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DISKURS/023: Care - ein System in der Krise (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015

Care - ein System in der Krise

Von Karin Jurczyk


Die Arbeit der Sorge, die unterschiedlichste Tätigkeiten für andere wie betreuen, pflegen, erziehen, versorgen und zuwenden ebenso wie die Selbstsorge umfasst (Care), ist in den letzten Jahren erstaunlich deutlich in den Mittelpunkt öffentlicher, politischer und wissenschaftlicher Debatten gerückt. In der Regel weist so viel Aufmerksamkeit darauf hin, dass sich eben dieser Bereich in einer Krise befindet, oder eher: dass diese Krise unabweisbar sichtbar geworden ist (Cornelia Klinger).

Im Blickpunkt sind dabei viele Einzelphänomene - beispielsweise die schlechte Bezahlung der Erzieher/innen, der Pflegenotstand, die mangelnde Qualität von (Alten-)Pflege und (Kinder-)Betreuung, die steigenden psychischen Belastungen durch Erwerbsarbeit, die Überforderung vieler Eltern sowie die Erschöpfung von Müttern und pflegenden Angehörigen. Auch liegen vielfältige wissenschaftliche Analysen zu den einzelnen Care-Bereichen und ihren Problemen vor. Dass diese Phänomene und Bereiche jedoch Teil einer systemischen Krise sind, ist nur schwer zu erkennen: "Wir 'sehen' das Problem nicht. Wir sehen kein Fürsorgesystem, das zusammenbricht, weil wir Fürsorge gar nicht erst als System erkennen. Wir sehen, wie Individuen private Entscheidungen darüber treffen, wer sich um die Kinder kümmert oder um einen älteren von Arthrose geplagten Elternteil. (...) Wir zählen das aber nicht zusammen und bezeichnen es als System, das gut oder schlecht funktioniert. (...) Wenn wir den systemischen Zusammenbruch erkennen würden, müssten wir anfangen darüber nachzudenken, wie sich Fürsorge auf das Funktionieren der gesamten Gesellschaft auswirkt" (Mona Harrington).

Offensichtlich hat dieses Nachdenken begonnen, da die konstitutive Bedeutung von Care für das "Funktionieren" von Gesellschaft und von Wirtschaft durch ihr Nicht-Funktionieren an vielen Stellen unübersehbar geworden ist. Diese konstitutive Bedeutung besteht darin, dass gute Strukturen des Sorgens und Versorgtwerdens die Basis des Gemeinwohls sowie eines guten Lebens in fürsorglichen Beziehungen sind. Denn Care setzt daran an, dass Menschen von der Versorgung durch Andere existenziell abhängig sind. Die Tatsache menschlicher Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Endlichkeit beinhaltet, dass alle Menschen am Anfang, viele zwischenzeitlich und sehr viele am Ende ihres Lebens versorgt werden müssen (Margit Brückner). Die Basis der Sorge für andere ist die Sorge für sich selbst, umgekehrt ist die Sorge für sich selbst auch in Lebensphasen, die nicht durch manifeste Sorgebedürftigkeit wie Kindheit, Alter oder Krankheit gekennzeichnet sind, angewiesen auf die Zuwendung Anderer in fürsorglichen Beziehungen.

Folgt man der kritischen sozialhistorischen Analyse von Cornelia Klinger, so erweist sich die Trennung von System und Lebenswelt und die Auslagerung von "Lebenssorge" als grundsätzliche Fehlkonstruktion der modernen Gesellschaft, in der sich das Verhältnis von Menschen und Sachen umkehrt. Diese Auslagerung geht stets mit der Abwertung des "Lebendigen" einher und schlägt sich in einer allgegenwärtigen negativen Konnotation von Care nieder. Zudem wurde die "Auslagerung" ins Private im historischen Prozess der Moderne identisch gesetzt mit der Zuweisung von Sorgearbeit an Frauen; die Feminisierung von Care führt zur aneinandergekoppelten Abwertung von Frauen und Care. In industrie-kapitalistischen Gesellschaften, die zwischen System und Lebenswelt gespalten sind, erfüllt das "Exterritorium" der privaten Lebenswelt damit nicht substituierbare Funktionen für das "System": Es erzeugt die "menschlichen Akteure, die das System in Gang setzen und in Schwung halten" (Klinger). Anders gesagt: Care im privaten Raum der Familie produziert beispielsweise die Vorbedingung geldwerter Arbeit, indem sie zum einen Kinder als sogenanntes Humankapital, das heißt als künftige Arbeitskräfte großzieht, und zum anderen für die tägliche Reproduktion und Regeneration der Erwachsenen sowie für die Pflege alter oder kranker Angehöriger einen erheblichen Anteil leistet. In der historischen Abfolge der "Lebenssorgeregime" (Klinger) vom frühen Sozialstaat bis zum heutigen demokratischen Wohlfahrtsstaat-Regime mit seinen steigenden Anteilen profitorientierter "care industries" ist Sorgearbeit vermehrt in öffentliche und/oder marktliche Institutionen verlagert worden.

Das Hausfrauenmodell dient nicht mehr als verlässliche Basis für die Erbringung von Fürsorge

Diese De-Familialisierungsprozesse hängen im Wesentlichen damit zusammen, dass Frauen und Mütter zunehmend erwerbstätig sind und nicht mehr selbstverständlich alle Sorgeaufgaben übernehmen können und wollen. Parallel zur Vervielfältigung von Familienformen, in denen Sorgebeziehungen gelebt werden, sind die Anforderungen an Sorgearbeit gestiegen, die Ressourcen hierfür jedoch gesunken; das Hausfrauenmodell dient jedenfalls nicht mehr als verlässliche Basis für die Erbringung von Fürsorge. Die wachsenden Anforderungen an gute Bildung "von Anfang an", die steigende Komplexität in der Gesundheitsversorgung, neue Pflegeanforderungen einer alternden Gesellschaft u.a.m. auf der einen Seite treffen auf Erwerbsverhältnisse, die - bedingt durch eine zunehmend entgrenzte neoliberale Ökonomie - von Frauen wie Männern umfassende Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt erwarten und immer weniger Raum lassen für Sorge. Dazu kommt, dass der gesellschaftliche humankapitalorientierte Optimierungsdiskurs familiale Sorge - zumindest bei der Kinderbetreuung - als weniger effizient und "gut" darstellt als professionelle Fürsorge.

Private Sorgearbeit ist also in mehrfacher Hinsicht unter Druck geraten und schwieriger geworden. Sie kann nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden, sie ist keine "natürlich" gegebene Ressource für Individuen und Gesellschaft mehr, auf die einfach zurückgegriffen werden kann. Familie als Sorgezusammenhang muss alltäglich und biografisch "hergestellt" werden, wie es in dem Buch Doing Family - Familienalltag heute. Warum Familienleben nicht mehr selbstverständlich ist aufgezeigt wird. Sie ist deshalb - insbesondere in der sogenannten Rushhour des Lebens - vermehrt auf gesellschaftliche und politische Unterstützung, d.h. auf passfähige wohlfahrtsstaatliche und ökonomische Rahmenbedingungen angewiesen.

Ohne Zweifel kann Care prinzipiell sowohl privat als auch beruflich und zivilgesellschaftlich erbracht werden. Insbesondere die professionelle Soziale Arbeit übernimmt in großem Umfang die Sorge für Andere und fängt dabei auch Probleme auf, die in der privaten Lebenswelt selbst erzeugt oder nicht allein bewältigt werden können.

Allerdings ist unter unveränderten Rahmenbedingungen mit der Auslagerung der Sorgearbeit an öffentliche Institutionen oder Märkte deren Krise mitnichten gelöst. Dafür gibt es drei Gründe.

Erstens gibt es Grenzen der Auslagerung von Care aus der privaten Lebenswelt. Denn in der Familie - nicht als Normalfamilie verstanden, sondern als auf Verlässlichkeit angelegte persönliche Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern in ihrer Vielfalt - verknüpfen sich Versorgung, persönliche Beziehungen, Emotionen und Intimität in besonderer Weise. Es geht in familialen Sorgebeziehungen zwar auch um Arbeit, aber sie sind - anders als im beruflichen Kontext, der der Zeit- und Kostenlogik folgen muss - primär immer mehr bzw. etwas anderes als Arbeit. Die spezifische Verknüpfung von Versorgung, Fürsorge und persönlichen Beziehungen macht gerade diese Nicht-Marktförmigkeit zur Voraussetzung für die Entstehung und Pflege von Bindungen, für persönliche Entwicklung und die Entfaltung von Subjektivität.

Zweitens tritt immer deutlicher hervor, dass das aktuelle bundesdeutsche Wohlfahrtsstaatsregime weder adäquat noch konsequent an die Entgrenzungen von Familie, Geschlechterverhältnissen und Erwerbswelt seit den 70er Jahren angepasst wurde. Es setzt weiterhin traditionelle Familien- und Geschlechterverhältnisse voraus und erzeugt damit insbesondere vor dem Hintergrund der höheren Lebenserwartung sowie individuell und gesellschaftlich steigender Ansprüche an Sorgearbeit Care-Lücken und -Defizite. Institutionelle Angebote passen weder quantitativ noch qualitativ noch von ihren Zeitstrukturen und ihrer Bezahlbarkeit her hinreichend zu den veränderten Bedarfen. Eine hoch problematische Antwort hierauf sind die Trends, Sorgearbeit transnational zu externalisieren: Zum einen werden Sorgearbeiter/innen für Altenpflege und Hausarbeit aus wirtschaftlich schwächeren Ländern (etwa aus Osteuropa) "importiert". Zum andern wird die Deckung von Care-Bedarfen zunehmend "exportiert", z.B. durch die Unterbringung Pflegebedürftiger in Heimen im kostengünstigeren Ausland. Auch wenn in beiden Konstellationen weiterhin überwiegend Frauen Sorgearbeit leisten, nimmt damit gleichzeitig die Ungleichheit zwischen Frauen entlang der Dimensionen Ethnie und Klasse zu.

Drittens aber unterliegt auch die professionell erbrachte Care-Arbeit prinzipiell einer ähnlichen Geringschätzung wie die private. Nach wie vor wird davon ausgegangen, dass erforderliche Kompetenzen als "natürliche" oder als "Allerwelts"-Fähigkeiten - insbesondere bei Frauen teilweise vorausgesetzt werden und auch geringer entlohnt werden können. Zusätzlich führt die wachsende Kosten- und Effizienzlogik der neoliberalen Wirtschaftsweise dazu, dass sich die Arbeitsbedingungen durch Arbeitsverdichtung, Zeitdruck und prekäre Beschäftigungsverhältnisse weiter verschlechtern.

Wir haben es also nicht länger mit singulären Problemen in einzelnen unverbundenen Care-Bereichen zu tun, sondern mit einer umfassenden Krise der gesellschaftlichen Organisation von Care im privaten ebenso wie im beruflichen Bereich. Gerade dies ist aber auch der Grund dafür, dass derzeit an vielen Stellen und in sehr verschiedenen Formen die Suche nach Wegen aus der Care-Krise begonnen hat, so z.B. in der Initiative Care.Macht.Mehr. Heute geht es nicht mehr um kleine Hilfsmaßnahmen, sondern um gute, neue, umfassende gesellschaftliche Lösungen, die Care als System verstehen und den Zusammenhang von Care und Geschlechter-Verhältnissen, Ökonomie, Arbeitsorganisation, Zeitstrukturen sowie sozialer und globaler Gerechtigkeit in den Blick nehmen. Ziel ist es, gesellschaftlich-politische Veränderungsprozesse für eine angemessene Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedeutung von Care anzustoßen, die sich an umfassenden Vorstellungen von Gerechtigkeit und einem guten Leben orientieren. Grundlage hierfür ist es, Care aufzuwerten - unabhängig von traditionellen Geschlechterbildern. Es braucht eine neue gesellschaftliche Kultur, in der die Sorge für sich und andere einen eigenständigen Stellenwert bekommt - und dies bezieht sich keinesfalls nur auf die Sorge für "eigene" Kinder oder Eltern. Es braucht neue Strukturen und Wege der Bereitstellung, Anerkennung, Aufwertung und Bezahlung wie auch der gesellschaftlichen Organisation von Care-Arbeit auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene. Denn Care ist keine Privatangelegenheit, sondern gesellschaftliche Aufgabe.


Karin Jurczyk ist Soziologin und leitet die Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut e.V., München. Arbeitsschwerpunkte: Arbeit, Care, Gender, Lebensführung, Doing Family, Zeit, Politiken.
jurczyk@dji.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015, S. 33 - 37
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2015

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