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ARBEIT/625: Informalität als globales Phänomen (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 143, 1/18

Informalität als globales Phänomen
Was ist informelle Arbeit, und wer leistet sie?

von Johanna Sittel


Weltweit arbeiten schätzungsweise 60% der Erwerbstätigen außerhalb geregelter und gesicherter Arbeitsverhältnisse - also im Schatten der formellen Ökonomie. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind davon überall, besonders aber im globalen Süden betroffen. Wer gesellschaftlich diskriminiert ist und wessen Beruf wenig Prestige besitzt, hat weniger Chancen auf formalisierte und sicherere Arbeit. Das sind weltweit vor allem Frauen und Migrant_innen.


Was ist informelle Arbeit?

Informelle Arbeit ist ein sehr vielschichtiges Phänomen, dem unterschiedliche wissenschaftliche Konzepte und Interpretationen zugrunde liegen(1). Der Begriff Informalität geht zurück auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus den 1970er Jahren, als in Regionen der damals sogenannten "Dritten Welt" der informelle Sektor als wichtiger Bestandteil der dortigen Ökonomien entdeckt wurde. Der informelle Sektor umfasst die Aktivitäten, die jenseits formeller Produktion stattfinden (z. B. ambulanter Handel, Transport-, Reparatur- oder sonstige Dienstleistungen außerhalb regulärer Firmen).

Die ersten Studien zum Thema gingen von einer dualen Ökonomie aus und betrachteten den informellen Sektor demnach als Ausprägung der traditionalen Wirtschaft, die in den damals sogenannten "Entwicklungsländern" parallel zur modernen (kapitalistischen) Wirtschaft existiere, und machten den informellen Sektor damit zum Indikator für "Unterentwicklung". Inzwischen wurde diese Lesart von Informalität mehrfach widerlegt. Viele Autor_innen betonen ganz im Gegenteil die enge Verzahnung informeller Tätigkeiten mit der (globalen) Gesamtwirtschaft und sprechen ihr zum Teil sogar eine funktionale Bedeutung zu. In der Regel handelt es sich bei informeller Arbeit um nicht (vor dem Fiskus) registrierte lohnabhängige oder selbstständige Tätigkeiten, die meist keine vertragliche Grundlage haben. Sie ist arbeitsrechtlich nicht reguliert und bietet den Betroffenen nicht die Schutzmechanismen, die normalerweise für Arbeitsverhältnisse gelten (z. B. Sozialversicherung, Unfallschutz). Die internationale Arbeitsorganisation (ILO) - als maßgebende Instanz der statistischen Messung von Informalität - weist heute darauf hin, dass informelle Beschäftigung auch in Firmen der formellen Wirtschaft und nicht nur außerhalb sowie in Haushalten existieren kann. Zu den Informellen zählen deshalb neben solchen informell Beschäftigten auch Arbeiter_innen auf eigene Rechnung, informelle Arbeitgeber_innen, mitarbeitende Familienmitglieder und Genossenschaftsmitglieder.

In der Regel verweist Informalität auf prekäre, also unsichere und instabile Arbeitsbedingungen. Die Betroffenen sind sozial und ökonomisch besonders verwundbar und haben wenig Chancen auf gewerkschaftliche Repräsentation und Mitbestimmung. Informelle Arbeit befindet sich zudem häufig am Rande der Legalität und überschneidet sich mit formeller Erwerbsarbeit, unbezahlter Haus- und Subsistenzarbeit. Diese Grauzonen der Arbeit, können Statistiken kaum erfassen.


Wer leistet informelle Arbeit?

Weltweit arbeiten ca. 60% der außerhalb der Landwirtschaft Erwerbstätigen informell, wobei die Dunkelziffer weit höher sein dürfte. Besonders hoch ist der Anteil in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, hier sind es teilweise weit über zwei Drittel.

Neben Migrant_innen und ethnischen Minderheiten gehen Frauen oft Tätigkeiten nach, die stark von Informalität betroffen sind, z. B. Sorgearbeit oder Reinigungsdienstleistungen. Die höhere soziale und ökonomische Verwundbarkeit von Frauen spiegelt sich jedoch nicht immer statistisch wider, denn es sind auch die Gesamterwerbsbeteiligung von Frauen und ihre jeweiligen Arbeitsmarktchancen in den einzelnen Regionen zu berücksichtigen. Vor allem in Ländern des südlichen Afrika sowie Lateinamerikas und der Karibik ist der Anteil weiblicher informell Beschäftigter höher.

Weitere Faktoren für informelle Arbeit stellen der Bildungsgrad und die Klassenlage dar. Geringer Qualifizierte gelten als besondere Risikogruppe, genauso wie Menschen aus armen Bevölkerungsschichten. Auch junge Leute - hier ebenfalls vor allem Frauen - sind tendenziell stärker von Informalität betroffen. Beispielsweise arbeiten in Mexiko 60% und in Indien 80% der jungen Erwerbstätigen informell.

Informalität hat viele verschiedene Gesichter - es können jene von Straßenhändler_innen sein oder von sogenannten "Schwarzarbeiter_innen" auf dem Bau, von Saisonarbeiter_innen in der Landwirtschaft, von nicht registrierten Haushaltshilfen oder Sexarbeiter_innen, von Autoteileproduzent_innen im heimischen Hinterhof und Müllsammler_innen oder auch von sogenannten Clickworker_innen, die im Internet freiberuflich u. a. kleinere Crowdsourcing-Aufträge erledigen. Aber auch in anderen Branchen tritt informelle Arbeit auf, meist befördert durch einen geringen gewerkschaftlichen Regulierungsgrad. In Südasien befindet sich z. B. ein wesentlicher Bestandteil der informell Beschäftigten im Industriesektor.


Wieso verbreitet sich informelle Arbeit?

Die einen machen Institutionen und Überregulierung, andere die individuelle Profit- oder Aufstiegsorientierung der informell Tätigen dafür verantwortlich, und wieder andere betrachten staatliche Regulierungsdefizite oder strukturelle Faktoren, wie z. B. die (globale) kapitalistische Wirtschaftsweise, als maßgebend.

Jüngere wissenschaftliche Erkenntnisse sehen Informalisierung neben Prekarisierung als aktuelles globales Phänomen der globalisierten und flexibilisierten Wirtschaft - und als Phänomen, das sich nicht nur in den 1980er/90er Jahren im Zuge der neoliberalen Reformen in zahlreichen Ländern des globalen Südens zugespitzt hat, sondern das seit der Krise Ende der 2000er Jahre wieder auf dem Vormarsch ist. Dabei lässt sich zunehmend der Einzug des Informellen in Länder des globalen Nordens beobachten.

Für Arbeitgeber_innen stellt informelle Arbeit oft eine Möglichkeit der Flexibilisierung und Kostenreduzierung, für die Betroffenen häufig eine Alternative zu Erwerbslosigkeit dar, für andere ist es der Weg in die wirtschaftliche Unabhängigkeit - die Motive sind vielfältig. Informell Tätige sind der Arbeitsrealität jedoch schutzlos ausgeliefert. Aus diesem Grund und weil sich viele Gewerkschaften Informalität gegenüber verschließen, organisieren sich einige Betroffene selbst (z. B. Müllsammler_innen in Brasilien oder Minenarbeiter_innen in Südafrika).

In den letzten Jahrzehnten sind außerdem Organisationen entstanden, die sich für informelle Arbeitnehmer_innen einsetzen, z. B. das WIEGO-Netzwerk, das 2017 sein 20-jähriges Jubiläum feierte(2). Sie alle sind durch die großen Herausforderungen verbunden, die informelle Arbeit für die Betroffenen, die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit sich bringt.


Anmerkungen:
(1) Die bedeutendsten Arbeiten zu Informalität finden sich u. a. bei Martha Alter Chen, Nicole Mayer-Ahuja, Alejandro Portes, Hernando de Soto sowie im Umfeld der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), u. a. Keith Hart, Víctor E. Tokman) und der Weltbank, u. a. William F. Maloney. Einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Konzepte und Lesarten von Informalität findet sich in zahlreichen Publikationen von Andrea Komlosy.
(2) WIEGO (Women in Informal Employment: Globalizing and Organizing, www.wiego.org)

ZUR AUTORIN:
Johanna Sittel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und promoviert zum Thema "Informelle Arbeit in der Wertschöpfungskette Automobil in Argentinien."

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Quelle:
frauen*solidarität Nr. 143, 1/2018, S. 8-9
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2018

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