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FRAUEN/362: Kanada - UN-Komitee untersucht Morde an indigenen Frauen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Januar 2012

Kanada: UN-Komitee untersucht Morde an indigenen Frauen

von Jillian Kestler-D'Amours und Karina Böckmann


Montreal, Berlin, 11. Januar (IPS) - Auf Anfrage kanadischer Menschenrechtsorganisationen wird sich das UN-Komitee für die Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau mit der alarmierend hohen Zahl von Gewaltverbrechen an Kanadas Ureinwohnerinnen befassen. Die Aktivisten hoffen, dass die Untersuchung Initiativen nach sich ziehen wird, die die systematische Gewalt gegen Kanadas Ureinwohnerinnen beenden.

Von den Nachforschungen versprechen sie sich beispielsweise mehr Unterstützung für die Familien der Opfer. "Wir hoffen, dass die Gewalt endlich ein Ende nimmt, dass die Polizei ein Bewusstsein für das gravierende Problem entwickelt und dass potenzielle Täter erkennen müssen, dass sie nicht länger ungestraft davonkommen", erklärte Jeannette Corbiere Lavell von der 'Native Women's Association of Canada' (NWAC).

NWAC und Frauenaktivisten der 'Canadian Feminist Alliance for International Action' (FAFIA) hatten sich im Januar und September 2011 an das 23-köpfige UN-Frauenexpertenkomitee mit der Bitte gewandt, das Schicksal der vielen vermissten und ermordeten Ureinwohnerinnen zu untersuchen.


600 Verbrechen dokumentiert

Bisher hat die NWAC für die letzten 30 Jahre 600 solcher Fälle dokumentiert. Ihr zufolge erleiden indigene Frauen in Kanada das 3,5-Fache der Gewalt, die nicht indigene Kanadierinnen erfahren. Das Risiko der Ureinwohnerinnen, eines gewaltsamen Todes zu sterben, ist sogar um das Fünffache höher.

Der kanadischen Regierung wirft Corbiere Lavell vor, keinerlei Anstrengungen zu unternehmen, um das Problem anzugehen. Die Gewaltverbrechen würden nur halbherzig untersucht, und die Sicherheitskräfte nicht für das Problem sensibilisiert. Das sei der Grund gewesen, warum man sich an den UN-Ausschuss gewandt habe. "Wir hoffen, dass eine Untersuchung durch das Komitee Kanada aufrütteln wird."

Möglicherweise sind die Erwartungen an das Komitee zu hoch. So geht aus einer Pressemitteilung des UN-Gremiums vom 16. Dezember hervor, dass man die kanadische Regierung bisher nur zur Zusammenarbeit bei der Auswertung der erhaltenen Informationen und zu einer Stellungnahme aufgefordert habe.

Auch ist nicht sicher, ob das Komitee überhaupt die Chance erhalten wird, den Vorwürfen vor Ort nachzugehen. Um ein solches Vorhaben durchzuführen, bedarf es der Zustimmung der kanadischen Regierung. Dass sie erteilt wird, hält Maya Rolbin-Ghanie von der Menschenrechtsorganisation 'Missing Justice' in Montreal für eher unwahrscheinlich. "Kanada wird sich eine solche Demütigung, die mit den UN-Nachforschungen verbunden wäre, ersparen. Denn dann wäre klar, dass Menschenrechte verletzt wurden."

Anstatt das Phänomen der endemischen Gewalt gegen indigene Frauen zu untersuchen und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit zu schaffen, die kanadischen Ureinwohnerinnen zu schützen, habe die Regierung des seit 2006 amtierenden konservativen Ministerpräsidenten Stephen Harper die Finanzierung der indigenen Hilfsorganisationen zurückgefahren.


Geringere Mittel für Pro-Indigenen-Programme

So wurde 2010 die staatliche Unterstützung für die 'Sisters in Spirit' eingestellt. Das NWAC-Programm hatte seit 2005 die Fälle der vermissten und ermordeten Ureinwohnerinnen zusammengetragen. Stattdessen kündigte die Regierung an, zehn Millionen Dollar für den Aufbau einer Polizeistelle und einer Datenbank für Vermisste bereitzustellen. Die Behörde wird frühestens 2013 einsatzbereit sein und sich nicht allein mit den Schicksalen der verschwundenen Ureinwohnerinnen beschäftigen.

Jeannette Corbiere Lavell hält die Untersuchung des UN-Gremiums für eine Chance, die Hintergründe der Verbrechen und die Tatenlosigkeit der Behörden im Umgang mit dem Problem zu beleuchten. "Wir hoffen, dass die Ermittlungen neue Initiativen anstoßen, die uns Ureinwohner zu wollwertigen und integrierten Mitgliedern der kanadischen Gesellschaft machen."

Denn bisher kann davon keine Rede sein. Kanadas Ureinwohner gehören zu den Ärmsten der Armen im reichen Industrieland. Die verheerende Situation ethnischer Attawapiskat im Norden Ontarios, die im Dezember für Schlagzeilen sorgte, gilt als exemplarisch für die staatliche Vernachlässigung, der die meisten Mitglieder der 'First Nations' ausgesetzt sind.


Schelte vom UN-Sonderberichterstatter

Dass viele der 1.800 Attawapiskat im Winter in unbeheizten Hütten ohne fließend Wasser bei Minustemperaturen leben müssen, rief auch den UN-Sonderberichterstatter über die Rechte der indigenen Völker, James Anaya, auf den Plan. Der Regierung in Ottawa warf er in einer Stellungnahme vom 20. Dezember vor, die indigenen Gemeinschaften gegenüber nicht-indigenen Städten und Gemeinden systematisch zu benachteiligen.

Die Regierung schoss zurück. Sie warf dem UN-Vertreter vor, sich durch falsche Informationen profilieren zu wollen. Die Unglaubwürdigkeit seiner Äußerungen sei offensichtlich, sagte Michelle Yao, Sprecherin des kanadischen Ministeriums für indigene Angelegenheiten, gegenüber den Medien. "Unsere Regierung konzentriert sich auf die Bedürfnisse der Attawapiskat - nicht auf Publicty-Stunts." (Ende/IPS/kb/2012)


Links:
http://www.nwac.ca/
http://fafia-afai.org/
http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/committee.htm
http://unsr.jamesanaya.org/statements/special-rapporteur-on-indigenous-peoples-issues-statement-on-the-attawapiskat-first-nation-in-canada
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106402

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. Januar 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2012