott der Bäume usw. Das heißt, ich habe Kategorien geschaffen. Bis eines Tages noch eine weitere Abstraktion kreiert wurde, der Monotheismus: Es gibt einen einzigen Gott, von dem sich alles ableitet. Das heißt also, unsere Neigung zu abstrahieren macht einen Teil unserer Qualität als Menschen aus. Menschen haben natürlich auf der einen Seite die Eigenschaft, über Dinge abstrakt denken zu können. Aber auf der anderen Seite wirkt gerade durch die Abstraktion das Individuelle total entindividualisierend. Wir sprachen gerade über Auschwitz - wenn Adorno sagt, in Auschwitz starb nicht mehr das Individuum, sondern das Exemplar, dann heißt es ja genau, daß dort nicht der individuelle Jude getötet wurde, sondern der Jude als abstrakte Kategorie, die sogar numeriert ist.

Dasselbe gilt nun für Marx, der das Fließband noch nicht kannte. Dem Unternehmer ist vollkommen egal, wer am Fließband steht, ob es Hans oder Lottchen, Roberto und Bianca ist, es ist vollkommen egal. Die Arbeit muß in der Zeit zwischen acht und vier Uhr geleistet werden, und wer am Fließband steht, ist austauschbar, ist fungibel. Das ist genau diese Abstraktion, von der auch Marx redet, daß im Tausch, wenn es ein Tausch ist, der nicht wirklich eine Äquivalenz darstellt, die in irgendeiner Weise noch das Individuelle in seinem Wesen erfaßt, das Individuum mehr oder weniger zu Tode kommt.

Apropos Tod - nach der verlustreichen Schlacht bei Preußisch Eylau, die weder für Franzosen, noch Engländer, noch Preußen in irgendeiner Weise zu einer Entscheidung führte, soll Napoleon, als er von der Höhe seines Pferdes auf die 20.000 Gefallenen blickte, gesagt haben: In einer Nacht in Paris produzieren wir das aufs Neue. Er sieht nicht den Vater, nicht den Sohn, nicht den Ehemann, nicht den Onkel - was er sieht, sind Leute, die in Paris reproduzierbar sind, abstrakt. Das ist ein Grundzug der Moderne. Man kann sagen, schon immer wurde abstrahiert, man redete von Volk, man redet von Nation usw. - der Unterschied zu vormodernen Zeiten ist der Anspruch der Moderne, gerade das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen und zum Ziel zu erklären. Das ist das, was Kant meint, wenn er sagt, jeder Mensch soll nur als Zweck in sich selbst und nicht als Mittel zum Zweck betrachtet werden. Und genau das wird ja durch die moderne Massengesellschaft im Bereich des Massenkonsums, im Bereich der Massenproduktion, im Bereich des Massensterbens usw. unterminiert. Das heißt, man guckt nicht mehr auf das Individuum, man guckt nur noch auf die Abstraktion des Individuums.


Moshe Zuckermann mit Mikro - Foto: © 2019 by Schattenblick

Unerschrocken zur Sache in der Tradition der Kritischen Theorie
Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: In der Linken der Bundesrepublik wird seit längerem über das Verhältnis von Identitätspolitik und Klassenherrschaft debattiert, und zwar häufig unter der Behauptung, daß die jeweils darum geführten Kämpfe einander ausschlössen. Ist es deiner Ansicht nach wirklich so irrelevant, wenn Menschen unter geschlechtlichen Normierungen und patriarchaler Unterdrückung leiden, daß man diese Probleme als gegenüber der Überwindung des Kapitalverhältnisses sekundär betrachten sollte?

MZ: Ich bin nicht der Meinung, daß das irrelevant ist. Ganz im Gegenteil würde ich eine ganze Menge Koordinaten anführen, beispielsweise die Gender-Koordinaten, Sexualverhalten, die ethnischen Koordinaten, religiöse Koordinaten usw. Zur Frage, ob diese Koordinaten sekundär sind oder nicht, ist zu sagen, daß sie nicht sekundär oder irrelevant für die Opfer diskriminierender Handlungen oder eines sexuellen Übergriffs sind. Marcuse sagte einmal: Ich weiß, daß, wenn der Kapitalismus einstürzt, mein Problem mit meiner Freundin damit nicht gelöst wäre, aber laßt uns erst einmal mit dem Einsturz des Kapitalismus beginnen. Deshalb würde ich eher fragen, was Menschen heute in ihren Grundbedürfnissen ausmacht.

Es geht um die ungleiche Ressourcenverteilung in der Welt und die Tatsache, daß durch das Kapital eine Polarisierung stattfindet, da der Reichtum der Welt von einer kleinen Minderheit kontrolliert wird. Das hat unter anderem zur Folge, daß in bestimmten Regionen der Welt im Jahre 2019 noch immer Millionen Menschen alljährlich an Hunger sterben, obwohl es nach dem Stand der Produktionsmittel überhaupt keinen Grund geben müßte, daß ein Mensch heute noch an Hunger stirbt. Das ist die Art von Priorität, die man setzen kann. Wie ich schon vorhin gesagt habe, sexuelle Übergriffe sind immer Formen von Machtausübung. Wenn es zu solchen Übergriffen kommt, dann rede ich nicht darüber, daß der Kapitalismus erst zusammenbrechen muß, dieses Problem muß sofort angegangen und in den Griff genommen werden.

Übrigens muß ich sagen, daß in dieser Hinsicht auch eine ganze Menge geleistet worden ist. Ich möchte dir aber ein Beispiel geben, wo ich das in der Tat für ein Problem halte. Wir haben jetzt Wahlen in Israel gehabt. Vor den Wahlen wurden Leute aus sogenannten Entwicklungstädten im Süden, von der Infrastruktur und von den Arbeitsmöglichkeiten her vernachlässigte Gegenden, interviewt. Erst kam ein Mann zu Wort, später auch eine Frau, die darüber klagten, daß sie keine Arbeit haben. Und wenn sie Arbeit bekommen, sei es minderwertige Arbeit. Und die Jugend ziehe aus der Ortschaft weg und so weiter - sie haben also wirklich eine desaströse soziale Situation geschildert. Und dann fragte der Reporter: Wen wollt ihr denn wählen? Darauf haben sie geantwortet: Bibi, also Netanjahu. Da stellt sich die Frage, warum? Und jetzt komme ich auf deine Frage zurück.

Der Journalist fragte in Stadtvierteln, in denen zum großen Teil orientalische Einwanderer aus den 50er Jahren wohnen, die in ihrem Selbstverständnis von den aschkenasischen Juden, die damals die Hegemonie hatten, entrechtet und diskriminiert worden sind. Diese Leute reden heute noch von der Mapai-Partei, das war die damalige Arbeitspartei, die sie nie wählen würden, selbst wenn sie sterben müßten. Das ist eine Folge des ethnischen Ressentiments, teilweise aber auch einer vollkommen verdrehten Vorstellung vom Zustandekommen ihrer Lebensbedingungen und ihrer Probleme. Wenn man an dieser Stelle die Ethnie als das bessere Argument für deren Lebensverhältnisse anbringt, dann würde ich sagen, daß es darum nicht gehen kann. Es geht um sozioökonomische Faktoren, denn diese Verhältnisse sind nicht aus ethnischen Gründen entstanden.

SB: Moshe, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:


[1] BERICHT/338: Manifest für Gegenkultur - Gefahren und Chancen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0338.html


1. Juli 2019


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