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INTERNATIONAL/110: Chile - Fortschritte im Kampf gegen Ungleichheit, Regierungsbericht umstritten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. August 2012

Chile: Umstrittener Regierungsbericht sieht Fortschritte im Kampf gegen die soziale Ungleichheit

von Marianela Jarroud



Santiago, 15. August (IPS) - Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Chile kleiner geworden. Das zumindest geht aus einem Regierungsbericht hervor. Doch Experten zufolge haben die Untersuchungsergebnisse, die auf einer Umfrage basieren, wenig mit der Realität zu tun.

Der Studie zufolge verdienen die reichsten Sektoren der chilenischen Gesellschaft das 36-Fache des gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 364 US-Dollar. Noch 2009 hätten ihre Einkommen die Mindestlöhne um das 46-Fache überstiegen. Zähle man die Zuschüsse für die Ärmsten der Armen hinzu, lägen die Einkommen der Reichen um das 22-Fache über denen der Mindestlohnempfänger. 2009 sei es noch das 25-Fache gewesen, betonte Staatspräsident Sebastián Piñera im Juli bei der Präsentation der Zahlen.

Doch ist das menschliche Wohlbefinden nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch anderer Faktoren wie etwa die Wohnsituation. Während die wohlhabenden Chilenen in ihren geräumigem Wohnungen in Las Condes, einem Viertel für Wohlhabende im Osten der Hauptstadt, jeden Komfort genießen, müssen sich die Familien in den Armensiedlungen mit wenig Raum zufriedengeben. Besonders unerträglich wird die Situation für sie im Winter. Dann müssen sie mit improvisierten Heizöfen vorlieb nehmen. Die Brandgefahr ist latent vorhanden.


Armut trotz Wirtschaftswachstum

Das chilenische Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat zwischen 2006 und 2001 um 20 Prozent zugelegt. Dennoch leben 14,4 Prozent der 17 Millionen Chilenen in Armut, 2,8 Prozent im Elend. Diese Zahlen stammen von 'Casen', dem wichtigsten staatlichen Armuts- und Wohlstandsbarometer, das die chilenische Sozialpolitik maßgeblich bestimmt.

"Casen hat längst jede Glaubwürdigkeit als Grundlage für die Berechnung der Ungleichheit verloren. Verwendet werden für das heutige Chile völlig überholte Parameter", bemängelt die Wirtschaftsexpertin Gloria Maira. "Wir haben es hier mit einer statistischen und wenig aussagekräftigen Übung zu tun."

Die Casen-Berechnungen orientieren sich am Lebensmittelwarenkorb in Höhe von 146 Dollar. Darin sind die Kosten für Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Bildung und Transport nicht enthalten. Zu allem Übel stützt sich die neue Untersuchung auf das längst überholte Konsumverhalten von 1987. Lägen der Studie aktuelle Parameter zugrunde, würden die Armutszahlen drastisch steigen. "Doch das will sich keine Regierung antun", meint Maira.

"Wir halten uns an Zahlen und ignorieren die Lebensqualität", kritisiert der Anthropologe Mauricio Rojas. Es sei wichtig, die Chancen auf ein besseres Leben zu vergrößern, damit Menschen in Würde leben könnten.

Die Chance, den Kreislauf der Armut zu durchbrechen, ist vergleichsweise gering. Denn die Betroffenen verfügen nicht über die finanziellen Möglichkeiten, wie sie Reiche haben, um ihre Kinder in gute Privatschulen zu schicken. Der Besuch einer solchen privaten Bildungseinrichtung schlägt mit rund 500 Dollar im Monat zu Buche.


Diskriminierendes Bildungssystem

In dem dreisträngigen Bildungssystem - dezentralisierte öffentliche, finanziell geförderte Förder- und kostenpflichtige Privatschulen - sehen viele Experten die Wurzel der bestehenden Ungleichheit.

Bildung ist kein Verfassungsrecht in Chile und somit eine Frage des Geldes, und der Besuch einer Universität ist kostenpflichtig. "Armut zeigt sich auch an einem fehlenden Zugang zu Bildung. Dieser Verantwortung gegenüber den Bürgern kommt der Staat nicht nach", so Rojas.

Das Gleiche lässt sich mit Blick auf den Gesundheitssektor sagen. Die Wohlhabenden des Landes profitieren von einem privaten Versicherungssystem, das 1981 von der damaligen Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) eingeführt wurde. Familien, die einen ansehnlichen Krankenversicherungsbeitrag zahlen, können die besten Klinken und Ärzte in Anspruch nehmen. Die Armen des Landes hingegen müssen mit der vergleichsweise schlechten Versorgung in staatlichen Kliniken und Beratungsstellen vorlieb nehmen.

"Die Behandlung in einem staatlichen Krankenhaus ist demütigend", sagt Pablo, ein Niedriglohnempfänger. "Dort muss man stundenlang warten, bis man endlich drankommt, und oftmals erklärt dir niemand, was dir fehlt. Du wirst behandelt und darfst wieder gehen."

Im Winter komme es vor, dass die Therapie nicht anschlage und man erneut die Klinik aufsuchen müsse, sagt Pablo. In der kalten Jahreszeit sterben jedes Jahr durchschnittlich 4.200 Menschen an den Folgen einer hohen Luftverschmutzung in Santiago und den daraus resultierenden Atemwegserkrankungen.

Die chilenische Konsumgesellschaft nehme auf die Bedürfnisse der armen Menschen keine Rücksicht, kritisiert Rojas und fügt hinzu: "In diesem Land wird die Ungleichheit schlichtweg toleriert." (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://observatorio.ministeriodesarrollosocial.gob.cl/casen_obj.php
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=101354

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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2012