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FRAGEN/034: Do no harm! Katastrophen, humanitäre Hilfe und Flucht (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 140, 2/17

Do no harm!

Katastrophen, humanitäre Hilfe und Flucht

von Claudia Dal-Bianco


Der Tsunami in Thailand 2004 zählt zu den Naturkatastrophen mit den meisten Todesopfern, rund 220.000 Menschen, gefolgt von dem Erdbeben in Haiti 2010 mit 159.000 Toten. Jahr für Jahr häufen sich die Berichte über Umweltkatastrophen in den Medien. Durchschnittlich sterben pro Jahr 50.000 Menschen direkt durch Naturkatastrophen. Der Westen hilft mit humanitären Projekten. Eine Strategie, um Fluchtbewegungen zu reduzieren? Was können Katastropheneinsätze leisten? Und wieso spielt Geschlecht bei solchen Einsätzen eine Rolle? Claudia Dal-Bianco von der Frauen*solidarität hat bei Luisa Dietrich - Gender-Expertin in humanitären Einsätzen - nachgefragt.


Eine der nächsten Katastrophen scheint bereits vorhersehbar. Seit 2015 ist das Horn von Afrika von einer Hitzewelle und Dürre betroffen. Nach Angaben der Hilfsorganisation Save the Children sind in Somalia zehntausende Familien auf der Flucht. Es herrscht die schwerste Dürre seit 60 Jahren. Mehr als sechs Millionen Menschen werden Schätzungen zufolge bis Juni auf humanitäre Hilfe angewiesen sein. Auch die UN-Ernährungsorganisationen schlagen Alarm. Sie rechnen mit bis zu 15 Millionen Hungernden in Äthiopien aufgrund der Dürre.

Seien es nun Umweltkatastrophen, bewaffnete Konflikte oder Epidemien, die Millionen Menschen in die Flucht treiben: Hilfsorganisationen meinen, dass nicht alle Menschen im gleichen Ausmaß von Krisen getroffen werden. Frauen leiden aufgrund der bestehenden Ungleichbehandlung mehr unter den Folgen von z. B. Naturkatastrophen. Oxfam kam nach dem Tsunami zum Ergebnis, dass ca. viermal mehr Frauen als Männer dabei ums Leben kamen. Als Ursache nannten sie soziale und kulturelle Gründe.

Projekteinsätze, die geschlechtsspezifische Unterschiede und kontextspezifische Bedürfnisse, Fähigkeiten und Verletzlichkeiten berücksichtigen, sind also notwendig. Worauf muss nun bei Katastrophenhilfe geachtet werden, damit strukturelle Ungleichheiten nicht verfestigt werden? Luisa Dietrich war als Gender Adviser des Oxfam Großbritannien Global Humanitarian Teams in Sierra Leone (Ebola), Jordanien (Jemen-Krise), Irak, Nepal (Erdbeben) und Äthiopien (El Niño) tätig. Sie kennt die Herausforderungen von Assessment-, Planungs- und Umsetzungsteams vor Ort. Sie hat Gender-Analysen durchgeführt und Gender-Strategien entwickelt. Im Interview beantwortet sie unsere Fragen zu humanitärer Hilfe, Geschlecht und Flucht.


Sind deiner Meinung nach Frauen* von Krisensituationen anders betroffen als Männer?

Luisa Dietrich (LD): Auf jeden Fall! Geschlechterungleichheiten und andere strukturelle Ungleichheiten werden durch Krisen nochmals verstärkt. Beispielsweise sterben mehr Männer bei bewaffneten Konflikten. Das hat mit der vorrangigen Rolle von (jungen) Männern als Kämpfer zu tun. Während bei Naturkatastrophen tendenziell mehr Frauen sterben. Dabei spielen kulturelle Hindernisse eine Rolle. Zum Beispiel wird es nicht gerne gesehen, wenn Mädchen schwimmen lernen oder auf Bäume klettern.

Arbeitsaufteilung hat einen Einfluss auf die geschlechtsspezifischen Opferzahlen. Denken wir nur an den Tsunami. Viele Männer waren auf dem Meer, um zu fischen. Frauen waren aufgrund der Care-Arbeit in den Häusern. Andere strukturelle Ungleichheiten sind auch im Bereich der Bildung zu sehen. Buben werden tendenziell mehr gefördert. Es kommen auch noch andere kulturelle Praktiken wie Kinderehen dazu. Von Geburt an werden Frauen schlechter gestellt, und diese Ungleichheiten verstärken sich in Krisen.


Du hast unterschiedliche Krisenauslöser miterlebt: Umweltkatastrophen (Nepal, Äthiopien), bewaffnete Konflikte (Jemen) und Epidemien (Sierra Leone). Gibt es da unterschiedliche Herangehensweisen an die Arbeit?

LD: Obwohl sich Naturkatastrophen und Konflikte in der Theorie unterscheiden, geht es in der Realität immer um die Bedürfnisse der betroffenen Menschen. Der erste wichtige Schritt ist, die Fähigkeiten und "coping strategies" der Bevölkerung schnellstmöglich zu erfassen, das heißt, geschlechts- und altersspezifisch differenzierte Daten zu erheben. Durch den erheblichen Zeitdruck und schwierigen Zugang zu den betroffenen Regionen ist das nicht leicht. Hilfreich dabei sind Daten von früheren Entwicklungszusammenarbeits-Projekten: Welche sind die kontextspezifischen Geschlechterdynamiken? Wie werden diese durch die Krise verstärkt oder verringert?


Was für Daten werden also erhoben?

LD: Ich gebe dir ein Beispiel von der Hungerdürre in Äthiopien 2016. Da habe ich eine Gender-Analyse durchgeführt. Wenn man in die Internally Displaced People Camps in Somalia kommt, dann sind 80 bis 90 % der Bewohner_innen Frauen mit Kindern und ältere Männer. Warum? Sie leben in "pastoralist societies", also mit Kamelen und Herdentieren auf der Suche nach Futter und Weideland. Und wegen der Hungerdürre gibt es diese Weideländer nicht mehr, und die Tiere sind gestorben. Die meisten erwachsenen Männer und Buben versuchen in den urbanen Zentren Arbeit zu finden. Die Frauen, Mädchen und jungen Frauen ziehen als "Haushaltshilfen" vermehrt ins umliegende Ausland und erfahren mitunter Ausbeutung, oder sie bleiben zurück und stehen vor großen Herausforderungen. Die Daten, die erhoben werden, zeigen genau das auf.

Wenn also humanitäre Projekte geplant werden und dabei nur junge Männer berücksichtigt werden, übersieht man sehr viel von den Dynamiken und reproduziert Geschlechterstereotypen. Die Qualität der humanitären Hilfe sinkt dadurch.


Gibt es Bedürfnisse oder Probleme, die Frauen in diesen Krisensituationen anders betreffen als Männer?

LD: Männer und Frauen brauchen eine Behausung, Wasser und Nahrungsmittel. Durch die Verknüpfung von Care-Arbeit mit den gängigen Weiblichkeitskonstruktionen sind es meist Frauen und Mädchen, die Wasser und Feuerholz holen. Bei einer Dürre verlängern sich die Wegstrecken enorm. Das lässt oft auch Gewalt an Frauen und Mädchen in die Höhe schnellen.

Ein anderes Beispiel ist die Verteilung von Hygieneartikeln. In einer Gender-Analyse in Äthiopien haben wir erhoben, was in den Hygienekits drinnen sein soll. Standardmäßig sind Seife und Binden enthalten. Aber wenn Frauen konkret befragt werden, dann können ihre Bedürfnisse auch andere sein. In diesem konkreten Fall sind durch die Hungerdürre viele Tiere gestorben, und die Frauen konnten bei ihrem Weggang nur das Nötigste mitnehmen, das heißt oft nur die Kleidung, die sie am Leib trugen.

Viele Frauen hatten aufgrund der Hungerdürre auch keine Periode. Kulturell bedingt werden auch keine Unterhosen getragen, sondern es wird Stoff verwendet. Da stellt sich die Frage der Sinnhaftigkeit von selbstklebenden Binden. Wir fragen nach, was sie verwenden würden.

Anderes Thema ist Bekleidung. Welche Schuhgrößen stellt man zur Verfügung? Gibt es eine Möglichkeit, die Schuhe lokal herzustellen? Vielleicht von einer Frauenkooperative? Diese Aspekte gibt es zu beachten.


Wird aktuell in der Katastrophenhilfe genug auf Geschlechterunterschiede eingegangen?

LD: Eine geschlechtsspezifische humanitäre Intervention ist eine, die die Qualität der Intervention steigert. Diese Einsicht ist mittlerweile in humanitären Interventionen verankert, und Geldgeber_innen legen vermehrtes Augenmerk auf geschlechtsspezifische Programmimplementierung.

Trotz des humanitären Imperativs, so viele Menschenleben wie möglich zu retten, geht es darum, auf die geschlechtsspezifischen Eigenheiten einzugehen. Es geht also nicht nur darum, was getan wird, sondern auch darum, wie Programme implementiert werden. Es gibt viele Richtlinien, also genug verschriftlichtes Material, das es zu lesen, kritisch zu reflektieren und auf die kontextspezifischen Eigenheiten anzuwenden gilt. Daher gibt es keine One-Size-Fits-All-Antwort. Gender-Berater_innen sind vermehrt im Einsatz. Die Herausforderung ist es, praktische Möglichkeiten der geschlechtssensiblen Interventionen aufzuzeigen, die Berührungsängste mit abstrakten "Gender in Emergencies"-Standards zu reduzieren und die geschlechtsspezifische Expertise in lokalen Teams zu stärken.


Heißt das, wenn ein Projekt gendersensibel konzipiert ist, dann sind feministische Perspektiven darin implementiert?

LD: Es geht mehr darum, zusätzlich zum Mainstreaming und den Zielen auch in Richtung einer transformativen Gender-Gerechtigkeit zu arbeiten. Diese geschlechtersensible Arbeit braucht lokale Partnerorganisationen, insbesondere Frauenorganisationen. Geschlechternormen können durch humanitäre Krisen verschoben werden, und es ergeben sich somit neue Möglichkeiten für Frauen und Mädchen. In Kontexten wie im Irak, in denen Männlichkeitskonstruktionen stark mit der Rolle des Ernährers und Erhalters verknüpft sind, können Einkommen generierende Projekte, die sich ausschließlich an Frauen richten, zu einer Steigerung der häuslichen Gewalt führen. Vor allem wenn in der Wahrnehmung der betroffenen Bevölkerung Frauen Männern gegenüber - in männlich konnotierten körperlich anstrengenden Jobs außerhalb des Hauses oder in Jobs, die keine kulturelle Akzeptanz haben, weil Frauen gemeinsam mit nicht-verwandten Männern arbeiten - bevorzugt werden.

Die Herausforderung ist, gesellschaftlich akzeptierte Projekte für Frauen zu entwickeln, welche die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufweichen und die Autonomie von Frauen stärken. Es geht also darum, im Programmdesign kulturelle und kontextspezifische Gegebenheiten miteinzubeziehen, aber auch Entscheidungsfindungsprozesse und Informationsverteilung transparent und den Frauen zugänglich zu machen. Es geht darum nachzufragen, was Frauen unterschiedlichsten Alters und (Zivil)Status brauchen - an welchen Aktivitäten wollen sie sich beteiligen? - und zu vermitteln, dass es nicht um die Untergrabung von männlicher Autorität geht, sondern die Bedürfnisse von Haushalten anzusprechen. Ziel ist es, negative Effekte zu minimieren und langfristige Entwicklungszusammenarbeit zu stärken.


Inwieweit spiegeln sich global-hierarchische Machtverhältnisse in humanitären Projekten wider? Im Sinne von "privilegierte Person hilft armen, hilflosen Menschen". Wie wird damit umgegangen?

LD: Ich glaube, das ist eine Spannung, die sehr schwer aufzulösen ist. Es herrscht natürlich ein Machtgefälle aus einer postkolonialen Perspektive, wenn westliche Hilfsorganisationen auf "Paragleiter-Art" kommen und genauso schnell wieder abziehen. Das kann Gesellschaftsstrukturen verändern und längerfristige Entwicklungszusammenarbeitsprojekte und -programme negativ beeinflussen. Machtstrukturen müssen immer mitgedacht werden. Der Kontext, in dem gearbeitet wird, muss gekannt werden. Man muss sich dessen bewusst sein, was humanitäre Hilfe bewirken kann. Wichtig ist, lokale Traditionen, Stärken und Fähigkeiten anzuerkennen und eine inklusive und partizipative Teilnahme an Entscheidungsfindungsprozessen zu ermöglichen. Das Prinzip ist: "Do no harm!".


Glaubst du, dass "erfolgreiche" humanitäre Hilfe Fluchtbewegungen minimieren bzw. verhindern kann?

LD: Ich glaub, dass ein_e humanitäre_r Akteur_in oder auch zusammen mehrere nicht der einzige Faktor sind, Fluchtbewegungen zu verhindern. Es geht darum, längerfristige und nachhaltige Möglichkeiten zu entwickeln, damit Menschen in ihren Herkunftsländern Arbeit und Einkommen haben und ein sicheres Leben führen können. Die Frage ist, wie viel ein humanitäres Projekt dazu beitragen kann? Ich glaube, dass Naturkatastrophen immer häufiger auftreten werden und dass humanitäre Hilfe, die nicht nachhaltig und nicht ausreichend finanziert ist, nur flüchtig wie ein Tropfen auf den heißen Stein wirkt.

Es stellt sich auch die Frage, welchen Menschen es nicht möglich ist zu flüchten? Ich denke da an die Menschen im Jemen. 25 Millionen Menschen, die humanitäre Hilfe brauchen und einfach nicht wegkommen. Sie können nicht über den Golf von Aden und auch nicht durch Saudi-Arabien fliehen.

Ich glaube, dass die restriktive Flüchtlingspolitik von Europa viele Menschen abschreckt. Aber wenn Menschen keine Alternativen und Auswege mehr sehen, werden sie trotzdem diese Gefahren auf sich nehmen. Trotz Frontex-Einsätzen und den vielen Toten im Mittelmeer. Das hält die Leute schlussendlich nicht davon ab zu flüchten. Eine längerfristige, koordinierte Entwicklungszusammenarbeit ist dringend notwendig.

Die lokalen Märkte dürfen nicht durch europäische Exporte zerstört werden. Wir müssen die Zusammenhänge verstehen, und dabei ist eine antikapitalistische Kritik erforderlich.


Hörtipp: Das Interview mit Luisa Dietrich wurde im Mai 2017 im Rahmen der Sendereihe Globale Dialoge der Women on Air auf Radio Orange 94.0 ausgestrahlt. Sie können es jederzeit auf www.noso.at nachhören.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 140, 2/2017, S. 7-9
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2017

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