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GENDER/058: Ecuador - "Wir lassen uns von niemandem die Hose runterziehen" (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 144, 2/18

"Wir lassen uns von niemandem die Hose runterziehen"
Dekoloniale Geschlechterdiskurse aus Ecuador

von Greta Marie Becker


Können Menschen zugleich Mann und Frau sein? Für europäische Staaten scheint das kaum vorstellbar. In offiziellen Registern, angefangen bei der Geburtsurkunde, sind Menschen entweder Mann oder Frau. Dass das anders gehen kann, zeigen Standpunkte ecuadorianischer Transpersonen.


Engabao, ein kleiner Ort an der Pazifikküste. Dort lebt John García und führt einen Friseursalon. Wie viele Menschen in der Gemeinde definiert John sich nicht als Mann oder Frau, sondern vor allem darüber, was er oder sie tut. "Ich bin John, 'die John' oder einfach 'John'. Die oder der, das ist egal, das hat hier eigentlich keine Bedeutung. Einen anderen Namen, nein, schließlich kennen mich hier alle als John. Ich erreiche nichts durch einen anderen Namen, wo mich doch alle als John kennen und wissen, dass ich hier in diesem Friseursalon bin. Ich brauche gar nichts mit mir zu machen."

Während in der Hauptstadt des Landes ein Raum zwischen den zwei anerkannten Geschlechtern Mann und Frau weitestgehend für inexistent erklärt wird, gibt es in den ländlichen Gebieten vielfältigste Formen der Geschlechtertransgressionen: Frauen, die lieber Männer sein wollen, Männer, die sich dazu entscheiden, als Frau zu leben, aber auch Menschen, die sich weder als das eine noch als das andere definieren können oder wollen. Von den jeweiligen Personen werden diese Prozesse nicht unbedingt als Geschlechtertransgression definiert. Erst wenn jemand wie John die jeweilige Gemeinde verlässt und mit der weiß-mestizisch dominierten Kultur in Kontakt tritt, entstehen Schwierigkeiten oder Missverständnisse. Erst dann werden Begriffe wie "Transfrau" oder "Intersex" relevant.


Die politische Organisation

John ist Teil der CONFETRANS (Confederación Ecuatoriana de Comunidades Trans e Intersex), der ecuadorianischen Konföderation von trans- und intersexuellen Gruppen, Gemeinden und Personen. Sie ist in Anlehnung an die landesweit agierende Indigenenorganisation CONAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador) gegründet worden. Beide Organisationen ähneln sich in ihrer Struktur, und sie verfolgen ein gemeinsames Ziel: die Entkolonialisierung der staatlichen Strukturen.

Aus Sicht der Transpersonen zählt dazu auch, das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit als ideologisches Kriterium für die Anerkennung von "Mensch-Sein" langfristig zu überwinden: "Wir lehnen die binäre Bestimmung der Geschlechter nicht nur als transphob ab, sondern kritisieren sie zugleich als eine rassistische und koloniale Praxis, die transsexuelle Männer und Frauen auf der Basis von eurozentrischen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit herstellt und zurechtweist", so CONFETRANS.

Vor diesem Hintergrund haben die Aktivist_innen eine Kampagne ins Leben gerufen: "Mi género en mi cédula" (Mein kulturelles Geschlecht in meinem Personalausweis), die fordert, dass im Zivilregister das Geschlecht gemäß der eigenen Identität selbst gewählt werden kann, unabhängig von jeder medizinischen Determination 1. Dementsprechend könnte sich als Frau definieren, wer Frau sein möchte, oder als Mann, wer sich männlich fühlt. Männlichkeit und Weiblichkeit werden dabei als Ergebnis einer eigenständigen Entscheidung der jeweiligen Person definiert, über die niemand anderes, d. h. auch keine staatlichen oder medizinischen Instanzen, zu richten oder zu walten haben. Dabei gilt das Motto: "Wir lassen uns von niemandem die Hose runterziehen, und vom Staat erst recht nicht!"

Elizabeth Vásquez, Anwältin und treibende Kraft der Kampagne, fasst den politischen Impuls in folgenden Worten zusammen: "Ich hoffe, dass wir einen selbstbewussten Weg finden und eine Vision entwickeln, die dekolonial genug ist, um in Fragen der Geschlechtertransgressionen nicht einmal mehr den so 'Entwickelten' (Europa und die USA) zu folgen, die ein Gesetz zur Geschlechtsidentität haben, das den Weg über das Skalpell und die Klassifikation als geisteskrank geht."


Körper anders lesen: Der Einfluss präkolumbischer Überlieferungen

Anstelle der im weiß-mestizischen Kontext dominanten Vorstellungen von Transsexualität gibt es tradierte Formen von kollektiv gelebten Transgressionen, die nicht damit einhergehen, dem Körper mittels chirurgischer Interventionen ein neues Geschlecht zu konstruieren, sondern vielmehr bestimmten Körperteilen die Zuordnung zu ausschließlich einem von zwei (kulturellen) Geschlechtern abzusprechen. So lehnen es viele Personen ab, Transsexualität als einen Prozess "hin zum Mann" oder "hin zur Frau" zu denken, sondern verweisen auf die potenzielle Gleichzeitigkeit von kulturell als männlich oder weiblich interpretierten Verhaltensmustern, Körperteilen, Ausdrucksweisen, Kleidungsstilen etc.

Unter Verweis auf präkolumbische und teilweise bis heute erhaltene indigene Geschlechtervorstellungen werden Körperteile anders interpretiert, als es im dominanten kulturellen Kontext Ecuadors stattfindet. Als prägnantes Beispiel gilt das Phänomen der "Transmaternidad" (Transmutterschaft), das historisch bedingt vor allem an der ecuadorianischen Küste verbreitet ist. Dabei handelt es sich um Transmänner, die Kinder gebären und die Schwangerschaft im Sinne ihrer selbstgewählten Männlichkeit als männliches Phänomen deuten. Schwangerschaft wird hier als "fenómeno hémbrico" (biologisch-weibliches Phänomen) bezeichnet, da es derjenigen Organe bedarf, die medizinisch als weiblich definiert werden. Es handelt sich damit jedoch nicht per se um ein feminines Phänomen im Sinne der Identität hinsichtlich des kulturellen Geschlechts (Gender). Medizinische Diskurse zu de-essentialisieren heißt hier anzuerkennen, dass es sich um Personen mit einer Vagina, nicht jedoch um Frauen handelt.

Auffällig ist, dass in vielen Provinzen des Landes Gemeinden existieren, in denen die dort geborenen Transpersonen zwar teils auch patriarchale Ordnungsmuster, jedoch eine weitaus höhere Durchlässigkeit (fluidez de género) in Bezug auf die vergeschlechtlichte Identifikation erkennen. Diese ermöglicht es beispielsweise Männern, sich Aufgaben zu widmen, die in ihrem spezifischen kulturellen Kontext traditionell als weiblich assoziiert werden, ohne dadurch den Ausschluss aus der Gemeinde zu befürchten. So fährt John García nicht mit den Fischern raus aufs Meer, sondern widmet sich sorglos seiner Arbeit im Schönheitssalon.


Die Utopie der "Ent-ver-geschlechtlichung"

Die Kampagne "Mi género en mi cédula" stellt nur den ersten Schritt eines weit größeren politischen Projekts dar. Als langfristiges Ziel arbeiten die Aktivist_innen darauf hin, die Kategorie "Geschlecht" gänzlich aus den staatlichen Personenregistern zu streichen. Dies wird als die Utopie einer "ciudadanía desgenerizante" (dt.: ent-vergeschlechtlichte Staatsbürger_innenschaft) beschrieben. Demnach gäbe es in offiziellen Registern - ungeachtet jedweder identitären Verortung - nur noch die Kategorie "Mensch".


ANMERKUNG:
(1) Website der Kampagne:
http://migeneroenmicedula.blogspot.de/

LESETIPPS:
Becker, Greta-Marie (2016): Interkulturelle Dialoge und dekoloniale Geschlechterdiskurse. Indigene Gesellschaftsentwürfe und sexuelle Vielfalt in Ecuador. Marburg: Tectum Verlag
Lugones, María (2007): Heterosexualism and the Colonial/Modern Gender System. In: Hypatia 22: 1, 186-209
Benavides, Hugo (2006): La representación del pasado sexual de Guayaquil: historizando los enchaquirados. 2006: 24, 145-160

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 144, 2/2018, S. 10-11
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Greta Marie Becker
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2018

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