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FRAUEN/502: Zahlen und Justiz zu Vergewaltigungen in der EU und anderswo (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 123, 1/13

Von Indien lernen
Zahlen und Justiz zu Vergewaltigungen in der EU und anderswo

Von Eva Kalny



In Indien erschüttert ein brutaler Vergewaltigungs- und Mordfall das Land, Zehntausende Frauen und Männer gehen auf die Straße und fordern besseren Schutz für Frauen. Und der ist sicher nötig angesichts eines lahmen und korrupten Justiz- und Polizeiwesens und sexistischer Angriffe.


Alle 20 Minuten eine Vergewaltigung, meldeten europäische Zeitungen in ersten Berichten, und in Postings empörten sich LeserInnen über das Ausmaß der Gewalt. Es ist unumstritten, dass jede Vergewaltigung eine zu viel ist. Doch: Alle 20 Minuten eine Vergewaltigung, das sind 26.280 im Jahr. Indien hat eine Bevölkerung von über 1,2 Milliarden Menschen - mehr als das Doppelte wie die EU, ca. 15 Mal so viel wie Deutschland, ca. 150 Mal so viel wie Österreich. In Deutschland werden jedes Jahr ca. 8.000 Vergewaltigungen angezeigt, in Österreich 600 bis 700. Mit über 26.000 Vergewaltigungen jährlich - die Zahl entspricht den angezeigten Fällen - wäre Indien für Frauen, proportional gesehen, wohl das sicherste Land der Welt.


Die geschätzte Dunkelziffer ist sehr hoch

In Indien so wie überall finden Vergewaltigungen vor allem im familiären Umfeld statt. Die Täter sind meist Partner, ehemalige Partner und "Freunde". Der gefährlichste Ort für eine Frau weltweit ist ihr Zuhause. Auch dort, wo es eine entsprechende Gesetzgebung gibt, zeigen Frauen nur selten Vergewaltigungen durch nahestehende Personen an. Deutsche Frauennotrufe gehen davon aus, dass nur ca. 5% der Vergewaltigungen angezeigt werden, die tatsächliche Zahl also bei jährlich ca. 160.000 liegt. Eine 2009 verfasste Studie bescheinigt Österreich mit 8,41 und Deutschland mit 9,82 Anzeigen pro 100.000 EinwohnerInnen eine für die EU unterdurchschnittliche Meldequote.(1)

Im Fall Indiens zirkulierte in den Medien bald eine geschätzte Dunkelziffer von bis zu 6.000 Vergewaltigungen pro Tag, also 2,19 Millionen im Jahr. Diese Zahl wäre proportional etwas niedriger als die geschätzte Dunkelziffer Deutschlands.

Diese Zahlen lassen nur begrenzt Rückschlüsse über die realen Fälle an Vergewaltigungen zu, sie zeigen aber, dass sowohl das Ausmaß der Vergewaltigungen in Europa als auch die Größe und Komplexität Indiens meist unterschätzt werden.


Immer mehr Anzeigen - immer weniger Verurteilungen

Vergewaltigung in der Ehe wurde in Indien per Gesetz erstmals 1983 für Ehefrauen unter 15 Jahren als Delikt anerkannt, seit 2006 ist Vergewaltigung in der Ehe durch den Protection of Women from Domestic Violence Act zivilrechtlich verboten, In Österreich erfolgte das zivilrechtliche Verbot 1989, das strafrechtliche Verbot in Deutschland 1997 und in Österreich 2004.

In Deutschland kommt es bei 13% der Anzeigen wegen Vergewaltigungen zu Verurteilungen, in Österreich ist die Quote von 2001 bis 2006 von 22% auf 17% gefallen(2). Damit liegen beide Länder im west- und nordeuropäischen Trend: Die Anzeigen steigen, die Verurteilungen sinken. Auch in Indien ist die Verurteilungsrate stetig gesunken, sie liegt mit 26,54% im Jahr 2010 aber immer noch deutlich höher als in der EU.

Die Unterschiede innerhalb Indiens sind wesentlich größer als die innerhalb der EU. So kommt es in der Provinz Nagaland bei 73,7% der Anzeigen zu Verurteilungen, in Arunachal Pradesh und Sikkim bei 66,7% und in Meghalaya sogar nur bei 44,4%. Die Provinz Mizoram hat die höchste Meldequote von 9,1%, die Verurteilungsrate beträgt 96,6%(3) - und entspricht damit jenen Studien, die davon ausgehen, dass Falschbeschuldigungen bei Vergewaltigungen so wie bei anderen Delikten bei 3 bis 4% liegen.

Weltweit wird regelmäßig über skandalöse Freisprüche in den Medien berichtet. Im Fall des populären deutschen TV-Moderators Kachelmann argumentierte sein Verteidiger, die medizinisch nachgewiesenen Körperverletzungen der Klägerin hätte diese sich auch selbst zufügen können, und Traumatisierungen von Vergewaltigungsopfern seien "eine von radikalfeministischen Autorinnen ersonnene Theorie"(4). Die Unschuldsvermutung sei käuflich, stellt Udo Vetter trefflich fest.(5) Im Oktober 2012 klagte Kachelmann sein Opfer zivilrechtlich auf "Schadenersatz".

Unter "vergewaltigt angezeigt eingestellt"(6) veröffentlichen Frauen in Deutschland Begründungen für die Einstellung von Verfahren. Hier liest man u. a. aus einem Bescheid: "Sie empfanden die Handlungen des Beschuldigten als abstoßend und verkrampften sich für ihn erkennbar. Dass der Beschuldigte dennoch weiterhin versuchte, den Vaginalverkehr durchzuführen, und dabei auch oberflächlich eindringen konnte, stellt jedoch keine gewaltsame Erzwingung dieser sexuellen Handlung dar. Es kann dahingestellt bleiben, ob das Spreizen ihrer Beine durch den Beschuldigten objektiv eine Gewaltanwendung im Rechtssinne darstellt." Das Absperren von Zimmertüren, aber auch das Packen des Kopfes, um Oralverkehr zu erzwingen, "kann nicht als Gewaltanwendung gewertet werden".

Vergewaltigung ist auch in der EU in den meisten Fällen straffrei, zur Anzeige kommen vor allem jene Fälle, in denen der Täter der Frau unbekannt ist. Geld und sozialer Status der Täter verhindern Gerichtsverfahren und Verurteilungen.


Indien als Vorbild für die EU?

Das Netzwerk Women Against Violence(7) in Europe geht aufgrund aktueller Daten davon aus, dass täglich ein bis zwei Millionen Frauen in der EU Gewalt erleiden, mehr als 10% der Frauen erleben sexualisierte Gewalt.

Die Bevölkerung der EU ist weniger als halb so groß wie die Indiens, die sprachliche und kulturelle Vielfalt ist wesentlich geringer, die sozioökonomischen Bedingungen sind trotz Wirtschaftskrise für den Großteil der Bevölkerung wesentlich besser, und juristische Maßnahmen und Standards werden zunehmend auf der Ebene der EU und nicht national festgelegt. Und dennoch gibt es kaum EU-weite koordinierte Reaktionen auf skandalöse Übergriffe oder Urteile. Frauen in Deutschland gehen nicht wegen eines Freispruchs von Strauss-Kahn auf die Straße, Frauen in Frankreich nicht wegen Kachelmann. Sie gehen auch dann nicht gemeinsam auf die Straße, wenn in mehreren EU-Staaten am Recht auf straffreie Abtreibung gerüttelt wird, oder - wie in Irland - Frauen wegen der Verweigerung einer Abtreibung sterben.

Und noch etwas ist in Indien gelungen: Die Tat wurde von sozial schlechter gestellten Männern an einer sozialen Aufsteigerin begangen, doch weder der soziale Status noch die religiöse, ethnische und auch nicht die Kastenzugehörigkeit der Männer führten zur Stigmatisierung im Rahmen der Proteste. An Hand eines skandalösen, aber unüblichen Falls von Gewalt an Frauen gelang und gelingt es indischen Frauen und Männern, über alle anderen Differenzen hinweg auf strukturelle Probleme von Gewalt und Sexismus aufmerksam zu machen. Gerade dieses Potential ist in der EU eher am Schwinden denn am Wachsen.


ANMERKUNGEN:

(1) Lovett, Jo, und Liz Kelly. 2009. Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases across Europe. London: cwasu, London Metropolitan University. Diese und zahlreiche weitere Studien sind über die Homepage Autonome Österreichische Frauenhäuser abrufbar: http://www.aoef.at

(2) Ebd. S. 21

(3) Für einen ausführlichen Überblick siehe "Why rape victims aren't getting justice" In The Hindu, 11.3.2012; www.thehindu.com/news/national/article29825O8.ece?homepage=true

(4) Online Focus vom 13.12.2010

(5) www.lawblog.de/index.php/archives/2011/05/31/der-zweifelsgrundsatz-ist-kuflich

(6) http://ausopfersicht.wordpress.com

(7) WAVE: Country Report 2010. Reality check on European services for women and children survivors of violence. A right for protection and support?


ZUR AUTORIN:

Eva Kalny ist Ethnologin aus Wien. Sie forscht und unterrichtet zur Zeit am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover. In ihrer Lehre zu Menschenrechten stehen zunehmend Rassismus und MuslimInnenfeindlichkeit in Europa im Mittelpunkt.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 123, 1/2013, S. 26-27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2013