Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → SOZIALES


FRAGEN/017: Interview mit Aktivistinnen des Istanbul Feminist Kolektif (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 135, 1/16

"Frauen fordern ihr Leben zurück!"
Interview mit Aktivistinnen des Istanbul Feminist Kolektif

Von Ayse Dursun


Die Wurzeln des Istanbul Feminist Kolektif (IFK) gehen auf feministische Proteste und Kampagnen um 1987 zurück. Mit der Zeit wurde das Kollektiv zu einem Ort, wo Frauen feministische Agenden diskutieren, Nachtmärsche für den 8. März und 25. November organisieren. 2010 wurde die Kampagne "Wir revoltieren gegen Frauenmorde" ins Leben gerufen, und 2012 wurden Pro-Abtreibungs-Massendemonstrationen organisiert.
Mit den Themen sexuelle Belästigung, Femizid und Gewalt gegen Frauen beschäftigt sich das IFK von Beginn an. Das Kollektiv ist ein Bezugspunkt für feministische Politik in Istanbul und nimmt sich dieser Themen, beinahe als einzige Gruppe, an. Die Politikwissenschaftlerin Ayse Dursun (A.D.) befragte Aktivistinnen des IFK zu ihrer Arbeit und zu aktuellen politischen Themen in der Türkei.


A.D.: Frauenbewegung/en in der Türkei sind vielfältig - sozialistisch, kurdisch, muslimisch. Wo positioniert ihr euch?

IFK: Wir sind Feministinnen und definieren uns als antifaschistisch, antikapitalistisch und antiheterosexistisch. Wir stehen außerhalb des (politischen) Systems und arbeiten mit muslimischen Frauen, sozialistischen Frauen, LGBT und kurdischen Bewegungen zusammen. Wir sind auch Teil von Aktionsgruppen gegen Femizid, für Abtreibungsrechte und für Frieden. Das IFK ist flexibel in seiner Organisierung und offen für neue Frauen und Feministinnen.


A.D.: Was sind die Herausforderungen, mit denen Frauen in der Türkei gegenwärtig konfrontiert sind? Was hat sich, seit die AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) an der Regierung ist, also von 2002 bis heute, verändert?

IKF: Das größte Problem für Frauen in der Türkei sind männliche Gewalt und Morde an Frauen. Das gab es schon vor der AKP-Regierung, aber seitdem ist die Rate an Morden an Frauen um 140 Prozent gestiegen. Nicht nur Partner, Ex-Partner, Ehemänner, Familienmitglieder, sondern auch sexistische Äußerungen von Staatsbeamten, Gerichtshöfen, Polizei und Medien haben zu diesem exorbitanten Anstieg und zur "Normalisierung" dieser Morde beigetragen. Kampagnen und Solidaritätsbekundungen gegen Frauenmorde waren also der Schwerpunkt der Aktivitäten der Frauenbewegung der letzten Dekade. Mit unseren Kampagnen gegen Frauenmorde waren wir erfolgreich, insofern dieses Thema inzwischen in den Medien und auf institutioneller (staatlicher) Ebene behandelt wird. Zuerst gab es nur Kampagnen in Istanbul, aber jetzt gibt es sie in der gesamten Türkei.

Seit 2002 verfolgt die AKP-Regierung einen konservativen Neoliberalismus, der entscheidende Auswirkungen auf Frauen hat. Die AKP macht konservative Familienpolitik, ähnlich wie in Europa, allerdings mit einer deutlichen Aufwertung des Islam. Der Platz der Frau ist vor allem das Haus, und ihre Rolle ist jene einer ordentlichen Mutter. Frauen außerhalb von Familienverbänden profitieren nicht in gleicher Weise von staatlichen Unterstützungen. Frauen sind als billige Arbeitskräfte und Mütter erwünscht.

Der Krieg in der Türkei dauert weiterhin an. Frauen, vor allem in der kurdischen Region, leiden unter Verlusten, Ausgangssperren, ständigen Polizeiattacken, Arbeitslosigkeit und erzwungener Migration. Dies schafft zusätzlich eine Polarisierung unter den Frauen in der Türkei.


A.D.: Zwei der brennendsten Themen für Frauen in der Türkei scheinen Krieg und männliche Gewalt zu sein. Inwiefern haben sich diese in den letzten Jahren verändert?

IFK: Die Situation verschlechtert sich in beiden Belangen. Nach 40 Jahren Krieg gab es zwischen dem Staat und der kurdischen Guerilla eine Periode der Waffenruhe. Eine Phase, deren Bedeutung wir erst jetzt im Nachhinein richtig einschätzen können - obwohl es kein "Friedensprozess" war, wie es wir und andere Gruppen in der Gesellschaft gefordert haben. Heute dringt der Krieg wieder in alle Aspekte des Lebens und der Politik ein, sodass es nahezu unmöglich ist, über anderes zu sprechen. Und wir wissen, dass Krieg männliche Gewalt reproduziert, was zu neuen Formen von Gewalt und Leid für Frauen führt. Es herrscht eine Atmosphäre von Angst und Gewalt, die es schwieriger macht, weiterhin unsere Aktionen durchzuführen. Frauen kommen inzwischen untereinander leichter in Kontakt und sind informierter über Aktivitäten und Treffen. Ein Grund sind natürlich soziale Medien, im Unterschied zu früher.


A.D.: Das IFK berichtet regelmäßig über die Kampagne "Frauen fordern ihr Leben zurück" (Kadinlar Hayatlarina Sahip Çikiyor). In diesen fordert ihr Freiheit für jene Frauen, die ihre männlichen Peiniger verletzt oder getötet haben, um sich selbst zu verteidigen. Wie sieht die Rechtslage in der Türkei für diese Frauen aus? Warum wurde dieses Problem in eurem politischen Kampf so zentral?

IFK: Ungefähr vor einem Jahr begannen wir gegen die Viktimisierung von Frauen öffentlich aufzutreten, um einerseits diesen Diskurs in Frage zu stellen und andererseits männliche Gewalt aus einer anderen Perspektive zu zeigen. Alle Frauen, die männliche Gewalttäter verletzt oder getötet haben, wollten die langjährige Gewalt, der sie permanent ausgesetzt waren, beenden. Wir berichten über diese weiblichen Täterinnen und verfolgen ihre Gerichtsprozesse.

Diese Prozesse sind von großen Ungleichheiten gekennzeichnet, je nach dem Geschlecht der/des Angeklagten. Aufgrund der patriarchalen Strukturen des Rechtssystems genießt ein Mann, der eine Frau tötet, Rechte, die zur Abmilderung der Strafe führen. Männer geben gezielte Provokationen der Frauen als Grund für ihre Verbrechen an. Auslöser können nicht angemessene Kleidung oder etwa "kokettes" Verhalten sein. Wenn eine Frau jedoch einen Mann tötet oder verletzt, wird die langjährige, manchmal auch lebenslange Gewalt, der sie ausgesetzt war, nicht als Milderungsgrund für ihre Tat berücksichtigt.


A.D.: Wie sind die Reaktionen der Gesellschaft und von anderen Frauenbewegungen auf eure Aktivitäten? Werdet ihr unterstützt, kritisiert, angefeindet?

IFK: Infolge der zunehmenden Gewalt von Seiten des Türkischen Staates in den kurdischen Regionen ist das Thema Krieg momentan auf der Agenda vieler politischer Bewegungen in der Türkei und beeinflusst auch die feministischen Bewegungen. Friedensaktivismus hat aktuell für viele Frauen oberste Priorität.

Wir versuchen dennoch unser Bestes, um unsere eigenen Themen voranzubringen. Wir wollen die Kampagne "Frauen fordern ihr Leben zurück" ausweiten, auf einer breiteren Ebene diskutieren und auch andere Themen außer Frauen als "Gewalttäterinnen" auf die Agenda setzen. Wir fordern "unser Leben" in verschieden Aspekten zurück. Trotz der konservativen Familienpolitik des türkischen Staates steigt die Rate der Frauen, die sich scheiden lassen. Wir sind selbstsicherer, unseren Eltern gegenüber, hinsichtlich der Entscheidungen in unserem Leben. Wir sagen nein zu unseren Partnern, wir sind mutiger, sexuelle Belästigungen anzusprechen.

Es ist uns wichtig, auch über Frauen als Täterinnen zu sprechen. Frauen sind auch aktive Kämpferinnen in unserer Region. Kurdische Frauen in Syrien erhalten aktuell weltweit mediale Aufmerksamkeit. Wie stehen wir als Frauen zu Gewalt? Das zu diskutieren, ist Herausforderung für uns als Mitglieder einer feministischen Bewegung.


A.D.: Habt ihr Verbindungen zu feministischen Netzwerken in Europa? Wie wichtig, glaubt ihr, sind diese transnationalen Netzwerke für Frauenrechte?

IFK: Das Istanbul Feminist Kolektif ist mit feministischen Bewegungen auf der ganzen Welt vernetzt und nimmt immer wieder an internationalen Zusammenkünften teil, wie zum Beispiel im Oktober 2014 an der vom London Feminist Network organisierten Konferenz in London oder am Treffen von Women in Development Europe (WIDE+) im Juli 2015. Anfang März 2015 nahmen wir auf Einladung einer norwegischen feministischen Organisation, Kvinnegruppa Ottar, an einem Event in Norwegen teil. Diese Organisation hat uns eingeladen, um speziell rund um den 8. März über unsere Erfahrungen als feministische Gruppe in der Türkei zu sprechen.

Die größte gemeinsame Aktion mit internationalen Organisationen war vor dem Marsch am 8. März 2014 zum Taksim-Platz. Nach den Gezi-Park-Protesten hat die türkische Regierung Beschränkungen bezüglich Demonstrationen am und rund um den Taksim-Platz erlassen. Um sicherzustellen, dass unser Marsch wie seit zwölf Jahren bis zum Taksim-Platz stattfinden kann, haben wir Feministinnen aus der ganzen Welt eingeladen, uns Solidaritätsnachrichten zu schicken. Diese veröffentlichten wir dann über soziale Medien. Die Unterstützung der vielen Feministinnen hat unseren Marsch möglich gemacht.


A.D.: Vielen Dank für das Interview!


ZUR AUTORIN:
Ayse Dursun ist Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien und ab März 2016 Marietta-Blau-Stipendiatin. Sie forscht zu Frauenbewegungen mit Fokus auf muslimische Frauen in der Türkei sowie Gleichstellungspolitiken, Asyl und Migration.

Übersetzung aus dem Englischen: Angelika Derfler

*

Quelle:
Frauensolidarität Nr. 135, 1/2016, S. 8-9
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang