Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

FAMILIE/244: Nach einer Trennung oder Scheidung - Verständnis statt Vorwürfe (DJI)


DJI Bulletin 1/2010, Heft 89
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Verständnis statt Vorwürfe

Von Jörg Fichtner


Wenn Ex-Partner ihre Wut auf den anderen nicht in den Griff bekommen, kann das zu jahrelangen Streitereien und Gerichtsprozessen führen. Diese Hochkonflikt-Trennungen belasten nicht nur die Eltern und Kinder, sondern auch Fachkräfte. Was bei den Beratungen schief läuft.


Die Eltern streiten, und die Kinder leiden. Psychosoziale und auch juristische Berufe, die mit Scheidungs- und Trennungsfamilien betraut sind, werden in den letzten Jahren vermehrt mit einem Phänomen konfrontiert, das im angelsächsischen Raum mit »high conflict« bezeichnet wird: langjährige und hartnäckige Streitigkeiten von getrennten Eltern, die durch alle gerichtlichen Instanzen und beraterischen Hilfen hindurch geführt werden. Meist geht es um die Kontaktregelung oder den Aufenthalt der Kinder. Dabei ist die gute Nachricht, dass solche Konflikte die Ausnahme darstellen. So wurden beispielsweise im Jahr 2005, dem letzten Datenjahr mit entsprechenden Basisinformationen, rund 100.000 Ehen mit minderjährigen Kindern geschieden (Statistisches Bundesamt 2007). Hinzu dürften noch einmal etwa 10.000 Trennungen von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern kommen. Im selben Jahr wurden rund 35.000 Gerichtsverfahren zur Regelung der Kontakte der Kinder mit dem getrennt lebenden Elternteil abgeschlossen (Bundesministerium für Justiz 2006).


Bei jeder fünfzehnten Trennung eskaliert der Konflikt

Es ist davon auszugehen, dass fast zwei Drittel der Familien, die in Deutschland auseinandergehen, eigenständig zu einer Regelung gelangen, wie oft und wann der nicht erziehende Elternteil - meist der Vater - das Kind sehen darf. Und auch die gerichtlichen Regelungen des sogenannten Umgangs werden mehrheitlich innerhalb eines halben Jahres gefunden. Lediglich ein Fünftel dieser Fälle sind nach einem Jahr weiter gerichtsanhängig (Bundesministerium für Justiz 2006). Schätzungen in den USA kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach kommt es nur bei etwa jeder fünfzehnten Elterntrennung, also bei etwa sieben Prozent, zu stark eskalierenden Konflikten (Johnston 2003).

Von den gut 160.000 Kindern, die schätzungsweise jährlich von einer Scheidung oder Trennung betroffen sind, erwarten also nur wenige massive Nachtrennungskonflikte der Eltern. In Deutschland dürften es gleichwohl mehr als 10.000 Kinder sein, die jährlich neu zu dieser Gruppe hinzukommen. Und für die gibt es schlechte Nachrichten: Erstens sind diese Kinder erheblichen Belastungen ausgesetzt. Bereits in den 1980er Jahren wies der US-amerikanische Scheidungsforscher Robert Emery auf die Bedeutung elterlicher Konflikte für die Scheidungsfolgen bei Kindern hin. Oft sind es nicht die Trennungen an sich, sondern die Nachtrennungskonflikte, die unter anderem psychisches Befinden, Verhalten, Schulleistungen, soziale Integration und sogar die späteren Partnerbeziehungen der betroffenen Kindern nachhaltig beeinträchtigen (Buchanan u. a. 2001; Walper u. a. 2008).


Geeignete Angebote zur Unterstützung fehlen

Langdauernde Elternstreitigkeiten und dadurch bei den Kindern entstehende Loyalitätskonflikte sind so belastend, dass eine der grundlegenden Überzeugungen des deutschen Kindschaftsrechts in diesen Fällen fraglich zu sein scheint: dass der Umgang mit beiden Eltern dem kindlichen Wohl nach der Elterntrennung dienlich ist (Walper 2006; Kindler 2009). Damit geraten hochkonflikthafte Eltern - und ihre Kinder - häufig in einen Teufelskreis. Nicht zuletzt der Streit um den Umgang wird eine so starke Belastung, dass eine kindeswohldienliche Regelung fast unmöglich erscheint.

Die zweite schlechte Nachricht ist, dass die Arbeit mit solchen Eltern nicht nur die Fachkräfte stark in Anspruch nimmt, sie scheint mangels passgenauer Interventionsstrategien auch wenig erfolgreich zu sein. Zumindest weisen darauf die Ergebnisse des Verbundforschungsprojekts hin, das unter der Federführung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführt wurde. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren wurden betroffene Eltern, Kinder und Fachkräfte mehrmals befragt, um Merkmale solcher Hochkonflikt-Familien und hilfreicher Interventionsansätze zu identifizieren und der Fachpraxis in einer Handreichung zur Verfügung zu stellen.

Was kennzeichnet nun solche hochkonflikthaften Eltern? Die internationale Forschung verweist auf drei Bereiche, die als internale Aspekte (Persönlichkeitseigenschaften, psychische Probleme, generalisierter Zorn), interaktionelle Aspekte (fehlende Sensibilität für zwischenmenschliche Grenzen, verwickelte Streitmuster) und schließlich dokumentierte externale Aspekte (häufige Anwaltswechsel, lange Verfahrensdauer) klassifiziert werden können (Stewart 2001). Neben dem DJI-Verbundprojekt haben auch andere deutsche Studien für alle drei Bereiche typische Merkmale identifiziert, die entweder zum Erkennen solcher Hochkonflikt-Konstellationen sinnvoll sind oder aber erfolgversprechende Ansatzpunkte für Interventionen bieten können (Winkelmann 2005; Bröning 2009).


Misstrauisch und fordernd, aber auch hilflos

Nach den Ergebnissen der DJI-Verbundstudie sind soziodemografische Variablen ohne Bedeutung für die Entstehung von langjährigen und hartnäckigen Konflikten. Wichtige objektive Faktoren zur Einschätzung des Konfliktniveaus stellen dagegen eine anwaltliche Vertretung, ein Anwaltswechsel und eine Gerichtsanhängigkeit dar. Bei den Persönlichkeitseigenschaften scheinen insbesondere zwei Merkmale für solche zerstrittenen Eltern typisch zu sein: die geringe Offenheit für neue Erfahrungen sowie die geringe Verträglichkeit (das heißt, sie sind weniger kooperativ und misstrauischer). Beides sind Faktoren, die den Aufbau der Beratungsbeziehung und den Beratungsprozess eher erschweren. Sie müssen deswegen besonders beachtet werden.

Und schließlich findet sich auch hinsichtlich zwischenmenschlicher Aspekte ein Merkmal für diese hochkonflikthaften Eltern, das besondere Beachtung verdient: Sie haben nicht nur eine negativere Einschätzung der Partnerin oder des Partners und differenzieren weniger zwischen Eltern- und Paarebene, sondern sie verfügen auch über eine auffallend geringe Erwartung an die Selbstwirksamkeit in der Beziehung. Das bedeutet: Diese sehr aktiv erscheinenden Eltern empfinden sich selbst als eher hilflos. Die Beraterinnen und Berater, Richterinnen und Richter erleben sie stattdessen als sehr stark fordernd, denn sie brechen häufig Beratungen ab, akzeptieren Vereinbarungen nicht und leiten nicht selten neue Gerichtsverfahren ein.

Wie aber lassen sich die Konflikte, die Eltern und Kinder massiv belasten, beenden? Auch hier liefern die Forschungsergebnisse zunächst eine schlechte Nachricht, die die kritische Selbstwahrnehmung vieler Beraterinnen und Berater bestätigt: Solche Eltern beurteilen fast alle psychosozialen und juristischen Interventionsformen kritischer als Eltern mit geringeren Konflikten. Deswegen wird in den USA seit längerem schon versucht, spezifische Beratungsangebote zu entwickeln. Auch in Deutschland sind sich Beraterinnen und Berater inzwischen weitgehend einig, dass klassische Methoden wie Mediation oder systemische Beratung nur als einzelne Bausteine dienen können.

Bislang ging man davon aus, dass Hochkonflikt-Beratung insbesondere durch stärkere Strukturierung und ein direktiveres Vorgehen in der Beratung geprägt sein sollten (Alberstötter 2006). Dies scheint auch richtig zu sein, wird der Komplexität der Problematik aber nicht gerecht. Denn diese Eltern fordern von den Beraterinnen und Beratern zugleich auch besondere Empathie: Mehr als andere Eltern befürchten sie, Fachpersonen könnten ihre Position nicht nachvollziehen und Partei für den anderen ergreifen. Extrem wichtig für die befragten Frauen und Männer war der Eindruck, ob sie sich in der Beratung verstanden fühlten und die Möglichkeit hatten, ihre Sichtweise darzustellen.


Einzelgespräche können Vertrauen schaffen

Vor den gemeinsamen Gesprächen, die alle Beteiligten meist als belastend beschreiben, sollten deswegen Einzelgespräche geführt werden, in denen die Eltern Verständnis erfahren und in denen ihre Vorwürfe und Bedenken in nachvollziehbare Anliegen umformuliert werden. Erst dann sind vermittelnde, gemeinsame Gespräche aussichtsreich, in denen die Eltern die Beraterinnen und Berater als »all-parteilich« wahrnehmen. In diesen Gesprächen muss es gelingen, eine schwierige Balance zu schaffen: Einerseits sollten für offenen Fragen zumindest kleine Lösungen gefunden werden, um so die Motivation der Eltern aufrechtzuerhalten. Andererseits gilt es, kontinuierlich an der Fähigkeit der Eltern zu arbeiten, ihre gegenseitigen negativen Emotionen soweit zu bewältigen, dass die Selbstwirksamkeit in den Elternverhandlungen gestärkt wird. Häufig besteht die Notwendigkeit, dass gefundene Regelungen noch einige Zeit begleitet und gegebenenfalls weiter modifiziert werden. Parallel zur Elternberatung sollten die Beraterinnen und Berater zu einer Einschätzung kommen, wie stark die Kinder unter diesen Konflikten leiden und welcher Hilfe sie bedürfen.

Die Arbeit mit Hochkonflikt-Eltern stellt Beraterinnen und Berater vor enorme Herausforderungen. Der Impuls, diese Paare mit dem Leid ihrer Kinder zu konfrontieren, ist verständlich; Empathie für die Eltern selbst zu entwickeln, ist dagegen schwierig. Und dennoch: Ein Verstehen dieser Eltern scheint die Voraussetzung zu sein, um diese wieder offen und handlungsfähig zu machen - auch in Bezug auf die Bedürfnisse und das Leiden ihrer Kinder.


Projekt: Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft
Durchführung: Deutsches Jugendinstitut, Institut für angewandte Familien, Kindheits- und Jugendforschung (IFK), Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke)
Forschungsteam: Peter S. Dietrich, Jörg Fichtner, Maya Halatcheva, Ute Hermann, Eva Sandner, Matthias Weber
Auftraggeber: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin
Laufzeit: 01.07.2007-31.12.2009
Stichprobe: 158 Eltern (Fragebogenerhebung), davon 44 Eltern zusätzlich (Interview), Exploration und Diagnostik von 29 Kindern, 35 Fachkräften (Fragebogenerhebung), davon 31 zusätzlich (Interview), Gruppendiskussionen mit sechs Beratungsteams, Gruppendiskussionen mit sieben regionalen Arbeitskreisen
Publikationen: Fichtner, Jörg u. a. (2010): Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft. Wissenschaftlicher Abschlussbericht. München Dietrich, Peter S. u. a. (2010): Handreichung für die Praxis. München
Informationen: www.dji.de/hochkonflikt
Kontakt: sandner@dji.de, post@joerg-fichtner.de



Literatur:

Alberstötter, Uli (2006): Wenn Eltern Krieg gegeneinander führen: Zu einer neuen Praxis der Beratungsarbeit mit hochstrittigen Eltern. In Weber, Matthias / Schilling, Herbert (Hrsg.): Eskalierte Elternkonflikte. Weinheim, S. 29-51

Bröning, Sonja (2009): Kinder im Blick: Theoretische und empirische Grundlagen eines Gruppenangebotes für Familien in konfliktbelasteten Trennungssituationen. Münster

Buchanan, Christy M. / Heiges, Kelly L. (2001): When conflict continues after the marriage ends: Effects of post-divorce conflict on children. In: Grych, John H. / Fincham, Frank D. (Hrsg.): Interparental conflict and child development. New York, S. 337-362

Bundesministerium für Justiz (2006): Sonderauswertung zur Familiengerichtsstatistik 2005

Emery, Robert E. (1982): Interparental conflict and the children of discord and divorce. In: Psychological Bulletin, S. 310-330

Johnston, Janet R. (2003): Building multidisciplinary professional partnerships with the court on behalf of high-conflict divorcing families and their children. In: Praxis der Rechtspsychologie: Sonderheft 1, Tagungsbericht: Das Kind bei Trennung und Scheidung, S. 39-63

Kindler, Heinz (2009): Umgang und Kindeswohl. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, S. 110-114

Statistisches Bundesamt (2007): Statistisches Jahrbuch 2007. Wiesbaden Stewart, Ron (2001): Background paper - The early identification and streaming of cases of high conflict separation and divorce: a review. Kanada

Walper, Sabine / Langmeyer, Alexandra (2008): Auswirkungen einer elterlichen Scheidung auf die Entwicklung der Kinder. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, S. 94-97

Walper, Sabine (2006): Das Umgangsrecht im Spiegel psychologischer Forschung. In: Kirchhof, Paul / Pfeiffer, Christian / Rixe, Georg / Walper, Sabine (Hrsg.): Sechzehnter Deutscher Familiengerichtstag. Bielefeld, S. 23-42

Winkelmann, Susanne (2005): Elternkonflikte in der Trennungsfamilie als Risikobedingung kindlicher Anpassung nach Trennung und Scheidung. Dissertation. Düsseldorf


*


Quelle:
DJI-Bulletin Heft 1/2010, Heft 89, S. 15-17
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
Nockherstraße 2, 81541 München
Tel.: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de/bulletins

Das DJI-Bulletin erscheint viermal im Jahr.
Außerdem gibt es jährlich eine Sonderausgabe in
Englisch. Alle Hefte sind kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2010