Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → SOZIALES


FRAUEN/796: Unerhört? Frauenbewegungen in der arabischen Welt (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 146, 4/18

Unerhört? Frauenbewegungen in der arabischen Welt

von Amina El-Gamal


Der arabische Raum - vielfältig, krisenhaft und ständig in Bewegung. Durch einen eurozentrischen und orientalistischen Blick auf seine Welt sowie durch antimuslimischen Rassismus werden oft differenzierte Perspektiven und Erzählungen aus den arabischen Gesellschaften und von muslimischen Menschen selbst nicht gehört. Gerade feministische und geschlechterkritische Initiativen sowie Aktivist_innen im arabischen Raum werden so in Europa unsichtbar gemacht.


Das Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC) veranstaltete am 15. Oktober 2018 eine Podiumsdiskussion in Wien. Geladen waren Safa Belghith (freie Journalistin, Tunesien), Lena Meari (Institute of Women's Studies, Birzeit University, Palästina) und Omaima Abou-Bakr (Cairo University und Women and Memory Forum, Ägypten), um über die Vielfältigkeit von feministischen und geschlechterkritischen Initiativen in Zeiten von Krise und Krieg im arabischen Raum zu diskutieren.


Tunesien nach der Revolution

Die Revolution in Tunesien wird oft aus einer orientalistischen Sicht als die einzige erfolgreiche Revolution im arabischen Raum bezeichnet. Safa Belghith berichtete, dass der post-revolutionäre feministische Aktivismus in Tunesien hauptsächlich säkular war. Dies habe auch damit zu tun, dass es vor der Revolution schon einen säkularen öffentlichen Diskurs gab, der wegen der Angst vor islamistischer Übernahme des Landes nach der Revolution weitergeführt wurde. Heute gebe es zwei Trends: säkulare und islamische feministische Bewegungen. Sie haben jeweils andere Ziele und Themen, an denen sie arbeiten, was aber laut Belghith ergänzend und bereichernd sei.

Tunesien ist das erste arabische Land, in dem es ein Gesetz gegen die Vergewaltigung in der Ehe gibt. Belghith meinte, dass Errungenschaften wie diese die verbindende Basis zwischen den Bewegungen seien. Sie sieht die Gefahr in Tunesien darin, dass feministischer Aktivismus vom Staat kooptiert wird, um ein politisches Spiel zu spielen. Beispielsweise wurde ein Tag nachdem ein neues Amnestiegesetz für frühere korrupte Politiker_innen erlassen wurde, ein weiteres Gesetz eingeführt, das muslimischen Frauen erlaubt, nichtmuslimische Männer zu heiraten. Damit werde die Aufmerksamkeit von politischen Diskussionen über Korruption oder auch Ökonomie abgelenkt.


Islamischer Feminismus in Ägypten

Die Situation in Ägypten unterscheidet sich dahingehend, dass die religiöse Institution Al-Azhar sehr mächtig und auch relevant in der Gesellschaft ist. Außerdem gibt es keine explizit säkularen Organisationen. Omaima Abou-Bakr ging darauf ein, dass die Regierung immer eigene Agenden und Ziele habe und dafür oft feministische Strategien kooptiere und für eigene Interessen nutze. Feministische Organisationen in Ägypten, so Abou-Bakr, seien problemorientiert. Alle feministischen Aktivist_innen arbeiten zusammen, um ein gemeinsames Problem zu lösen, wie beispielsweise sexuelle Belästigung, Gewalt gegen Frauen oder Gesetze zu Heirat, Scheidung und Sorgerecht.

Abou-Bakr erläuterte, dass der islamische oder muslimische Feminismus strikt zu trennen sei von islamistischen Bewegungen und dem sogenannten politischen Islam: "Islamic feminism is a home-grown and indigenous kind of activism" - er habe sich aus dem islamischen religiösen Paradigma selbst entwickelt. Darin werden mit feministischen Tools nicht die Religion, sondern die patriarchalen Strukturen, die im Namen der Religion entstanden sind, kritisiert. Abou-Bakr betonte, dass der islamische Feminismus Gleichberechtigung erreichen und zugleich männliche Autoritäten kritisieren möchte.

Die Untersuchung von historischen Gegebenheiten und die Reinterpretation von Originalquellen, wie die des Koran, gehören zu ihren Haupttätigkeiten. "We want to analyze the presence of women in the public and religious sphere in the past, to use it for argumentation today", so Abou-Bakr. Die Diskussionen fänden größtenteils in einem akademischen Kontext statt, jedoch mit dem Ziel, kulturelle und soziale Normen und Gesetze zu verändern.


Neoliberalismus und Frauenbewegungen in Palästina

Frauenbewegungen in Palästina waren anfangs von einem progressiven Kampf für eine freie und egalitäre Gesellschaft sowie die Befreiung der Nation geprägt. Lena Meari erklärte, dass unter der britischen Kolonialherrschaft der feministische und der Befreiungskampf gemeinsam geführt wurden. Graswurzelbewegungen und lokale Gemeinschaften setzten sich für die eigene Befreiung und Gendergerechtigkeit ein.

Ausländische und (vordergründig) Geldgeber aus dem globalen Norden mischten sich später in diese Organisationen ein. Sie stellten Bedingungen für die Kredite und die finanziellen Förderungen und gaben somit vor, wie die NGOs arbeiten müssten. Graswurzelbewegungen seien gänzlich verschwunden, so Meari, und NGOs und Spender_innen würden eine neue Agenda unterstützen und die Strukturen der Frauenbewegungen in Palästina verändern.

Durch die neoliberale Transformation und die imperialen ausbeuterischen Agenden stünden individuelle Rechte nun im Vordergrund, jedoch fände die Arbeit fern von der Lebensrealität der Frauen statt. Die Gewalt der kolonialen Strukturen und die strukturelle Gewalt der neoliberalen Agenda würden gänzlich ignoriert. "We don't need empowerment on individual basis, we need empowerment for all women", erklärte Meari.


Globale Solidarität

Safa Belgith betonte, dass Events wie diese Diskussionsveranstaltung in Wien sehr hilfreich seien, da sie die Stimmen des arabischen Raums hörbar machten. Dadurch könne ein Verständnis dafür geschaffen werden, dass alle Länder ihre eigenen Kontexte haben. Viele dieser Länder seien von kolonialen Erfahrungen geprägt, in denen westliche Mächte versucht hätten, die lokale Identität zu löschen. Die heutige Situation sei zwar keine koloniale, so Belgith, jedoch sei die Identität immer noch unter Beschuss.

Ein guter Start für Kooperationen sei es, die andere Perspektive zu hören und unterschiedliche Trends zu akzeptieren. Die ewige Kopftuch-Debatte in Europa sei ein gutes Beispiel dafür. Alle drei Podiumsteilnehmerinnen bestätigten, dass das im arabischen Raum keine relevante Debatte sei. Safa Belgith erklärte: "There is no distinction, we all are women and it's our personal choice." Sie kritisierte auch, dass Frauen aufgrund dessen, was sie anziehen, kategorisiert würden. Omaima Abou-Bakr fügte hinzu: "The obsession of the Hijab is a male obsession." Sie meinte damit, säkulare und konservative Männer würden sich über die Freizügigkeit der Frau streiten und somit einen Kopftuch-Diskurs kreieren.

Abou-Bakr brachte auch eine andere Ebene ein: Sie schlug vor, die Solidarität könnte hier in Europa starten. Menschen in Europa sollten versuchen, die Stereotypen von einer unterdrückten muslimischen Frau in der Opferrolle zu brechen. "You could fight for stopping Islamophobia or racializing Arabs and Muslims." Auch Lena Meari plädierte für Solidarität anstelle Hilfe. Ihrer Meinung nach wäre die beste Form der Solidarität mit anderen Ländern, wenn sich im globalen Norden mehr radikale Anti-Kolonialismus-, Anti-Kapitalismus- und Anti-Patriarchat-Bewegungen bilden würden.


HÖRTIPP:
Ein Bericht über die Veranstaltung wurde im November im Rahmen der Sendereihe Globale Dialoge der Women on Air auf Radio ORANGE 94.0 ausgestrahlt. Nachzuhören unter:
http://noso.at/?p=6045

ZUR AUTORIN:
Amina El-Gamal ist Erziehungswissenschaftlerin und Hispanistin. Gegenwärtig studiert sie Internationale Entwicklung im Master und macht mehrsprachiges Radio als Woman on Air.

*

Quelle:
frauen*solidarität Nr. 146, 4/2018, S. 28-29
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Amina El-Gamal
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
Informations- und Bildungsarbeit,
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauen*solidarität erscheint viermal im Jahr.
Preis pro Heft: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang