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FRAUEN/584: Argentinien - Massenproteste gegen Frauenmorde (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Juni 2015

Argentinien: Massenproteste gegen Frauenmorde

von Fabiana Frayssinet


Bild: Mit freundlicher Genehmigung der Kampagne 'Keine einzige mehr'

Menschen bewegten sich am 3. Juni zu Hunderttausenden auf das Kongressgebäude in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires zu, um wirksame Maßnahmen gegen Frauenmorde einzufordern
Bild: Mit freundlicher Genehmigung der Kampagne 'Keine einzige mehr'

BUENOS AIRES (IPS) - In der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires sind am 3. Juni mehr als 200.000 Menschen auf die Straßen gezogen, um wirksame Maßnahmen gegen Frauenmorde einzufordern. Nach der überraschenden Resonanz der Kampagne 'Ni una menos' ('Keine einzige mehr') wollen die Organisatoren die Gunst der Stunde nutzen, um im Vorfeld der allgemeinen Wahlen im Oktober Einfluss auf die Parteiprogramme zu nehmen.

"Auf den Kundgebungen wurden bereits konkrete Forderungen gestellt", betonte Fabiana Túñez, Mitbegründerin der Organisation 'La Casa del Encuentro', die an den Protesten beteiligt war, die eine Gruppe von Journalistinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen über die sozialen Netzwerke spontan einberufen hatte. In dem politisch stark polarisierten Land folgten dem Aufruf die Vertreter der unterschiedlichsten Parteien und Sektoren wie Gewerkschaften, Studentenvereinigungen und konservativen Glaubensgruppen.

"Wir werden versuchen, uns mit Politikern aller Couleur zu treffen, die bei den kommenden allgemeinen Wahlen im Oktober kandidieren werden, um sie zu konkreten Strategien gegen Frauenmorde anzuhalten", sagte Túñez. "Alle politischen Kräfte im Land müssen aufnehmen, was bei den Massenprotesten gefordert wurde."

Die Kunst- und Kulturschaffenden wie die Cartoonistin Maitena (Burundarena) hatten auf der Kundgebung die Umsetzung, einen Etat und adäquate Mechanismen zur Einhaltung des Nationalen Aktionsplans gegen Gewalt gegen Frauen, der im Gesetz 26.485 für den umfassenden Schutz der Frauen zwar vorgesehen ist, aber bisher nicht festgelegt wurde, gefordert.

'Stoppt die Frauenmorde', 'Lasst uns damit aufhören, hilflose Prinzessinnen und gewalttätige kleine Männer aufzuziehen', 'Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeit, dass man uns tötet', 'Wenn ihr uns liebt, hört auf, uns zu verprügeln, zu vergewaltigen und umzubringen', war am 3. Juni auf den Transparenten der vorwiegend weiblichen Demonstranten zu lesen.

Doch auch Männer und ganze Familien nahmen an den Kundgebungen in Buenos Aires und anderen Städten teil. "Die Gesellschaft ist die vielen Frauenmorde leid", erklärte Tuñez. "Deshalb haben sich so viele Menschen an dem Protest beteiligt." Ihre Organisation gibt die Zahl der Frauenmorde in den letzten sieben Jahren mit 1.808 an. Tausende Kinder wurden durch die diskriminierungsbedingten Verbrechen an Frauen ihrer Mütter beraubt und in einigen Fällen zum Zusammenleben mit den Mördern, ihren Vätern, verurteilt.


Zahl der Femizide steigt

Den Organisatoren der Demonstration zufolge haben die Frauenmorde in den letzten Jahren zugenommen. Kam es 2008 alle 40 Stunden zu einem solchen Verbrechen, verkürzte sich der Zeitraum 2014 auf 30 Stunden. Auf den Kundgebungen Anfang des Monats wurden zudem eine umfassende Untersuchung der Frauenmorde, rechtlicher und polizeilicher Schutz von Frauen vor gewalttätigen Partnern und die Einrichtung zusätzlicher Schutzhäuser für weibliche Opfer innerfamiliärer Gewalt angemahnt.

Soraima Torres, eine Demonstrantin, meinte gegenüber IPS: "Wir verlangen die Einhaltung der Gesetze. Wir wollen keine sexistischen Richter. Wir kämpfen gegen die Tatsache an, dass jeder ein Recht hat, unsere Töchter zu begrabschen oder zu vergewaltigen, nur weil sie einen Minirock tragen." Männern müsse beigebracht werden, dass sie kein Recht hätten, Frauen zu verletzen, zu vergewaltigen, zu schlagen oder zu töten, fügte ihre Tochter Mariela mit der eigenen Tochter auf dem Arm hinzu. "Ich bin nicht weniger wert als ein Mann."


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Soraima Torres mit Tochter und Enkelin auf der Demonstration gegen Frauenmorde am 3. Juni in Buenos Aires
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Die Organisatoren der Demonstrationen verlangten ferner die vollständige Einführung des von der Regierung von Staatspräsidentin Cristina Fernández beschlossenen Aufklärungsunterrichts an den Schulen. Konservative Kreise hatte die vollständige Übernahme des Plans verhindert.

Wie Evelyn Garazo, eine 18-jährige Demonstrantin, betonte, gilt es sich im Aufklärungsunterricht auch mit der Vorstellung von Mädchen und Frauen, was 'Liebe' ist, auseinanderzusetzen. "Ich habe viele Freundinnen, die sich von ihren Freunden Vorschriften machen lassen, weil sie denken, das müsse in einer Liebesbeziehung so sein", erklärte sie.


Abschaffung stereotyper Fernsehspots gefordert

Wie der Wirtschaftswissenschaftler Sergio Drucaroff gegenüber IPS erklärte, ist es höchste Zeit für die Abschaffung stereotyper und "obszöner" Werbespots, die Frauen in ein seit 50 Jahren kolportiertes Rollenbild zwängten. "Kaufe ich etwa kein Waschpulver, kein Reinigungsmittel und keine Zahncreme? Es ist inakzeptabel, dass Dutzende Programme Sendungen ausstrahlen, in denen sexistische Sprüche geklopft werden, die Frauen degradieren."

Der Angestellte Luis Bignone, der ebenfalls an der Großdemo in Buenos Aires teilgenommen hatte, erklärte, dass es wichtig sei, Männern mit einem machistischen Weltbild zu vermitteln, dass Mannsein nichts mit Gewalt zu tun habe.

Heftige Kritik richtete sich gegen das argentinische Justizsystem, das nur allzu häufig Frauenmorde als Kavaliersdelikte behandelt. In einem Twittereintrag kritisierte Staatspräsidentin Fernández Richter, die prügelnde Männer mit sechs Monaten Freiheitsstrafe davonkommen ließen. "Wir haben es hier nicht nur mit einem rechtlichen oder polizeilichen Problem zu tun. Wir sehen uns mit einer Kultur konfrontiert, die sich verheerend auf Frauen auswirkt, wo immer sie sich auch befinden", schrieb sie.

Auch die Familien der Opfer beteiligten an den Protesten. Julia Ibarra war mit einem Großformat des Bildes ihrer 21-jährigen Tochter Tamara López unterwegs, die in El Tigre ermordet worden war. Die Stadt nördlich von Buenos Aires ist berüchtigt für eine hohe Zahl von Vergewaltigungen und Femiziden. Angenommen wird, dass Drogen- und Menschenhändlerkartelle, gedeckt von den Behörden, hinter den Verbrechen stecken.

Tamara López hatte am 15. Januar um 23.00 Uhr das Haus verlassen. Neun Tage später wurde ihre Leiche gefunden. Obwohl die Mutter den Freund der jungen Frau als mutmaßlichen Täter angegeben hatte, wurde nichts gegen den Mann unternommen. Der Drogendealer soll an der Ermordung von mindestens zwei weiteren Frauen beteiligt gewesen sein. (Ende/IPS/kb/06.05.2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2015/06/ni-una-menos-grito-contra-femicidios-ingresa-en-agenda-argentina/
http://www.ipsnews.net/2015/06/ni-una-menos-the-cry-against-femicides-finally-heard-in-argentina/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. Juni 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2015

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