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FRAUEN/560: Indien - Apps zum Schutz von Frauen vor Gewalt haben Hochkonjunktur (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. November 2014

Indien: Apps zum Schutz von Frauen vor Gewalt haben Hochkonjunktur

von Sujoy Dhar


Bild: © vgrigas/CC-BY-SA-2.0

In Indien sind Sicherheits-Apps für Frauen gefragt
Bild: © vgrigas/CC-BY-SA-2.0

Neu-Delhi, 17. November (IPS) - Es ist 21.45 Uhr und die 23-jährige Studentin Manira Chaudhury ist auf dem Heimweg. In der Rikscha, die sie angehalten hat, setzt sie von ihrem iPhone aus einen Notruf an zwei Freundinnen ab, die prompt reagieren. "Es ist alles in Ordnung", beruhigt Chaudhury die beiden aufgeregten Anruferinnen. "Ich wollte nur testen, ob die App funktioniert."

Bei der Anwendung handelt es sich um VithU, die vom indischen Fernsehsender 'Channel V' im Anschluss an die brutale Gruppenvergewaltigung einer Medizinstudentin in einem Bus in Neu-Delhi entwickelt wurde und seit November letzten Jahres verfügbar ist. Aktiviert wird die Applikation durch einen zweifachen Fingerdruck auf ein Icon, dass den Hilferuf 'Ich bin in Gefahr. Ich brauche Hilfe. Bitte ortet mich.' verschickt und die Koordinaten des Aufenthaltsortes des mutmaßlichen Opfers durchgibt.

"Zum Glück war ich noch nie in der Situation, auf die Anwendung zurückgreifen zu müssen", erläutert Chaudhury. "Ich bin zwar der Meinung, dass Frauen und Mädchen nicht in der ständigen Angst vor einem Übergriff leben sollten. Doch dürfen wir nicht so tun, als gebe es die Gefahr nicht. Wir wissen, dass da draußen schlimme Dinge geschehen können. Deshalb ist es klug, Vorkehrungen zu treffen."


Hohe Apps-Nachfrage seit dem Fall Nirbhaya

Während in Indien die iPhone-Dienstleister unzählige Sicherheits-Apps anbieten, will die Regierung noch in diesem Monat eine eigene Sicherheits-App herausbringen, die mit dem Notruf-Dienst 181 verbunden wird. "Durch diese App sollen auch Drohungen als Vorstufe tätlicher Übergriffe gemeldet werden", sagt die Frauenrechtlerin und Menschenrechtsanwältin Khadijah Faruqui, die die Hotline 181 leitet.

Die Sicherheits-Apps sind eine von vielen Antworten auf die Vergewaltigung der Medizinstudentin Nirbhaya, die von ihren Peinigern mit einer Eisenstange so schwer verletzt wurde, dass sie später im Krankenhaus an den inneren Verletzungen starb. Der Vorfall hatte in dem 1,2 Milliarden Einwohner zählenden Land massive Proteste ausgelöst und den Ruf nach schärferen Gesetzen, verbesserten Sicherheitsvorkehrungen, einer Sensibilisierung der Polizei für geschlechtsbedingte Gewalt und staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Frauen vor sexueller Gewalt laut werden lassen.

Abgesehen davon, dass vier der Täter zum Tode verurteilt worden sind, haben Abgeordnete und Politiker auf das Verbrechen gegen die Medizinstudentin im letzten Jahr mit einer Reform des Strafrechts reagiert, dass um verschiedene sexuelle Delikte erweitert wurde und Übergriffe wie Stalking, Voyeurismus und Belästigung kriminalisiert. Darüber hinaus richtete die Regierung sechs neue Schnellgerichte für Vergewaltigungsopfer ein.

Doch die rechtlichen Änderungen haben der Häufigkeit und Brutalität von Vergewaltigungen keinen Abbruch getan. Die jüngsten verfügbaren Zahlen des Nationalen Büros für Kriminalitätsstatistik stammen aus dem Jahr 2012. Danach kommt es jährlich zu 24.923 Vergewaltigungen. Polizeiberichten aus verschiedenen Städten ist zu entnehmen, dass die Zahl der sexuellen Übergriffe auf Indiens Frauen zwischen 2013 und 2014 dramatisch angestiegen ist. Indiens Finanzzentrum Mumbai beispielsweise, lange ein sicherer Ort für Frauen, verbuchte eine Zunahme angezeigter Vergewaltigungen um 43 Prozent. In Neu-Delhi haben sich die Übergriffe im Jahr 2013 verfünffacht.

Vor diesem Hintergrund begrüßen Indiens Frauen Innovationen, die sie vor der konstanten Gefahr sexueller Gewalt schützen sollen. So hat unlängst 'Microsoft India' unter dem Namen 'Guardian' ('Beschützer') eine Anwendung für Handys mit Windows Phone entwickelt, die Freunden und Familien erlauben, die Aufenthaltsorte ihrer Angehörigen in Echtzeit über Cloud-Dienste zu verfolgen. Die App verfügt zudem über eine SOS-Warn-Funktion, die dem Nutzer erlaubt, mögliche Angriffe aufzuzeichnen.

Wie der Geschäftsführer von 'Microsoft-IT India', Raj Biyani, berichtet, handelt es sich um eine robuste Anwendung, die mehr Sicherheitsleistungen und Möglichkeiten zu bieten hat als andere vergleichbare Apps, wie sie Smart-Phone-Usern zur Verfügung stehen.


Präventions-Apps

Hohe Nachfrage genießt auch die von der US-Regierung gesponserte App 'Circle of 6', die 2011 den Wettbewerb 'Apps gegen Übergriffe' gewonnen hat. Die für iPhones und Android-Betriebssysteme entwickelte App bietet den Nutzern zahlreiche Icons an, mit denen sie einem Kreis aus sechs Personen anzeigen können, was sie gerade brauchen: Hilfe, einen Anruf oder einen Rat. Auch können in Bedrängnis geratene Frauen in Kontakt zur 24/7-Frauen-Hotline in Neu-Delhi, zu der Frauenberatungsstelle der Frauenorganisation 'Jagori' und zu einem führenden Anwaltskollektiv treten.

In den USA ursprünglich als Schutz gegen Vergewaltigungen bei Verabredungen gedacht, erlebte die App in Indien einen 1.000-prozentigen Anstieg der Downloads. Daraufhin wurde sie in Hindi übersetzt und an den indischen Kontext angepasst.

Von solchen privaten Initiativen inspiriert will nun auch die indische Regierung stärker als bisher für die Sicherheit von Frauen sorgen. Unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Manmohan Singh billigte das Finanzministerium Vorschläge, die die polizeilichen, mobilen und rechtlichen Angebote zum Schutz von Frauen verbessern sollen. Eingerichtet wurde ein 16 Milliarden Dollar schwerer Fonds zur Finanzierung von Projekten zum Schutz von Frauen vor Gewalt.

So ist die Umsetzung eines Vorschlags des Innenministeriums geplant, der auf Beratungen mit dem Ministerium für Informationstechnologien zurückgeht, die Polizeibehörden in das iPhone-Netzwerk zu integrieren, damit die Beamten im Fall eines Hilferufs das Opfer aufspüren können, um ihm zu Hilfe zu eilen. Das Ministerium für Informationstechnologie hat ferner vor, alle Mobiltelefonie-Hersteller auf die Einrichtung eines SOS-Buttons zu verpflichten. Dieses System soll in zwei Phasen in 157 Städten eingeführt werden.

Ein weiteres Projekt wird vom Indischen Institut für Technologie (IIT) entwickelt. Es sieht ein eigenständiges Sicherheitssystem in Form einer Armbanduhr vor. Das Straßentransportministerium wiederum hat vorgeschlagen, die öffentlichen Transportfahrzeuge in 32 Städten, die mehr als eine Million Einwohner zählen, an GPS-Systeme anzuschließen, um den Sicherheitskräften die Möglichkeit zu geben, auf Angriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln zu reagieren.


57 Vergewaltigungen am Tag

Die massive Gewalt gegen Frauen in Indien - nach Angaben der Commonwealth-Initiative für Menschenrechte werden jeden Tag in Indien durchschnittlich 57 Vergewaltigungen angezeigt - lässt sich mit den Apps allein nicht besiegen. Nach Ansicht von Jasmeen Patheja, Gründerin des von Studenten der Srishti-Schule für Kunst, Design und Technologie in Bangalore entwickelten Projekts 'Blank Noise', das öffentlich wirksame Aktivitäten gegen sexuelle Belästigung durchführt, muss dafür gesorgt werden, das Gewaltopfern aktive Hilfe widerfährt.

Rimi B. Chatterjee, Schriftstellerin, Aktivistin und Englischdozentin an der angesehenen Jadavpur-Universität, die im September einen Protestmarsch gegen die Belästigung einer Studentin auf dem Campus angeführt hatte, ist der Meinung, dass die Apps vor allem den Herstellern nützen. Viel wichtiger seien Beratungs- und Trainingskurse für Männer, damit diese die von ihren Vätern übernommenen frauenfeindlichen Sichtweisen überwänden.

Doch Khadijah Faruqui ist überzeugt, dass die App, die mit der Hotline 181 am 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, an den Start gehen wird, die Lücken schließen kann, die existierende Anwendungen hinterlassen haben. Ziel sei es ferner sicherzustellen, dass Frauen, die in Bedrängnis gerieten, rechtzeitig Hilfe erhielten. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/11/womens-safety-schemes-go-mobile-in-india/

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IPS-Tagesdienst vom 17. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2014