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ARBEIT/601: Nichtstaatliche Regulierung von Arbeitsbedingungen nach der Rana-Plaza-Katastrophe (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 149/September 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Vielleicht ein Meilenstein

Nichtstaatliche Regulierung von Arbeitsbedingungen nach der Rana-Plaza-Katastrophe

von Axel Schröder


Kurz gefasst: Der Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes 2013 mit seinen über 3.000 Opfern führte zu einem außergewöhnlichen internationalen Übereinkommen zwischen Privatwirtschaft, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft. Die darin vereinbarten Verfahrensweisen übersteigen bisherige Ansätze privater, nichtstaatlicher Regulierung von Arbeit bei weitem. Sie erkennen an, dass die Katastrophe nicht nur auf Regulierungsdefizite am Standort Bangladesch zurückzuführen ist, sondern auch auf das preisgetriebene System der Bekleidungsindustrie. Mittlerweile können erste Auswirkungen dieser Verfahren beobachtet werden, das eigentliche Ziel der Gebäudesicherheit ist aber noch lange nicht erreicht.


Am Abend des 23. April 2013 krachte es im dritten der neun Stockwerke des Rana Plaza in Sabhar, Bangladesch. Große Risse zogen sich durch Wände und Pfeiler. Die Beschäftigten der Textilfabriken und Geschäfte im Gebäude liefen panisch auf die Straße, Statiker und Polizei erklärten den Bau als nicht mehr sicher. Am nächsten Morgen wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter unter Androhung von Kündigung wieder an ihre Nähmaschinen gezwungen. Das Gebäude kollabierte und begrub mehr als 3.000 Menschen unter sich.

Der Einsturz des Rana Plaza und die öffentliche und mediale Empörung über die Vermeidbarkeit eines solchen Desasters führten zu einer Vereinbarung, die bislang als Meilenstein der privaten, nichtstaatlichen Regulierung von Arbeitsbedingungen in der globalen Bekleidungsindustrie betrachtet wird. Der Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh zwischen Gewerkschaften, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) versucht nicht nur, Regeln für die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz zu schaffen, sondern auch die gewerkschaftliche Organisierung der Textilbeschäftigten in Bangladesch zu fördern. Was ist das Besondere dieser Vereinbarung und welche Zwischenbilanz kann gezogen werden?


Die Bekleidungsindustrie - global verstreut und prekär

Es ist kein Zufall, dass sich der Unfall und die Vereinbarung in der Textilindustrie begaben, die seit langem Vorreiter der Globalisierung ist. Ihre Produktionsstandorte konzentrieren sich heute mehrheitlich in Entwicklungs- und Schwellenländern. Während die Schwergewichte der Textilproduktion China und Türkei ihre Bekleidungsindustrie langsam in Richtung Qualitäts- und Vollstufenproduktion - vom Rohstoff bis zum Kleidungsstück - aufwerten, übernehmen die Länder Südostasiens und Osteuropas noch weitgehend die Auftragsarbeit in der Konfektion, also das Schneiden und Nähen von Textilien zum Kleidungsstück. Bangladesch bedient sich beider Strategien und ist mittlerweile das Herz der weltweiten Fast Fashion, die mit dem Leitspruch "Vom Laufsteg in den Laden" Produktions- und Lieferzeiten von Großbestellungen von gerade mal zwei bis vier Wochen realisiert.

Charakteristisch für die Textilindustrie ist die Trennung zwischen den Modemarken und den Produktionsunternehmen, was sich am Beispiel H&M illustrieren lässt. Das Unternehmen besitzt keine eigenen Produktionsstätten, sondern verfügt über ein Netz von über 800 Zulieferern mit fast 2.000 Fabriken in Asien, Osteuropa und Afrika. In der Wertschöpfungskettentheorie wird dies als ein buyer-driven model beschrieben: Durch die Marke und den Kontakt zum Kunden kontrolliert das Modehaus den größeren Teil des produzierten Wertes, während die Zulieferer untereinander in einer intensiven Konkurrenz um möglichst niedrige Kosten stecken und sich durch die reine Auftragsarbeit in einem deutlichen Abhängigkeitsverhältnis von den Modehäusern befinden.

Die globale Konkurrenz zwischen den Zulieferern hat erhebliche soziale und Umweltkosten. Das Schneiden und Nähen bleibt eine weitgehend manuelle Tätigkeit; die Löhne der Beschäftigten werden zum ausschlaggebenden Faktor in der Produktion. Gesetzlich reguliertes Entgelt auf Mindestlohnniveau ist in den meisten Fabriken üblich, aber nicht hinreichend - und wird häufig unterlaufen. Regelmäßige überlange tägliche Arbeitszeiten von 10 bis 16 Stunden sind normal, ebenso prekäre Beschäftigungsformen wie Leih-, informelle oder Zwangsarbeit.

Gerade in Entwicklungsländern versuchen Produzenten zudem, Kostenvorteile durch fehlende Umweltauflagen zu erreichen oder diese zu umgehen. Die Stoffherstellung und -veredelung wendet über 12.000 verschiedene Chemikalien an, viele davon toxisch oder krebserregend. Fehlender persönlicher Arbeitsschutz wie Mundschutz und Handschuhe gegen Chemikalieneinwirkung, außerdem mangelnde Belüftung sowie fehlende bauliche und Feuersicherheit der Gebäude - vor allem in Bangladesch - gefährden die Gesundheit der Beschäftigten. Diesen wird verwehrt, sich an der Lösung dieser Probleme zu beteiligen; der Aufbau gewerkschaftlicher Interessenvertretungen und das Führen von Kollektivverhandlungen in den Betrieben wird verboten oder behindert.

Weder Gewerkschaften noch NGOs konnten die Beschäftigungsbedingungen in der Textilindustrie bisher signifikant verändern. Aus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der Textilindustrie ignorieren die staatlichen Akteure zumeist die Situation. Vor diesem Hintergrund haben sich in den letzten 15 Jahren neue Instrumente zur Regulierung von Arbeit herausgebildet. Die in der Forschung als Transnational Private Labor Regulation bekannten Systeme umfassen beispielsweise Corporate Social Responsibility-Programme (CSR) von Einzelfirmen oder Textilhandelsverbänden, capacity building (etwa: Hilfe zur Selbsthilfe) durch lokale und internationale NGOs, private und teilstaatliche Zertifizierungs- und Siegelinitiativen oder Multi-Stakeholderinitiativen als Aushandlungsforen privatwirtschaftlicher, zivilgesellschaftlicher und/oder staatlicher Akteure. Ihren funktionalen Kern haben die meisten Instrumente in der freiwilligen Setzung von Verhaltenskodizes und in der Überprüfung (Monitoring/Audit) ihrer Umsetzung (compliance) in der Fabrik. Die Systeme basieren auf der Annahme, dass Regulierungsdefizite in den Herstellerländern und in den Fabriken die Grundursache der genannten Beschäftigungsbedingungen sind.

Diese Grundannahme der Transnational Private Labor Regulation ist durchaus umstritten. Sie übersieht, dass die schlechten Beschäftigungsbedingungen nicht nur fehlerhafter Gesetzgebung und Regierungspolitik zugeschrieben werden können. Sie sind vielmehr Ausdruck des Beschaffungssystems in der Textilindustrie, das durch starken Preisdruck und Machtasymmetrien zwischen Modehäusern und Produzenten gekennzeichnet ist. Nicht zuletzt wird auch kritisiert, dass die meisten Formen der Private Labor Regulation einen top-down-Charakter haben und auf die Einbindung der Beschäftigten in den Fabriken verzichten. So liegt denn auch ihr Schwerpunkt mehr auf extern kontrollierbaren Beschäftigungsbedingungen wie Lohn, Arbeitszeit, Sicherheits- und Gesundheitsaspekten als auf Empowerment-Strategien wie Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen.


Eine bisher ungekannte Verbindlichkeit

Nur drei Wochen nach dem Einsturz von Rana Plaza wurde der Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh (im Folgenden Accord) geschlossen. Die Bedingungen für dieses schnelle Handeln sind vielfältig: die besondere öffentliche Aufmerksamkeit für den Einsturz, das damit offensichtlich gewordene Versagen der Regierung in Sachen Gebäudesicherheit und die schreckhaften Unschuldsbekundungen westlicher Modehäuser. Ca. 200 vor allem europäische Marken- und Handelsunternehmen und ihre 1.500 Herstellungsbetriebe in Bangladesch verpflichteten sich gegenüber zwei globalen Gewerkschaftsverbänden und sieben Textilgewerkschaftsverbänden aus Bangladesch zur Kontrolle und Sanierung der Fabriken, sodass gängige Standards des baulichen Arbeitsschutzes eingehalten werden können.

Die ILO und vier internationale Arbeitsrechtsorganisationen fungieren als unabhängige Beobachter. Das Arbeitsministerium und andere staatliche Stellen kooperieren mit dem Accord. Im Rahmen einer Private Labor Regulation ist eine solche Akteursvielfalt weltweit bislang unbekannt. Die teilnehmenden Fabriken umfassen die Hälfte der Beschäftigten der nationalen Bekleidungsindustrie. Dennoch bleibt der Accord im Kern eine thematisch sehr beschränkte Vereinbarung. Wegweisend an diesem Instrument ist denn auch nicht dessen möglicher Beitrag zur Gebäudesicherheit allein, wesentlich sind vielmehr die festgelegten Verfahren.

Aus Sicht der betroffenen Beschäftigten fehlte es den bisherigen privaten Instrumenten des CSR-Regimes stets an Rechtsverbindlichkeit. Die Umsetzung der Inhalte des Accord ist für die Unterzeichner über Ländergrenzen hinaus aber erstmals einklagbar, also auch für die teilnehmenden Gewerkschaften und die Beschäftigten der Fabriken. Die Fabriken werden durch Ingenieure des Accord und des Arbeitsministeriums auf ihren Zustand hin überprüft, anschließend stellen die Verantwortlichen des Accord, der Fabrik und des Auftraggebers (also der ausländischen Modefirmen) für jedes Gebäude einen Ablaufplan zur Sanierung auf. Diese Informationen sind ebenso wie alle anderen Dokumente und Protokolle öffentlich zugänglich.

Eine Besonderheit des Accord ist die besondere finanzielle Verantwortung der westlichen Auftraggeber aus den zumeist europäischen Ländern. Im Falle einer Überprüfung und Sanierung einer Fabrik sind deren Auftraggeber dazu verpflichtet, die bestehenden gemeinsamen Handelsverbindungen für zwei Jahre aufrechtzuerhalten und den Beschäftigten die Fortzahlung ihrer Löhne für ein halbes Jahr zu sichern, sollte die Fabrik zur Sanierung geschlossen werden müssen. Sie sind außerdem dazu verpflichtet, die Sanierungskosten ganz oder anteilig zu übernehmen. Damit erkennen die Auftraggeber ihre Verantwortung für die wirtschaftliche Lage der Fabriken an, was bedeutet, dass deren Situation nicht allein einem staatlichen Regulierungsdefizit zugeschrieben werden kann.

Eine besondere Innovation ist schließlich die Verpflichtung der Unterzeichner, in jeder Accord-Fabrik Arbeitsschutzkomitees einzusetzen, die durch die jeweilige Belegschaft demokratisch gewählt werden oder aus Vertretern und Vertreterinnen der Betriebsgewerkschaften bestehen sollen. Die Komitees demokratisieren den Prozess der Gebäude-Inspektion, der dauerhaften Überwachung der Sicherheit und der Umsetzung von Arbeitsschutz- und Gesundheitsmaßnahmen. Neben Zugang zu vertraulichen Beschwerdemechanismen des Accord erhalten sie einen rechtlichen Schutz gegen Diskriminierung aufgrund ihrer Funktion, zum Beispiel Kündigung. Allen Beschäftigten wird das Recht, "unsichere Arbeit" abzulehnen, zugesprochen. Mit diesen Komitees ist ein wichtiger Grundstein für die Interessenvertretung von Beschäftigten gelegt, der den Weg zur Gründung tatsächlicher Gewerkschaften in den 1.500 Fabriken ebnen kann.


Zwei Jahre danach: erste Resultate

Über zwei Jahre nach der Gründung des Accord lassen sich erste Ergebnisse beobachten. Bisher wurden fast alle Fabriken überprüft und entsprechende Sanierungspläne aufgestellt, aber die allerwenigsten Hersteller haben ihre Gebäude vollständig modernisiert. In einigen Fällen verweigern Hersteller und Auftraggeber die Kooperation komplett. Es bleibt abzuwarten, wie die Parteien des Accord mit dieser Situation umgehen, da keine Sanktionen bei Verstößen festgeschrieben sind. Die Gründung zog außerdem ein nichtpartizipatives und rechtlich unverbindliches Konkurrenzabkommen amerikanischer Firmen nach sich, die Alliance for Bangladesh Worker Safety.

Die wichtigste Entwicklung ist aber das starke Wachstum von Gewerkschaftsgründungen in Textilbetrieben. So wuchs deren Anzahl laut ILO von 132 am Ende des Jahres 2012 auf 437 im April 2015. Dies ist sicherlich auf die Vorschrift zur Gründung der Arbeitsschutzkomitees zurückzuführen und wurde durch eine allgemeine Arbeitsrechtsreform unterstützt, die Bangladesch nach dem Unfall unter dem Druck großer Handelspartner wie den USA durchgeführt hat. Der Accord weist damit über die Frage der Gebäudesicherheit in Bangladesch hinaus und zeigt mögliche Ansätze zur Stärkung der Arbeitsstandards in Niedriglohnländern. In der Forschung wird er dementsprechend als Leuchtturmprojekt gesehen und teilweise in einer Linie mit den Jobbers Agreements der 1970er Jahre gesehen, mit denen sich Bekleidungsunternehmen in den USA verpflichteten, nur gewerkschaftlich organisierte Auftragsunternehmen zu beschäftigen. Dass aber, vor allen privaten Initiativen, der Wille zu staatlichen Regulierungen von Industrie und Arbeitsbedingungen der Kernfaktor langfristiger Erfolge ist, zeigt die Aussage des Finanzministers von Bangladesch: Er behauptete im Juni 2015 vor den Arbeitgeberverbänden des Landes, das Vertrauen der Auftraggeber in die lokalen Strukturen sei durch den Accord und die Reformen wiederhergestellt, nun könne man zum business as usual zurückkehren.


Axel Schröder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Projektgruppe Globalisierung, Arbeit und Produktion. Er befasst sich mit politischer Ökonomie, Wertschöpfungsketten, industriellen Beziehungen und Zivilgesellschaft in der Automobil- und Bekleidungsindustrie.
axel.schroeder@wzb.eu


Literatur

Anner, Mark / Bair, Jennifer / Blasi, Jeremy: "Toward Joint Liability in Global Supply Chains: Addressing the Root Causes of Labor Violations in International Subcontracting Networks". In: Comparative Labor Law & Policy Journal, 2013, Vol. 35, No. 1, pp.1-43.

Gereffi, Gary / Stacey, Frederick: "The Global Apparel Value Chain, Trade, and the Crisis: Challenges and Opportunities for Developing Countries". In: Olivier Cattaneo / Gary Gereffi / Cornelia Staritz (Eds.): Global Value Chains in a Postcrisis World. A Development Perspective. Washington, D.C.: The World Bank 2010, pp. 157-208.

Kolben, Kevin (2011): "Transnational Labor Regulation and the Limits of Governance", Theoretical Inquiries in Law, Vol. 12, No. 2, pp. 403-437.

Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh. Online: http://www.bangladeshaccord. org (retrieval date 06.08.2015).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 149, September 2015, Seite 28-31
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2015

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