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FRAUEN/544: Indien - Kontroverse über Frauenquote als Waffe gegen Männergewalt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. Juli 2014

Indien: Kontroverse über Frauenquote als Waffe gegen Männergewalt

von Neeta Lal


Bild: © Avishek Mitra/IPS

Frauen in Feierstimmung vor dem Haus der Politikerin Mamata Banerjee
Bild: © Avishek Mitra/IPS

Neu-Delhi, 1. Juli (IPS) - Die kollektive Empörung über die mangelnde Sicherheit für Frauen in Indien ist nicht neu. Von der Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau in einem Bus in Neu-Delhi vor zwei Jahren bis hin zur kürzlichen Vergewaltigung und Ermordung zweier Teenager im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh - die geschlechtsspezifische Gewalt sorgt ständig für Schlagzeilen.

Seitdem Narendra Modi von der nationalistischen Bharatiya-Janata-Partei (BJP) Ende Mai als neuer Regierungschef vereidigt wurde, diskutiert man in dem Land heftig darüber, ob ein höherer Anteil von Frauen im Parlament solche Verbrechen verhindern und die Apathie in der Politik beenden könnte.

Staatspräsident Pranab Mukherjee versicherte Anfang Juni, dass er sich dafür einsetzen werde, dass 33 Prozent der Mandate im Parlament und in den Volksvertretungen der Bundesstaaten den Frauen vorbehalten werden. Die Verabschiedung eines Gesetzes, das Frauen ein Drittel der Sitze im Unterhaus ('Lok Sabha') und in den Parlamenten der Bundesstaaten garantiert, könnte nach Ansicht von Experten eine wichtige Botschaft sein. Die bereits 2010 vom Oberhaus ('Rajya Sabha') angenommene Gesetzesvorlage muss nun noch das Unterhaus passieren und von Modi gegengezeichnet werden.

Nach Ansicht politischer Beobachter ist die Verabschiedung mit Blick auf die überfälligen Wahlrechts- und Parlamentsreformen unerlässlich. Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter ist in der Verfassung Indiens festgeschrieben. Zudem hat das Land mehrere internationale Abkommen und Menschenrechtsvereinbarungen ratifiziert, die Frauen die gleichen Rechte wie Männern einräumen. An erster Stelle steht dabei das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW), das 1993 ratifiziert wurde.

Trotz der Versprechen auf Papier sind Frauen in der 'größten Demokratie der Welt' stark unterrepräsentiert. Von den 543 Abgeordneten des Unterhauses in Neu-Delhi sind lediglich 61 weiblich. Frauen sind in allen politischen Ämtern deutlich benachteiligt, obwohl sie fast die Hälfte der insgesamt etwa 1,2 Milliarden Inder stellen. Bei den jüngsten Wahlen bewarben sich 7.527 Männer, jedoch nur 632 Frauen um ein politisches Mandat.


Söhne nach wie vor beliebter als Töchter

"Würde dagegen ein Drittel der Parlamentssitze von Frauen gehalten, käme ein Kontrollsystem in Gang, dass dafür sorgen würde, dass die Behörden etwa bei Vergewaltigungen wachsamer wären", ist die Soziologin Pratibha Pande überzeugt.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass indische Familien nach wie vor männliche Nachkommen bevorzugen. Seit 1996 ist es zwar verboten, das Geschlecht von Kindern vor der Geburt bestimmen zu lassen. Die Vereinten Nationen gehen jedoch davon aus, dass etwa 50 Millionen Frauen in Indien 'fehlen', weil weibliche Föten abgetrieben und neugeborene Mädchen getötet werden. Die Mädchen, die überleben, werden meist schlechter versorgt als Jungen.

Das patriarchalische Denken ist im ganzen Land so tief verwurzelt, dass es in Indien laut einem 2011 durchgeführten Zensus 37 Millionen weniger Frauen als Männer gibt (586,5 Millionen Frauen im Verhältnis zu 623,7 Millionen Männern). Auch bei der Alphabetisierung sind Männer mit einem Anteil von 76 Prozent deutlich im Vorteil. Demgegenüber können nur 54 Prozent der Frauen lesen und schreiben.

Während des jüngsten Wahlkampfes erklärten viele Parteien, darunter auch die konservative BJP, deren Sieg die jahrzehntelange Herrschaft der Kongress-Partei beendete, dass sie sich für die Rechte von Frauen engagieren und gegen das hartnäckig fortbestehende Missverhältnis der Geschlechter in der Politik angehen wollten. Keine Partei schickte jedoch mehr als eine Handvoll Frauen in den Wahlkampf. Für viele Beobachter handelte es sich zudem um "Alibi"-Kandidatinnen.

Wie die an der britischen Universität von York forschende Politologin Carole Spary in einer kürzlich verbreiteten Untersuchung feststellte, schätzen Parteien in Indien die Chancen von Frauen, sich bei Wahlen durchzusetzen, als gering ein. Angesichts dieses Risikos stellten sie deshalb wenige Kandidatinnen auf. Amitabh Kumar vom Zentrum für Sozialforschung in Neu-Delhi, der sich seit Jahren für eine Frauenquote einsetzt, sieht auch nach sechs Jahrzehnten Unabhängigkeit des Landes die Frauenfeindlichkeit noch tief verwurzelt.


Millionen Dollar für Wahlkampf vonnöten

"Selbst fähige Frauen, die exzellente Führungsqualitäten unter Beweis gestellt haben, können nur mit Mühe Geld für ihren Wahlkampf aufbringen", meint Kumar. "Wer für einen Sitz im Parlament kandidieren will, muss über mindestens fünf Millionen US-Dollar verfügen. Doch wie viele Frauen in Indien können so viel Geld zusammenbringen?"

Frauen machen nur elf Prozent des indischen Unterhauses aus, ein auch im Vergleich zu den asiatischen Nachbarländern sehr niedriger Anteil. Nach aktuellem Zahlen der in Genf ansässigen Interparlamentarischen Union (IPU) beträgt der Anteil weiblicher Abgeordneter im bangladeschischen Unterhaus 19,3 Prozent, in Pakistan 20,7 Prozent und in Nepal 29,9 Prozent. Nicht viel besser sieht es im Oberhaus in Neu-Delhi aus, wo Frauen im vergangenen Jahr 11,5 Prozent der Mitglieder stellten. Der weltweite Durchschnitt liegt bei 19,6 Prozent.

Analysten halten eine hohe Zahl von Parlamentarierinnen nicht nur aus Gründen sozialer Gerechtigkeit für zwingend notwendig. Sie sind zudem überzeugt, dass dadurch die Ursachen für die Geschlechterhierarchien im gesamten öffentlichen Leben beseitigt werden. "Solange Frauen nicht sichtbarer werden, können sie politische Entscheidungen nicht beeinflussen ", sagt Pande.

Aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der britischen Hilfsorganisation 'Oxfam' geht hervor, dass von Frauen geleitete Verwaltungseinheiten in ländlichen Regionen ('Panchayats') in vielen Bereichen besser funktionieren, als wenn ihnen Männer vorsitzen. So seien Fortschritte bei der Trinkwasserversorgung, der Verfügbarkeit von Toiletten, bei der Kanalisation oder der Bereitstellung von Sozialleistungen zu beobachten. Der Studie zufolge könnte die Verabschiedung des geplanten Gesetzes auch dazu führen, dass mehr Verbrechen zur Anzeige gebracht werden.

Die Tatsache, dass immerhin fast 25 Prozent der Mitglieder von Modis Kabinett Frauen sind, lässt die Frauenbewegung hoffen. Zum ersten Mal sind in Indien sieben Ministerinnen im Amt. Damit scheinen die Chancen zu steigen, dass das Land größere Fortschritte beim Ausgleich des Missverhältnisses der Geschlechter in der Politik machen wird. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/06/womens-political-representation-lagging-in-india/

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IPS-Tagesdienst vom 1. Juli 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2014