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ARMUT/123: Zur Situation von Pendelbettlerinnen in Wien (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 106, 4/08

Sichtbarkeit und Bedrohung
Zur Situation von Pendelbettlerinnen in Wien(1)

Von Marion Thuswald


Eine vorläufige Bestandsaufnahme zum Phänomen der migrierenden Bettlerinnen auf Wiens Straßen, zu den Reaktionen von Behörden und PassantInnen und ein Ausblick, wie man mit sichtbarer Armut ohne Repressionen im öffentlichen Raum umgehen kann.


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BettlerInnen wurden und werden an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich behandelt. Während im Mittelalter Betteln und Almosengeben in Europa gängig und akzeptiert waren und Betteln auch als Beruf galt, erlebten Bettlerinnen im 17. und 18. Jahrhundert Vertreibung, Demütigung und Bestrafung. Und heute?

"Viele Fahrgäste fühlen sich durch organisiertes Betteln in der U-Bahn belästigt. Wir bitten Sie, dieser Entwicklung nicht durch aktive Unterstützung Vorschub zu leisten, sondern besser durch Spenden an anerkannte Hilfsorganisationen zu helfen. Sie tragen dadurch zur Durchsetzung des Verbots von Betteln und Hausieren bei den Wiener Linien bei."(2)

Diese Durchsage der Wiener Linien, die ab Juni 2006 für mehrere Monate im Bereich der öffentlichen Verkehrsmittel zu hören war, ist symptomatisch für den derzeitigen Umgang mit BettlerInnen in Wien. Denn wie kann einer Bettlerin in der U-Bahn angesehen werden, ob sie "organisiert" ist oder nicht? Werden nur die "organisierten" BettlerInnen als belästigend empfunden oder alle? Was meint eigentlich "organisiert"? Und wer sind die anerkannten Hilfsorganisationen, die den BettlerInnen helfen?


Triebkraft Armut

Die von mir interviewten und beobachteten Frauen kommen zum Betteln aus der Slowakei, Rumänien und Bulgarien nach Österreich angereist. Was sie zu dieser Entscheidung bewegt, ist ihre Armut sowie die durch Mundpropaganda verbreitete Hoffnung, in Österreich durch Betteln oder andere Arbeit zu Geld zu kommen. Der Grund für ihre Armut liegt in Prozessen sozialer Ausschließung (fehlende Berufsausbildung, hohe Arbeitslosigkeit, Diskriminierung als Angehörige von ethnischen Minderheiten, als Frauen und Mütter, keine Existenz sichernde staatliche Unterstützung etc.). Die sozialen Ausschließungsprozesse werden durch politische und wirtschaftliche Entwicklungen verschärft (etwa durch den EU-Beitritt und Privatisierungen), gleichzeitig entstehen dadurch auch Nebenwirkungen wie etwa die erhöhte Möglichkeit zur Mobilität, die von den Bettlerinnen genutzt wird. Sie wollen zumeist nicht auf Dauer in Österreich bleiben, sondern pendeln je nach Entfernung ihres Herkunftsortes im Wochenrhythmus oder kommen für einige Monate im Jahr, deshalb werden sie hier als Pendelbettlerinnen bezeichnet.

In Wien mieten sie Zimmer bzw. Betten, manche schlafen auch in leer stehenden Häusern; einige bringen ihre Kinder(3) mit, andere lassen sie bei weiblichen Verwandten; manche besuchen kostenlose Essensausgaben, andere betteln vor Lebensmittelgeschäften. Manche verkaufen auch Straßenzeitungen und erhoffen sich durch den entsprechenden Ausweis Schutz vor der Polizei.


Überlebensunsicherheit garantiert

Der Raum, in dem sich die Frauen bewegen, kann als transnationaler informeller öffentlicher Raum bezeichnet werden. Es ist ein Restraum, der sich als Nebenwirkung aus den EU-Beitritten ihrer Herkunftsländer, dem Wohlstandsgefälle und der freien Zugänglichkeit des öffentlichen Raumes ergibt. Die Bedingungen in diesem Raum sind sehr prekär und bergen - verstärkt durch die Sichtbarkeit der Bettlerinnen - zahlreiche Bedrohungen. Die Frauen werden von PassantInnen bespuckt, beschimpft, zur Prostitution aufgefordert und von der Polizei vertrieben, gestraft und verhaftet. Überlebensunsicherheit und soziale Ausschließung setzen sich also in Österreich fort.

Die Frauen haben wenig formale Bildung und keine materielle Sicherheit - teilweise leihen sie sich Geld, um nach Österreich kommen zu können, ihre wichtigsten Ressourcen sind ihre moralische Integrität und der Glaube an die Legitimität ihres Anliegens sowie ihre sozialen Beziehungen. Betteln wird von den Frauen als Frauenarbeit angesehen, sie haben überwiegend Kontakte zu anderen Frauen, meist ihrer Sprachengemeinschaft, und bekommen Unterstützung von weiblichen Verwandten. Auch die gebenden, hilfreichen und Mitgefühl zeigenden PassantInnen sind zu einem wesentlichen Teil Frauen. Solidarität und Hilfe unter Frauen sind also zentral für die Überlebenssicherung der Bettlerinnen, für Informationsaustausch und gegenseitige Stärkung, für das Erlernen von deutschen Wörtern und geeigneten Bettelpraktiken.


Überzogene und z.T. rechtswidrige Maßnahmen

Die Strategien von Polizei, Wiener Linien, herrschender Politik und dominanten Medien greifen die Frauen genau an ihren Stärken an: Sie kriminalisieren ihre sozialen Beziehungen und Kontakte ("organisierte Bettelei") und sprechen ihnen die moralische Legitimität ab ("Missbrauch der Kinder"). Die Argumentationen sind zum Teil skurril, die Maßnahmen unverhältnismäßig hart und teilweise rechtswidrig.(4)

Auf eine genaue Definition von "Organisiertheit" scheint bewusst verzichtet zu werden. Einerseits wird mit diesem Begriff im öffentlichen Diskurs die Nähe zum "organisierten Verbrechen" bzw. ein Ausbeutungsverhältnis suggeriert, andererseits sieht die Polizei bereits drei Personen, die sich bewusst zum Betteln verabreden (auch Großmutter, Mutter und Tochter), als organisiert an: "Sie haben am 04.09.2007 von 10.30 bis 11.00 in Wien 1., Kärntner Straße Nr. 35-39 an einem öffentlichen Ort als Beteiligte einer organisierten Gruppe (d.h. in bewusster Verabredung von mindestens 3 Personen) um Geld oder geldwerte Sachen gebettelt. Konkret haben Sie folgende Tathandlung/en gesetzt: Sie haben vorbeigehende Passanten um Geld angebettelt, indem Sie diesen Ihre Hände entgegen gehalten haben. In Ihrer unmittelbaren Nähe haben I.B., und M.T. und M.B.6 ebenfalls gebettelt, wobei Sie zu diesen Personen ständigen Sichtkontakt hatten." (Strafverfügung)

Aus der Stellungnahme eines anzeigenden Beamten:

"Der Verdacht der organisierten Bettelei liegt auch dann vor, wenn 3 oder mehrere Personen in verabredeter Verbindung der Bettelei nachgehen, ungeachtet dessen, ob sie verwandt sind oder nicht. T. und andere Bettler konnten immer wieder an den gleichen Örtlichkeiten und in den gleichen Gruppierungen beim Betteln angetroffen werden. Des Weiteren ist zu erwähnen, dass sobald eine der Angezeigten angehalten wurde, die anderen aufsprangen, sich entfernten und weitere Bettler, welche etwas weiter weg saßen, vor der Polizei warnten. Die o.a. Gründe sind ein Indiz für eine organisierte Bettelei."

Es gibt vereinzelt Initiativen und engagierte Einzelpersonen, die versuchen, die Bettlerinnen in Österreich sowie in ihren Herkunftsländern zu unterstützen. Bekannt ist etwa die Vinzenzgemeinschaft Eggenberg in Graz, die neben der Errichtung von Notschlafstellen für BettlerInnen auch Projekte in deren Herkunftsregion initiiert hat.

Welche Projekte sinnvoll sein können bzw. welche langfristige Unterstützung möglich wäre, ist aber erst die zweite Frage.


Freiheit zu betteln

Bettlerinnen zeigen ihre Armut öffentlich, das ist eine machtvolle Geste, wie sich an den massiven Vertreibungsmaßnahmen ablesen lässt. Dieses Sichtbarmachen von Armut, diese Raumnahme der Bettlerinnen, können so manche Menschen wie auch Behörden in Österreich schwer aushalten. Zuallererst muss also sichergestellt werden, dass der öffentliche Raum in Wien allen gehört, dass BettlerInnen nicht gedemütigt, kriminalisiert, vertrieben und bestraft werden, dass die Freiheit zu betteln gewährleistet ist. Das muss in der öffentlichen Diskussion von möglichst vielen AkteurInnen klar ausgesprochen werden und gleichzeitig gegen Kriminalisierung und Vertreibung - auch rechtlich - vorgegangen werden.(5)


Anmerkungen:

(1) Der Artikel basiert auf der Diplomarbeit "Betteln als Beruf? Wissensaneignung und Kompetenzerwerb von Bettlerinnen in Wien" (Universität Wien 2008).

(2) Betteln ist im öffentlichen Raum in Wien nicht verboten, wenn es nicht aggressiv, aufdringlich, organisiert oder mit Kindern durchgeführt wird. Der Bereich der Wiener Linien gilt nicht als öffentlicher Raum, hier gilt ein Bettelverbot. Die Durchsagen der Wiener Linien leisteten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Kriminalisierung von BettlerInnen.

(3) Im März 2008 beschloss der Wiener Gemeinderat in einer Sondersitzung das Bettelverbot mit und von Kindern.

(4) Manchen Frauen wurde rechtswidriger Weise von Beamten "Bettlerin" in den Pass geschrieben und es kommt vor, dass Dokumente von verhafteten Bettlerinnen "verschwinden".

(5) Dass eine rechtliche Verankerung der Freiheit des Bettelns möglich ist, zeigt die Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 5.12.2007, die das Bettelverbot der Stadt Fürstenfeld als gesetzwidrig aufhebt.


Weiterführende Links:

Christopolis: www.christopolis.net/?tag=betteln

Betteln in Wien: bettelninwien.beepworld.de

Natasha (Dokumentarfilm von Ulli Gladnik, zeigt den Alltag einer Bettlerin in Österreich und die Lebensumstände in ihrer Heimat Bulgarien, kommt 2009 ins Kino): www.natasha-der-film.at


Zur Autorin:

Marion Thuswald ist Sozialpädagogin und Bildungswissenschaftlerin und beschäftigte sich in ihrer Diplomarbeit (2008) mit dem Arbeitsalltag von Bettlerinnen in Wien. Sie war Mitarbeiterin in Friedens- und Frauenorganisationen in Kroatien, Österreich und der Türkei und lebt derzeit in Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 106, 4/2008, S. 18-19
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Berggasse 7, 1090 Wien
Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,-- Euro.
Jahresabonnement: 20,-- Euro (Österreich und Deutschland), Ausland 25,-- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2009