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FRAUEN/496: Frauenbewegungen in Palästina (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 123, 1/13

Frauenbewegungen in Palästina
- ein Wissenstransfer jenseits eurozentrischer Repräsentationen?

Von Katrin Gleirscher, Katrin Oberdorfer, Daniela Pertl und Klaudia Rottenschlager



In westlichen Medienberichten über die Umbrüche in den arabischen Ländern wird häufig das Ausbleiben des "Arabischen Frühlings" in den palästinensischen Gebieten konstatiert. Fragen nach spezifischen Dynamiken palästinensischer Protestbewegungen und deren historischer Einbettung bleiben dagegen außen vor. In einer Rekonstruktion palästinensischer Frauenbewegungen versuchte Rema Hammami, Professorin der Women's Studies an der Birzeit Universität dieser Ahistorizität entgegenzuwirken. Die Aktivistin und Wissenschaftlerin schärfte in ihrem Vortrag den Blick auf meist ausgeblendete lokale Herausforderungen und Realitäten.


Am 17. Dezember 2010 löste die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi den sogenannten Arabischen Frühling aus. Seither bestimmen Bilder der Proteste und gewaltsamen Auseinandersetzungen von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien die westliche Berichterstattung. Der häufig diffus verwendete Begriff des Arabischen Frühlings gibt dabei vor, gesellschaftliche Umbrüche könnten in einer kurzen Zeit erfolgen. Politische Entwicklungen müssen jedoch als langwierige Transformationsprozesse gefasst werden. Anstatt nun aber die komplexen Realitäten der verschiedenen Länder herauszuarbeiten, wird der "Frühling" einfach in einen "Herbst" oder gar "Winter" umbenannt.

Aus einer solchen Perspektive scheinen die Proteste in einem politischen Vakuum entstanden zu sein und verfügen über keine nennenswerte Geschichte. Darüber hinaus wird von den politischen Prozessen die Orientierung an westlichen Modellen erwartet. Besonders die Rollen von Frauen und ihre politische Partizipation werden oftmals als Novum und Spektakel abgebildet. Insbesondere Fragen nach ihren Handlungsmöglichkeiten stehen im Zentrum des Interesses. Angelehnt an die palästinensische Frauenbewegung, deren Kämpfe bis in die Zeiten des Kolonialismus zurückreichen, haben wir uns die Frage gestellt, wer über Erfolg und Stagnation sozialer Bewegungen entscheidet. Der Ahistorizität westlicher Diskurse möchten wir in diesem Artikel mit der Sichtbarmachung der Geschichte der palästinensischen Frauenbewegungen begegnen.

Trotz zahlreicher Parallelen zwischen palästinensischen und westlichen Frauenbewegungen streicht Hammami in ihrem Vortrag hervor, dass Frauen im Süden stets gegen patriarchale und koloniale Herrschaftsformen ankämpfen mussten. Für den Kontext Palästinas impliziert dies, Kolonialismus und Besatzung als Instanzen mitzudenken, welche die Handlungsmöglichkeiten der Aktivistinnen bestimm(t)en. Entlang dieser Faktoren nennt Hammami drei zentrale Perioden palästinensischer Frauenbewegungen.


Britische Mandatszeit
(beginnendes 20. Jh. bis 1948)

Am antikolonialen Widerstand partizipierten zunächst bürgerliche Frauen, die sich in Wohltätigkeitsorganisationen engagierten. In den 3Oiger-Jahren beteiligte sich die Union arabischer Frauen als erste politische Frauenorganisation an antikolonialen Aktivitäten, wie dem Organisieren von Demonstrationen, Sit-ins oder dem Verteilen von Flugblättern. 1948 wurden diese Organisationen von der Nakba übereilt. Viele Frauen dieser Bewegungen wurden zu Flüchtlingen. In der Diaspora entstanden daraufhin palästinensische Frauenorganisationen, deren Ziele Bildung, Qualifizierung von Frauen, die Ermöglichung des Zugangs zum Arbeitsmarkt und die Vermittlung der eigenen Kultur, Geschichte und Tradition umfassten.


Zivilgesellschaftliche Frauenkomitees
(60iger-Jahre bis Oslo)

Mit der Formierung der PLO 1964 entstand die Generalunion palästinensischer Frauen als zentrale Repräsentationsinstanz für Frauen innerhalb der PLO. Der Libanon wurde zum Zentrum des politischen Aktivismus. In den palästinensischen Gebieten war eine politische Organisation hingegen schwer möglich, da jeglicher Aktivismus von 1967 bis zum Osloer Friedensprozess illegal war. So entstand die palästinensische Nationalbewegung als eine Untergrund-Politbewegung. Dass "die Befreiung von außen kommt", erwies sich spätestens mit der Vertreibung der PLO aus dem Libanon (1982) als "politischer Irrglaube".

Hammami zeichnet nach, wie sich trotzdem politischer Aktivismus in den palästinensischen Gebieten rührte und welchen zentralen Stellenwert Frauen in der Mobilisierung der Volksmassen für einen gewaltfreien Widerstand während der ersten Intifada einnahmen. Über Jahre entwickelte politische Netzwerke, wie beispielsweise die Errichtung von sozialen Netzwerken, ermöglichten Frauen die Teilhabe am politischen Kampf. Zur gleichen Zeit sahen sich palästinensische Aktivistinnen aber gerade mit strukturellen Fragen entlang vergeschlechtlichter Grenzen konfrontiert, denn Frauen "mussten kämpfen, um Teil des Kampfes zu werden".


NGOisierung und Professionalisierung
(1993 bis heute)

Die Unterstützungserklärung der PLO zugunsten des Irak während des ersten Golfkriegs 1991 setzte nicht nur den Grundstein für die Osloer Friedensprozesse, sondern führte zu weitgehenden Implikationen für palästinensische Frauenbewegungen. Durch die Streichung der Geldmittel anderer arabischer Länder waren Frauenorganisationen von nun an primär auf westliche GeldgeberInnen angewiesen, und politische Anliegen von Frauen wurden fast ausschließlich unter der Regulierung und den Restriktionen "wohlwollender" NGOs möglich. Westlicher Feminismus wurde für palästinensiche Frauen zu einer ahistorischen und dekontextualisierenden Schablone, welche Hammami als eine "foreign language" beschreibt, was die langjährige kollektive Arbeit der Frauenbewegungen in Palästina bis zum heutigen Tage reglementiert(e), depolitisiert(e) und desillusioniert(e). Wie können wir vor diesem Hintergrund ein solidarisches Zuhören denken, ohne dabei selbst koloniale Gewaltverhältnisse zu reproduzieren?


Perspektiven transnationaler Solidarität

Der im Zuge des Vortrags Hammamis für uns stattgefundene Wissenstransfer bedeutet aber keinesfalls einen authentischen Zugang zu Erfahrungen palästinensischer Frauenbewegungen. Vielmehr verlangt diese Auseinandersetzung die Infragestellung unserer eigenen Situiertheit als westliche ZuhörerInnen. Damit geht eine Reflexion der eigenen historischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Verstrickungen in politische Prozesse einher. Das bedeutet, ein Schreiben und Sprechen über den Arabischen Frühling ist niemals neutral, sondern muss auf die eigene Position zurückgebunden werden.

Wer mit "Feder und Tinte" über Erfolg und Stagnation sozialer Bewegungen entscheidet, produziert Geschichte (Arabischer Frühling). Anstatt nach den Handlungsmöglichkeiten palästinensischer Frauen zu fragen, stand für uns die Frage im Zentrum, wie ein solidarisches Schreiben über die aktuellen Ereignisse in den palästinensischen Gebieten möglich ist. Eine Annäherung an und Sensibilisierung für die Geschichte palästinensischer Frauenbewegungen verstehen wir als Möglichkeit, einem eurozentristischen Zugang weitgehend zu entgehen und die Wissenslücke um feministische Themen jenseits "des Westens" zu schließen. Eine Koalition transnationaler Solidarität kann demnach durch die Thematisierung der Differenzen zwischen Frauen sowie durch die Reflexion der eigenen westlichen Situiertheit geschaffen werden.


WEBTIPP:

Genauere Informationen zum Hochschulkooperationsprojekt zwischen den Universitäten Wien und Birzeit finden sich unter
http://cds-ie.univie.ac.at/en/home.html

LESETIPPS:

- Fleischmann, Ellen (2003): The Nation and its "New" Women. The Palestinian Women's Movement 1920-1948. Berkeley
- Jad, Islah (2009): The Demobilization of Women's Movement: The Case of Palestine ConflictsForum. Beirut/London.
http://conflictsforum.org/briefings/CaseOfPalestine.pdf


ZU DEN AUTORINNEN:

Katrin Gleirscher (Politikwissenschaftlerin), Katrin Oberdorfer (Psychologin), Daniela Pertl (Psychologin) und Klaudia Rottenschläger (Kultur- und Sozialanthropologin) haben die Gender AG als Teil des Forschungsclusters "Conflict, Participation and Development in Palestine" gegründet. Im Rahmen des von der EZA finanzierten "Appear-Projekts" organisierte die Gender AG einen Vortrag und Workshop zum Thema "Gender and Conflict" mit Rema Hammami.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 123, 1/2013, S. 14-15
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2013