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BERICHT/007: Gourmet-Reise durch Wiens Müllräume (planet)


planet - ZEITUNG DER GRÜNEN BILDUNGSWERKSTATT # 63
Oktober 2010

Gourmet-Reise durch Wiens Müllräume

Von Alinka Zarkowsky und Joschi Sedlak


In vielen Städten sind sie nächtens unterwegs. Dumpsterer, meist junge Menschen, die Müllcontainer von Supermärkten nach weggeworfenen aber noch genießbaren Lebensmitteln durchsuchen. Ein Erfahrungsbericht.


"Herzlich Willkommen", schnarrt uns die Gegensprechanlage auf dem Weg in den Müllraum entgegen. Der Postschlüssel öffnet Tür und Tor zu Verborgenem und Nichtgewolltem. Ein Blick über die Schulter, ob uns jemand beobachtet, rein in den Müllraum, nach dem Licht suchen, kurz orientieren. Wir teilen uns auf, eine schaut in die Biomülltonne, die anderen reißen schwere Säcke im Restmüll auf. Zwischen Kassazetteln und Dosen stoßen wir auf Schokolade, Grießpudding und abgepacktes Fleisch. Mit Plastiksäcken über den Biotonnenrändern hängen wir uns kopfüber hinein - die Luft anhaltend - um nach genießbarem Obst und Gemüse zu graben. Die Ausbeute ist leider etwas mager. Wir ertappen uns beim Gedanken "Schade, dass nicht mehr da war!" und kommen kurz darauf zur etwas selbstloseren Erkenntnis: "Ist ja eigentlich gut, wenn heute nicht so schockierend viel weggeworfen wurde."

Wir schwingen uns wieder auf die Räder, flitzen weiter durch die Stadt und laue Sommernacht auf der Suche nach Beute. Beute? Ja! Denn wir nützen, verwerten, verkochen und genießen, was für die Supermärkte "Müll" ist. Leichter Geldmangel, aber mehr noch die haarsträubenden Bedingungen unserer Gesellschaft, sind der Antrieb für unsere nächtlichen Touren. Denn pro Supermarkt wandern jeden Tag circa 45kg Lebensmittel in den Müll. Das sind österreichweit zwischen 80.000 und 160.000 Tonnen pro Jahr.


Als würde es kein Morgen geben

Im kühl-grellen Licht des Müllraums werden uns die Schattenseiten unseres Umgangs mit Lebensmitteln vor Augen geführt: die Verschwendung natürlicher Ressourcen, als würde es kein Morgen geben; Über- und Fehlproduktion von Nahrungsmitteln, die an anderen Stellen dringend benötigt würden. Es ist zum Haare raufen, dass all das "normal" ist. Kurz vor Ladenschluss türmen sich noch Berge von glänzenden Produkten, sieben Sorten frisches Brot und exotische Früchte in den immervollen Regalen. Zu Feierabend landen dann jedes fünfte Brot, die eigens aus Argentinien importierten Äpfel, die Bananen mit den kleinen braunen Stellen und die am selben Tag abgelaufenen Milchprodukte im Müll. Was gerade noch im Scheinwerferlicht des Supermarktes zum Kauf lockte, wurde eins, zwei, drei hopps zu Müll. Mit dem Containern (oder Dumpstern) "retten" wir diese Produkte vor der Verbrennung und sparen uns damit Geld.

Zwar wird Recycling groß geschrieben in unserem Mülltrennungsvorzeigeland Österreich, aber ein sensibler Umgang mit wertvollen Lebensmitteln bevor sie im Müll landen, fehlt noch. Während wir überrascht ein sehr exklusives Olivenöl aus der Tonne angeln, fragen wir uns, welche Möglichkeiten es gibt, um dieser Verschwendung vorzubeugen. Nur ein paar wenige Beispiele fallen uns ein: Bäckereien, die ihre Waren gegen Abend günstiger hergeben oder Bio-Supermärkte, die angeschlagenes Obst zur freien Entnahme anbieten.

Zwei Supermärkte, zwei Müllräume; etwa eine Stunde später treffen wir zufällig zwei gute Freunde auf der Straße, die in gleicher Mission unterwegs sind. Wir tauschen uns darüber aus, wohin sie noch fahren und wo es Lebensmittel zu holen geben könnte. "Viel Spaß noch", rufen wir ihnen nach und weiter geht's. Da merken wir, dass es gut tut andere Menschen zu kennen, die ebenfalls gehen. Wir machen uns Mut und spornen uns an spätabends noch loszuziehen - bei Wind und Wetter und Müdigkeit. Wir teilen unser Wissen, unsere Erfahrungen und gerne auch unser dadurch erworbenes Essen.


Romantik, Abenteuer - und Überlebensnotwendigkeit

Wie viele Menschen wohl heute Nacht wie wir auf Nahrungssuche durch die Stadt ziehen? Wie viele, die die schiere Unfassbarkeit der Verschwendung wütend macht und zum Handeln motiviert? Andere wiederum werden durch Not und Geldmangel dazu gedrängt, Essen aus dem Müll zu fischen. Sie containern meist nicht aus "Überzeugung", vielmehr sind jene weggeworfenen Lebensmittel wirklich überlebensnotwendige Mittel für sie.

Mistkübeln, wie Containern in Wien manchmal genannt wird, ist für die meisten kein einmaliges Experiment, sondern ein regelmäßiger Bestandteil des Lebens(mittel)alltags - wöchentlich schwärmen wir aus, kennen inzwischen die guten Plätze und die weniger ertragreichen. Statt schnell noch einkaufen zu gehen, bevor der Supermarkt schließt, warten wir darauf, bis es endlich spät genug ist. Mistkübeln ermöglicht uns einen Zugang zu Produkten, die wir uns sonst nicht kaufen würden, und hilft kreativ kochen zu lernen. Wir wissen nie im Vorhinein was in unseren "Einkaufs(ruck)säcken" landet - und improvisieren deshalb mit den Überraschungen der Nacht. So hat sich unser Repertoire an Bananengerichten in den letzten Jahren vervielfacht und es wurden neue Rezepte für fulminante Brotaufläufe entwickelt.

Doch wir wollen nicht romantisieren. Containern ist nicht nur ein nützliches Abenteuer. Stinkende Mülltonnen, das Erbeutete dann mühevoll nach Hause schleppen, Herzklopfen ob man wohl erwischt und bestraft wird. Denn als AbfallnutzerInnen durch Wiens Müllräume zu ziehen ist "illegal" und die weggeworfenen Lebensmittel vor der Verbrennungsanlage zu retten gilt als Diebstahl an der Stadt.

Eigentlich sollte es dafür Förderungen geben. Wenn da nicht der Markt wäre. Und auf diesem bezahlen wir alle den Preis dafür. Denn die Entsorgung ist in den Kosten bereits enthalten und die Tonnen an Brot, die jede Woche verbrannt werden, zahlen wir alle an der Kassa mit.


Schaler Nachgeschmack

Nach "getaner Arbeit" fahren wir mit vollen Rucksäcken und leicht dreckigen Händen nach Hause um dort (wichtig!) sofort alles Obst und Gemüse gründlich zu waschen und im Licht der heimeligen Küche auszusortieren. Wir schneiden gleich die angeschlagenen Stellen aus dem Obst und entfernen die äußeren Salatblätter, damit unsere Beute noch in den nächsten Tagen genießbar bleibt.

Dabei denken wir darüber nach, in was für einer Welt wir leben - und nun wird uns wirklich übel! Denn hinter Werbung und Neonlicht zeigt sich uns die ungeschminkte Fratze einer Gesellschaft, welche ihre Fehler gerne in dunkle Müllräume verbannt und die Makel des Unperfekten in tiefen Tonnen vergräbt. Unser Container-Abenteuer ist im ganz großen Kontext ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir bleiben nachdenklich und ein paradoxer Gedanke hinterlässt einen schaleren Nachgeschmack als das gestern abgelaufene Joghurt: Es ist normal und gesellschaftlich akzeptiert tonnenweise Lebensmittel zu vernichten.


Kalinka Zarkowsky und Joschi Sedlak studierten Friedens- und Konfliktforschung in Innsbruck und leben derzeit in Wien.


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Quelle:
planet - Zeitung der Grünen Bildungswerkstatt # 63,
Oktober 2010, S. 5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2010