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FRAUEN/352: Afghanistan-Konferenz in Bonn, Schicksal der Frauen ungewiss (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. Dezember 2011

Afghanistan: Verhandlungen in Bonn - Schicksal der Frauen ungewiss

von Devinder Kumar


Neu-Delhi, 1. Dezember (IPS/IDN*) - Vor der Internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn am 5. Dezember hat die prominente afghanische Juristin und Menschenrechtsaktivistin Najla Ayubi vor Entscheidungen gewarnt, die zu Lasten afghanischer Frauen und Mädchen gehen. Damit nahm sie Bezug auf Gerüchte, wonach den Taliban im Rahmen des Friedens- und Versöhnungsprozesses die Verantwortung für die Gerichtsbarkeit des Landes übertragen werden soll.

Sicherlich sei es ein Fehler gewesen, die Taliban nicht an den Verhandlungen in Bonn vor zehn Jahren beteiligt zu haben, so die ehemalige Staatsanwältin. Wie aber ließen sich die Rechte von Frauen schützen, wenn sich die Justiz erst in den Händen der Taliban befinde, die der Meinung seien, dass Frauen nicht am täglichen Leben, an der Entwicklung und dem Wohlergehen des Landes teilhaben sollten, fragte sie. Die islamische Rechtsprechung Scharia gehört zu den verhandelbaren Themen der Friedens- und Versöhnungsgespräche. In der afghanischen Verfassung heißt es, dass die Gesetze des Landes nicht gegen die Grundsätze des Islam verstoßen dürfen.

"Seit der Ankündigung, die internationalen Truppen aus Afghanistan abzuziehen, beobachten wir, dass sogar die internationale Gemeinschaft die Belange von Frauen nicht ernst nimmt. Was können wir dann von den Taliban erwarten?", so Ayubi im Interview mit der US-amerikanischen 'Asia Foundation', für die sie eine Zeitlang als Direktorin des Programms für Gesetzgebung, Menschen- und Frauenrechte in Kabul tätig war. "Das ist meine Sorge, die hoffentlich nie Wirklichkeit wird."


Breite Zustimmung für Einbindung der Taliban

Ayubi ist Ko-Autorin einer neuen Untersuchung der US-amerikanischen Stiftung. Die Studie mit dem Titel 'Afghanistan in 2011: A Survey of the Afghan People' beruht auf Interviews, die vom 2. Juli bis 1. August mit 6.348 Afghanen in allen 34 afghanischen Provinzen des Landes geführt wurden. Darin begrüßen 82 Prozent der Umfrageteilnehmer die Bemühungen Kabuls, im Interesse der nationalen Sicherheit die Taliban in den Verhandlungs- und Versöhnungsprozess einzubinden. 81 Prozent der Befragten teilten die Meinung der Regierung von Staatspräsident Hamid Karsai, demobilisierungs- und reintegrationsbereiten Kämpfern mit finanziellen Hilfen, Arbeit und Wohnraum unter die Arme zu greifen.

Allerdings ist der Anteil von Frauen, die eine Integration der bewaffneten Kämpfer in den Friedens- und Versöhnungsprozess befürworten, geringer (Prozentangaben fehlen). Ayubi führt diesen Umstand auf die jahrzehntelange Diskriminierung von Frauen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen zurück. Dass viele Afghaninnen Empathie für die bewaffneten Oppositionsführer vermissen ließen, erkläre sich auch aus der Sorge, von den Friedensverhandlungen nicht zu profitieren. "Und auch ich als afghanische Frau fürchte, dass meine Rechte durch die Gespräche kompromittiert werden könnten."

Natürlich seien Frauen für Frieden, aber nicht für einen Frieden, der ihre Rechte etwa auf Bewegungsfreiheit oder Bildung unterminiere, erläuterte die Juristin und kritisierte, dass Frauen bei den Friedensgesprächen lediglich eine symbolische Rolle zugewiesen werde. Zwar seien einige Frauen in hochrangigen Positionen wie dem Hohen Friedensrat oder auf Lokal- und Provinzebene in Friedenskomitees anzutreffen. Dennoch seien sie derzeit nicht in der Lage, die Stimmen und Wünsche der Frauen zu vertreten.

Wie Ayubi weiter monierte, wird den weiblichen Mitgliedern des Hohen Friedensrats nicht erlaubt, Delegationen ins Landesinnere zu begleiten. Von den männlichen Vertretern sei dann zu hören, dass Frauen aus Sicherheitsgründen nicht mitkommen könnten. "Wenn Männer durch Sicherheitskräfte geschützt werden, warum nicht auch die Frauen?", fragte Ayubi, derzeitige Leiterin des Afghanistan-Büros der 'Open Society Foundation' und Vorstandsvorsitzende des Afghanischen Frauennetzwerks.

"Die breite Unterstützung für die staatlichen Friedens- und Versöhnungsbemühungen war eine der großen Überraschungen und eines der wichtigen Ergebnisse der diesjährigen Umfrage", meinte Ayubi. Überrascht habe sie auch das hohe Ansehen der religiösen Führer in den ländlichen Gebieten. So genießen der Umfrage zufolge die religiösen Führer von allen lokalen Institutionen das größte Vertrauen der afghanischen Bürger. 70 Prozent der Befragten vertraten die Meinung, dass es regelmäßig zu Beratungen mit religiösen Führern über die in ihren Gebieten anstehenden Probleme kommen sollte.


Bildungserfolge vor allem bei Jungen

73 Prozent der Umfrageteilnehmer zeigten sich zufrieden, was den Zugang von Kindern zu Bildung angeht. Dennoch bleiben Bildung und Analphabetismus (25 Prozent) die größten Probleme, mit denen sich Afghanistans Frauen konfrontiert sehen, gefolgt von einem Mangel an Frauenrechten (15 Prozent) und häuslicher Gewalt (neun Prozent).

Ayubi räumte zwar ein, dass die Zahl der eingeschulten Mädchen in den letzten drei bis vier Jahren um mehr als 38 Prozent gestiegen sei. Doch verglichen mit der hohen Einschulungsrate bei den Jungen von 62 Prozent könne von einem ausgeglichenen Verhältnis nicht die Rede sein, sagte sie. An den weiterführenden Schulen nimmt die Zahl der Mädchen mit jedem weiteren Schuljahr immer weiter ab.

Ayubi führt die Bildungsdefizite in der Mädchenbildung auch auf den Mangel an Lehrerinnen zurück. Eltern erlauben ihren Töchtern aus Sicherheitsgründen nicht, Schulen im Nachbardorf zu besuchen, wenn es an der Schule vor Ort an weiblichem Lehrpersonal mangelt.

Die Studie, die von der US-Entwicklungsbehörde USAID finanziert wurde, ist die jüngste einer Serie empirischer Untersuchungen, die die Asia Foundation in Asien durchführt. Sie wurde in enger Zusammenarbeit mit afghanischen Organisationen einschließlich des Afghanischen Zentrums für sozioökonomische und Meinungsforschung (ACSOR) in Kabul und des Afghanischen Statistikamts CSO erstellt. (Ende/IPS/kb/2011)

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Links:
http://asiafoundation.org/publications/pdf/989
http://www.indepthnews.info/index.php/global-issues/574-afghan-womens-fate-uncertain

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2011