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FRAUEN/503: Gewalt in Indien (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 123, 1/13

Gewalt in Indien
Frauen leisten Widerstand

Von Julia Günther



Vergewaltigungen sind Ausdruck patriarchaler Gewalt, meist gegen Frauen. Sie finden global statt - teils medial, politisch und rechtlich dokumentiert und verfolgt, teils gänzlich unbeachtet. Indien ist hier keine Ausnahme, weder in Bezug auf sexuelle Gewalt gegen Frauen noch in Bezug auf größere Beachtung. Die Vergewaltigung der 23-jährigen Medizinstudentin Jyoti Singh Pandey am 16. Dezember des Vorjahrs in Delhi erschüttert(e) nicht nur die indische Bevölkerung, sondern auch die internationale Gemeinschaft. Doch was ist anders an der Vergewaltigung dieser jungen Frau im Vergleich zu anderen, die weder strafrechtlich verfolgt noch medial berichtet werden? Worin liegt die Kraft der breiten Frauenbewegungen und deren Widerstand gegen Gewalt an Frauen, um Ungleichheitsverhältnisse aufzuzeigen und gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen? Dieser Artikel unternimmt erste Erklärungsversuche.


Jyoti Singh Pandey symbolisierte eine neue Generation von Frauen, vor allem aus der urbanen Mittelschicht kommend: Sie studierte ein renommiertes, von Männern dominiertes Fach und war anscheinend in einer vorehelichen Beziehung, was zwar in unkonventionellen Familien immer mehr akzeptiert ist, aber in konservativen Kreisen nicht gerne gesehen wird. Sie kam aus einer höheren Kaste und der aufstrebenden indischen Mittelschicht, die gespalten ist zwischen lokaler Tradition und nationalen wie internationalen Trends.

Es ist nicht die brutale Art der Vergewaltigung allein, sondern auch die Tatsache, wen und was Jyoti Singh Pandey symbolisierte, weshalb Tausende, vor allem junge Menschen auf den Straßen indischer Metropolen protestierten und Frauenbewegungen und -gruppen im ganzen Land in Aufruhr brachte. Es geht darum, wofür indische Frauenbewegungen sich seit Jahrzehnten einsetzen: für eine tatsächliche Gleichberechtigung in allen sozialen, politischen und ökonomischen Bereichen zwischen Männern und Frauen. Per Verfassung ist dieses Grundrecht seit 1950 festgeschrieben, doch die Umsetzung ist lückenhaft.


Geschichte und Recht

Geschichtlich gesehen hat die Studie "Towards Equality - initiiert von dem vom Ministry of Education and Social Welfare eingerichteten "Committee on Status of Women" - in den 1970er-Jahren eine neuerliche landesweite Diskussion über die Situation von Frauen ausgelöst und seitdem nicht mehr aufgehört. Die Studie zeigte, dass sich die Situation von Frauen seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 verschlechtert hat. Ein brutaler Vergewaltigungsfall im Jahr 1972 von zwei Polizisten an Mathura, einer 16-jährigen jungen Frau, die der Dalit-Gruppe angehörte, verstärkte den Eindruck dieser negativen Entwicklung, die gerade auch in Bezug auf Gewalt gegen Frauen zu bemerken war. Die beiden Polizisten wurden freigesprochen, was zu landesweiten Protesten führte, vergleichbar mit denen, welche die gegenwärtigen Frauenbewegungen und -gruppen organisieren. Der jahrelange öffentliche Widerstand der Frauen führte schließlich zu maßgeblichen Veränderungen in den Gesetzestexten.

Der Fall von Jyoti Singh Pandey hat erneut Folgen für das Rechtssystem Indiens. Das Ende Dezember 2012 einberufene "Justice Verma Committee" lud die Bevölkerung ein, Veränderungsvorschläge zu den bestehenden Gesetzen zu schicken. Trotz aller Kritik an diesem Komitee - es wurden nur Vorschläge in Englisch oder Hindi per Mail oder Fax akzeptiert -, trafen rund 80.000 Änderungsvorschläge zu den Gesetzestexten ein. Die eingesandten Vorschläge sind vielfältig, zielen aber vor allem darauf ab, dass es einer breiten öffentlichen Bewusstseinsveränderung bedarf, um die Gewalt gegen Frauen tatsächlich zu minimieren. Es wurde auch deutlich, dass die Mehrzahl der 80.000 Rückmeldungen gegen die Todesstrafe für Vergewaltiger ist und eine breit angelegte Kampagne sowie die Implementierung von Gesetzen fordert.

Doch worin liegt dieser so widersprüchliche Status von Frauen in der indischen Gesellschaft, und was steckt hinter den starken Frauenbewegungen? Zum einen werden sie als Göttinnen, Mütter - vor allem von Söhnen - und als Großmütter verehrt, zum anderen wird ihnen täglich strukturelle, physische und psychische Gewalt angetan. Progressive Frauengruppen erheben seit Jahrzehnten ihre Stimmen gegen die Unterdrückung von Frauen aller Kasten, "Klassen", Religionen sowie jeder sexueller Orientierung und körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung. Ihre Stimmen, Texte, Proteste und Aktionen sind vielfältig, ihre Organisationsgabe unmittelbar und nachhaltig. Die landesweiten Proteste nach der Vergewaltigung von Jyoti Singh Pandey zeigten dies deutlich.

Indien hat Tausende von Frauengruppen, die sich den verschiedensten Frauenbewegungen zuzählen lassen: u. a. Dalit, Adivasi, Umweltaktivistinnen, Sexarbeiterinnen, LGTBIQ-Aktivistinnen, Tagelöhnerinnen sowie Mittel- und Oberschichtfrauen. Obwohl diese Bewegungen zum Teil nicht unterschiedlicher sein könnten, vereint sie ihr Widerstand gegen Ungleichheitsverhältnisse. Doch gerade diese identitätstiftenden Momente bilden das Fundament für Frauen, die Teil einer (Frauen-) Bewegung sind und öffentlich wie privat Widerstand leisten.


Wo Widerstand beginnt

Eine dieser Frauen ist Jameela Nishat, Poetin und Gründerin der Organisation Shaheen, die in der Altstadt Hyderabads, Andhra Pradesh, angesiedelt ist. Shaheen unterstützt vor allem (junge) Frauen, die strukturelle und physische Gewalt in ihren Familien oder in ihren Gemeinschaften erfahren haben. Jameela Nishat setzt sich für rechtliche Verfolgung von Gewalttaten ein, bietet jungen Frauen eine Ausbildung an und ermöglicht ihnen einen geschützten Raum. Nishats Ansatz setzt bei der Identität an, denn sie sagt, erst dann, wenn frau weiß, wer sie ist und gesellschaftliche und strukturelle Zusammenhänge verstehe, könne frau auch entsprechenden Widerstand leisten. Deshalb unterstützt sie (junge) Frauen dabei, diesen Prozess zu beginnen und in der Folge in ihrem speziellen Rahmen Widerstand gegen Unterdrückung und Ungleichheitsverhältnisse zu leisten.

In meiner bisherigen Forschung zu Identitäten und Widerstandsmomenten marginalisierter Frauen in Hyderabad wurde deutlich, dass Widerstand etwas sehr Persönliches ist, obgleich die Gründe dafür bei vielen Frauen ähnlich sein können. Widerstand zu leisten kann vieles bedeuten: angefangen vom Lesen z. B. feministischer, gesellschaftskritischer AutorInnen, über das Bilden von sozialkritischen Gruppen bis hin zu großen, landesweiten Bewegungen. Es kann aber auch bedeuten, sich familiären Strukturen oder Traditionen zu widersetzen und einen eigenen, anderen Weg einzuschlagen, sei es in der Bildung oder als berufsstätige Frau. Aufgrund der zum Teil so unterschiedlichen Lebensrealitäten und zugeordneten, konstruierten sozialen Kategorien, gibt es, wie schon erwähnt, eine Vielzahl an Frauenbewegungen.


Ausblick

Die Möglichkeiten, die die Frauenbewegungen trotz ihrer Differenzen haben, sind enorm. Die aktuellen Proteste und Bewegungen machen dies deutlich. Sie zeigen auch, dass dieses gesellschaftlich so brisante Thema nicht allein in Indien aktuell ist, sondern überall auf der Welt. Solidarität kommt vor allem von Frauenbewegungen aus den Nachbarländern Bangladesch und Nepal. Eine weltweite Aktion, die die Gewalt an Frauen thematisierte und am Valentinstag stattfand, ist die "One Billion Rising"-Kampagne, initiiert von der Autorin der "Vagina-Monologe" Eve Ensler. Indische Frauengruppen beteiligten sich daran, da die Zeit rund um den Valentinstag eine neuerliche Kontroverse zwischen kultureller Globalisierung und indischer "Tradition" darstellt.


ZUR AUTORIN:

Julia Günther ist Doktorandin am Institut für Internationale Entwicklung an der Universität Wien und aktives Mitglied von WIDE (Women in Development Europe). Ihre Forschungsarbeiten zu Frauenbewegungen und Frauenwiderstand führen sie seit 2004 wiederholt in den südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 123, 1/2013, S. 28-29
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2013