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FRAUEN/629: Rojava - Die freie Frau ist Grundlage für eine freie Gesellschaft (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 135, 1/16

Die freie Frau ist Grundlage für eine freie Gesellschaft!

Widerstand von Frauen aus Rojava

von Meike Nack


Die Berichterstattung in Europa über Rojava in Nordsyrien ist in erster Linie eine Kriegsberichterstattung, in der Frauen, die zur Waffe gegriffen und den Islamischen Staat (IS) zurückgedrängt haben, eine wichtige Rolle spielen. Es wird jedoch verschwiegen, dass die hervorstechendste Waffe der Frauenbewegung in Rojava nicht die Schusswaffe ist. Es finden nämlich auf gesellschaftlicher Ebene gerade umfassende Veränderungen statt. Die Stiftung Weqfa Jina Azad a Rojova (WJAR) unterstützt Frauen und Kinder mit emanzipativen Projekten in ihrer Selbstbestimmung und -organisierung in Rojava.

Nordsyrien ist ein Teil der Heimat der Kurd_innen und wurde mit dem Lausanner Vertrag 1923 dem Syrischen Staat zugeteilt. Die Kurd_innen nennen dieses Gebiet Rojava, was so viel wie der Westen heißt. Sie haben dort immer mit anderen Völkern wie Araber_innen, Assyrer_innen, Armenier_innen und Turkmen_innen zusammengelebt.

Als der Arabische Frühling nach Rojava kam, haben sich die Kurd_innen gegen einen Krieg mit dem Assad-Regime und für einen dritten Weg in ihrer Region entschieden. Sie entwickelten ein alternatives Gesellschaftsmodell: die Demokratische Autonomie. Von der Basis her organisierten sie ein gleichberechtigtes Miteinander der Geschlechter, Völker und Religionen. Es ist ein modernes und demokratisches Konzept, in welchem verschiedene Völker und Religionen unter besonderer Berücksichtigung der angestrebten Geschlechtergleichberechtigung miteinander leben.


Demokratische Autonomie

Frauen sind in allen Lebensbereichen autonom, und so werden alle Entscheidungen in Rojava mit Zustimmung der Frauenbewegung "Yeketiya Star", die alle Lebensbereiche mitbestimmt, verabschiedet. Die Gesellschaft organisiert sich auf Stadt- und Kantonebene in einem Rätesystem. Den Vorsitz führen immer eine Frau und ein Mann. Es wird gemeinsam entschieden, wie die Bedürfnisse der Bevölkerung mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Ressourcen befriedigt werden können. Dazu werden Komitees zu Verteidigung, Bildung, Ökonomie, Gesundheit, Problemlösung und Versöhnung eingesetzt.

In den westlichen Medien wird kaum berichtet, dass YPG und YPJ (Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten, und Yekîneyên Parastina Jin, Frauenverteidigungskräfte) das Gebiet der Demokratischen Autonomie und ihr Gesellschaftsmodell militärisch verteidigen. Neben den massiven Angriffen des IS ist dieses Projekt vor allem von den politischen Interessen der Türkei und ihrem Bestreben nach einer Vormachtstellung im Mittleren Osten und einer Vernichtung der Autonomie der Kurd_innen bedroht.

Die Situation in Nordsyrien ist derzeit von Krieg, Embargo und Gewalt bestimmt. Ein Viertel der Bevölkerung in Rojava sind Flüchtlinge - aus zerstörten arabischen Städten oder innerhalb Rojavas. Vor dem Krieg war die Lebenssituation der Frauen geprägt von struktureller Gewalt - Ausschluss von Bildung, ökonomischer Abhängigkeit und einem feudal-patriarchalen Verständnis von Geschlechterrollen. Zumeist war der Lebensraum von Frauen auch mit Schul- und Studienabschlüssen die Familie. Mit den traumatischen Erfahrungen durch die brutalen Angriffe des IS, dem durch diesen eröffneten Frauenhandel, den Massenvergewaltigungen, den verschollenen Familienangehörigen sowie den unsicheren Perspektiven hat sich die Lebenssituation von Frauen und Kindern verschärft. Deswegen gilt es, Frauen zu stärken und deren Verankerung in der Gesellschaft zu fördern.


WJAR

Die am ersten September 2014 gegründete Stiftung der Freien Frau in Rojava (Weqfa Jina Azad a Rojova, WJAR) unterstützt Frauen und Kinder mit ihren Projekten in den Kantonen Kobane, Afrin, Cizire und in Sinjar. WJAR will mit den Projekten die ökonomische, kulturelle, soziale und gesundheitliche Situation von Frauen und Kindern verbessern. In einer von der Stiftung durchgeführten Studie zur Lebens- und Einkommenssituation der Frauen in Qamishlo gaben die Befragten besonders den Wunsch nach Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, einem Bildungs- und Betreuungsangebot für ihre Kinder und Zugang zur Gesundheitsversorgung an. Dies war die Grundlage für bisherige Aktivitäten von WJAR.

Trotz der zahlreichen Hindernisse, wie dem Embargo gegen Rojava, den Einreisebeschränkungen nach Rojava seitens der Türkei sowie auch der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak und den bürokratischen Behinderungen seitens des syrischen Staates, kann WJAR auf ein erfolgreiches erstes Jahr zurückblicken. Es ist gelungen, viele Projekte auf den Weg zu bringen und zahlreiche Frauen aus Rojava und auch aus Europa für ein gemeinsames Engagement zu gewinnen.

Im Rahmen der Projekte hat WJAR ein Frauengesundheitszentrum in Serê Kaniyê errichtet, über hundert unterschiedliche Aus- und Fortbildungen im Gesundheitsbereich in Qamishlo und Serê Kaniyê durchgeführt, fünf Vorschulen im Kanton Cizire sowie eine Schneiderei im Camp Newroz, dem Flüchtlingslager in Rojava für Ezid_innen aus Sinjar, aufgebaut. Es wurden regelmäßig Ärztedelegationen zur Gesundheitsversorgung nach Sinjar geschickt und Musikkurse für Kinder angeboten.


Zukunftspläne

Das zweite Jahr hat mit einer Erweiterung der Arbeitsgebiete begonnen. Der Aufgabenschwerpunkt gilt dem Aufbau der strukturellen Unterstützung für Frauen und Kinder, die besonders vom Krieg betroffen sind. Das betrifft Frauen, die mit ihren Kindern aufgrund des Krieges zu Flüchtlingen oder Obdachlosen geworden sind, die von traumatisierenden Erfahrungen durch Angriffe oder Geiselnahmen des IS betroffen sind, die sich aufgrund dessen, dass ihre Männer gefallen oder gestorben sind, in finanzieller Not befinden. Dies sind insbesondere die (Waisen-)Kinder und Frauen von Kobane und Sinjar, auf denen das Hauptaugenmerk der Arbeit von WJAR liegt.

WJAR orientiert sich an den Bedürfnissen von Frauen, bezieht diese in die Entwicklung von Projekten mit ein und gibt ihnen so Raum für die Neugestaltung ihrer Zukunft. Dadurch konnte ein Vertrauensverhältnis zur Bevölkerung aufgebaut werden. Durch die Präsenz von WJAR werden gleichzeitig neue Maßstäbe für die Arbeitsweise von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Rojava gesetzt. Bei internationalen Hilfsorganisationen versickern ja immer wieder Spendengelder in bürokratischen oder auch anderen undurchsichtigen Kanälen.

Die Stiftung der Freien Frau in Rojava hat sich mit ihrer Arbeitsweise an die Seite von bedürftigen Frauen und Kindern gestellt. Sie macht in ihrer Herangehensweise deutlich, dass sie auf Hilfe zur Selbsthilfe und Empowerment setzt. Damit entspricht ihre Praxis ganz dem Slogan "Die freie Frau ist die Grundlage für eine freie Gesellschaft!".


Zur Autorin: Meike Nack ist Sozialwirtin und Mitarbeiterin von WJAR - Stiftung der Freien Frau in Rojava. Sie hat ein Jahr in Rojava gelebt und dort an dem Aufbau der Stiftung mitgearbeitet. Zurzeit ist sie in Europa, um die Arbeiten von WJAR vorzustellen und Menschen zur Unterstützung und Mitarbeit für den Aufbau einer Frauengesellschaft zu gewinnen.


Für weitere Informationen oder bei Interesse an einer Zusammenarbeit:
Weqfa Jina Azad a Rojava (WJAR, Stiftung der Freien Frau in Rojava)
Website: www.weqfajinaazad.org
Facebook: Weqfa Jina Azad WJAR

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 135, 1/2016, S. 20-21
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2016

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