Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

FRAUEN/358: Indien - Bildung und Berufstätigkeit von Frauen erhöhen innerfamiliäre Gewalt in Kaschmir (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Dezember 2011

Indien: Bildung und Berufstätigkeit von Frauen erhöhen innerfamiliäre Gewalt in Kaschmir

von Sana Altaf


Srinagar, Indien, 27. Dezember (IPS) - Bessere Bildung und größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben vielen Frauen im indischen Teil Kaschmirs finanzielle Unabhängigkeit und größeres Selbstvertrauen gebracht. Allerdings steigen damit auch die Risiken, Opfer häuslicher Gewalt zu werden.

Wie Soziologen und Juristen festgestellt haben, sind gewaltsame Übergriffe in der Familie in den letzten zehn Jahren drastisch gestiegen. Offensichtlich können es die Männer nur schwer verkraften, dass ihre Autorität als Haushaltsvorstand durch die neugewonnene Unabhängigkeit der Frauen in Frage gestellt wird.

"Die Ausbildung und Berufstätigkeit von Frauen ist wichtig, um die Kluft zwischen den Geschlechtern zu überbrücken. Leider führt dies aber auch zu häuslicher Gewalt, die sich in verbalen und körperlichen Attacken äußert", sagte der Soziologe B.A. Dabla von der Universität Kaschmir.


Gewalt gegen Bibliothekarin

Hafeeza Muzaffar von der staatlichen Frauenkommission in Jammu und Kaschmir erklärte, dass gebildete Frauen eher für ihre Rechte eintreten würden. "Sie nehmen Übergriffe und Fehlverhalten nicht mehr selbstverständlich hin. Das führt zu einer Zunahme innerfamiliärer Konflikte."

"Noch vor zehn Jahren kümmerten sich die Frauen in Kaschmir fast ausschließlich um den Haushalt. Wenn die selbständigen jungen Frauen mit ihren traditionell eingestellten Schwiegermüttern in Kontakt kommen, sind Spannungen programmiert", betonte Muzaffar.

Für die 35-jährige Ulfat Jan endeten die 'Spannungen' in einer Tragödie. Die Mutter von drei Kindern aus einem Dorf in Kaschmir war von ihrem Mann Shabir Ahmad und dessen Angehörigen mit Kerosin übergossen und angezündet worden, nachdem sie die Geliebte ihres Mannes aufgesucht hatte, um sie zu bitten, ihren Mann aufzugeben.

"Als Shabir davon erfuhr, wurde er wütend", berichtet Ulfat, die aufgrund ihrer Verbrennungen dritten Grades nur mit Mühe sprechen konnte. Ihre Lippen sind aufgequollen und ihr Körper ist mit blutigen Abszessen bedeckt. "Er leerte einen ganzen Kanister Kerosin über mir aus. Dann machte er den Ofen an und verließ den Raum, als mein Körper Feuer fing. Meine Schwiegermutter hatte mich an den Armen gefesselt, so dass ich nicht weglaufen konnte", erzählt Ulfat.

Um das Haus vor dem Abbrennen zu schützen, stieß ihr Schwager die Frau aus dem Fenster. "Meine Schwägerin hat mich mit kochendem Reiswasser überschüttet. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr", sagt das Opfer. Nachbarn griffen schließlich ein und brachten die schwerverletzte Frau in ein Krankenhaus. Ulfats Mann wurde verhaftet.

Die bisher bekannten Angriffe auf Frauen sind nach Ansicht von Beobachtern nur die Spitze des Eisbergs. 2009 hatte der Soziologe Dabla im Rahmen einer Studie 200 verheiratete und ledige Frauen über häusliche Gewalt befragt. Mehr als 60 Prozent gaben an, aufgrund ihres Bildungsstands und ihrer Arbeit innerhalb der Familie diskriminiert zu werden.

32 Prozent der befragten berufstätigen Frauen erklärten, dass ihren Schwiegereltern die Berufstätigkeit missfalle. Etwa die Hälfte der Interviewten gab an, dass die Familie des Ehemannes sie um ihre Tätigkeit beneidete. 40 Prozent erklärten, aus diesem Grund psychisch unter Druck gesetzt zu werden. Dabla zufolge litten 30 Prozent der Opfer still vor sich hin.


Großteil der Angriffe auf Frauen häusliche Gewalt

Muzaffar zufolge stehen 80 Prozent aller Übergriffe auf Frauen, die von der staatlichen Frauenkommission registriert werden, mit häuslicher Gewalt in Verbindung. Jeden Tag würden durchschnittlich drei bis vier neue Fälle gemeldet.

Seit ihrer Gründung 1999 hat sich der Ausschuss mit dem Schutz der Verfassungsrechte von Frauen befasst, Beschwerden entgegengenommen und Frauen geholfen, den Rechtsweg zu beschreiten. Zwischen April 2000 und März 2010 dokumentierte die Kommission 1.333 Fälle aus Kaschmir, von denen die meisten mit Gewalt in der Familie zusammenhingen.

Offizielle Verbrechensstatistiken belegen, dass dem Ausschuss allein zwischen April und Dezember 2009 83 Vergewaltigungen gemeldet wurden, von denen einige von mehreren Tätern gleichzeitig begangen wurden. Hinzu kamen 185 Entführungen, 463 Fälle von Belästigung, 189 Meldungen über sexuelle Nötigung, elf Mitgiftmorde und 87 Übergriffe durch Ehemänner und Verwandte.

Die Frauen steckten in einem Teufelskreis der Ausbeutung, sagte der bekannte Soziologe Peerzada Mohammad Amin. "Einerseits werden sie dazu ermutigt, ihre Ausbildung fortzusetzen und Arbeit anzunehmen. Anderseits wird erwartet, dass sie weiterhin die Verantwortung für den Haushalt übernehmen." Selbst wenn eine Frau eine Vollzeittätigkeit ausübe, müsse sie abends die gesamte Hausarbeit erledigen, kritisierte er. Weigere sie sich, bekomme sie Ärger mit der Schwiegerfamilie.

Das Gesetz über häusliche Gewalt war in Kaschmir jahrzehntelang vergessen und wurde erst im vergangenen Juli wieder in Kraft gesetzt. Zumindest auf dem Papier wird Opfern häuslicher Gewalt besserer Schutz zugesichert. Erfolge sind bisher allerdings nicht in Sicht. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://ncw.nic.in/frmListStateCommission.aspx
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106208

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 27. Dezember 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2011