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INTERNATIONAL/162: Brasilien - Katastrophale Zustände in den Gefängnissen schüren Gewalt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. Januar 2014

Brasilien: Katastrophale Zustände in den Gefängnissen - Überbelegung und mangelnde Hygiene schüren Gewalt

von Fabíola Ortiz


Bild: © Mit der freundlichen Genehmigung der Senatorin Ana Rita

Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des brasilianischen Senats bei einem Besuch im Pedrinhas-Gefängnis
Bild: © Mit der freundlichen Genehmigung der Senatorin Ana Rita

Rio de Janeiro, 30. Januar (IPS) - Fast täglich kommt es in brasilianischen Gefängnissen zu Gewaltausbrüchen. Doch das, was sich in und außerhalb einer Haftanstalt im nordöstlichen Bundesstaat Maranhão zutrug, hat das ganze Land in eine Schockstarre versetzt.

Ihren Lauf nahm die Tragödie am 3. Januar, als mehrere Kapos im Pedrinhas-Gefängnis in São Luis ihre externen Gangmitglieder zu Brandanschlägen auf Autobusse und Angriffen auf Polizeistationen aufforderten. Im Zuge der Unruhen in der Maranhão-Hauptstadt starb ein Mädchen an den Folgen seiner Brandverletzungen, fünf weitere Menschen wurden verletzt.

Vier Tage später geriet ein Video in Umlauf, das Häftlinge in Pedrinhas aufgezeichnet hatten. Es zeigt die Leichen von Mitgliedern rivalisierender Banden, die während einer Meuterei am 17. Dezember geköpft worden waren.

Obwohl die Öffentlichkeit aufgrund der vielen Berichte über Verbrechen in den 1.478 Haftanstalten - allein im vergangenen Jahr wurden 218 Gefangene getötet - bereits abgestumpft ist, haben die Vorfälle in São Luis die Bevölkerung erschüttert.

Nach Ansicht von Mário Macieira, der Vorsitzenden des Regionalverbands der brasilianischen Anwaltsvereinigung OAB in Maranhão, zeigt die Krise in Pedrinhas die Fragilität des brasilianischen Strafvollzugssystems. "In allen brasilianischen Gefängnissen bietet sich das gleiche Bild: Überfüllung, grauenhafte Hygienebedingungen und mangelnde Nahrungssicherheit. Dass dieses System zusammenbricht, ist nichts Neues. Die Krise hat inzwischen aber das Ausmaß einer Tragödie erreicht."

Alle Abteilungen von Pedrinhas mit Ausnahme des Frauengefängnisses sind hoffnungslos überfüllt. Statt der vorgesehen 1.700 Häftlinge drängen sich dort rund 2.500 Menschen zusammen. Rivalisierende Gangs liefern sich oft brutale Auseinandersetzungen.


Vierthöchste Zahl von Häftlingen weltweit

Brasilien ist mit 200 Millionen Menschen das fünftbevölkerungsreichste Land der Welt. Was die Zahl der Strafgefangenen angeht, belegt es mit 550.000 Rang vier - nach den USA, China und Russland. Mit Blick auf die Gefängnisüberbelegung von 172 Prozent kommt das südamerikanische Land im internationalen Vergleich auf Platz 32.

OAB zufolge saßen 60 der insgesamt 218 Häftlinge, die im vergangenen Jahr gewaltsam ums Leben kamen, in Gefängnissen in Maranhão ein, davon 28 Prozent im Pedrinhas. Dass Militärpolizei und nationale Sicherheitskräfte allmählich die Kontrolle über den Gefängniskomplex zurückgewinnen, vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, wer das Sagen in den Haftanstalten hat: die Bandenführer, die mit Hilfe von Mobiltelefonen ihre Gangs außerhalb der Haftanstalt führen.

Die OAB-Menschenrechtskommission hat bisher (25. Januar) keinen Zutritt zu dem Gefängnis erhalten, angeblich aus Sicherheitsgründen. Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des Senats waren am 13. Januar eingelassen worden. Mehrere Gefängnistrakte waren ihnen aber aus verschiedenen Gründen unzugänglich.

Ende 2013 hatte die Interamerikanische Menschenrechtskommission IACHR die brasilianische Regierung nach Intervention der OAB aufgefordert, unverzüglich Maßnahmen gegen die anhaltenden Menschenrechtsverstöße und die unhygienischen Zustände im Pedrinhas und anderen Haftanstalten im bitterarmen Bundesstaat Maranhão zu ergreifen. Auf jeweils 100.000 Einwohner kommen dort statistisch gesehen 100,6 Gefangene. Die Rate liegt allerdings deutlich unter dem nationalen Durchschnitt von 401,7 Häftlingen pro 100.000 Einwohner.

In Brasiliens Gefängnissen fehlen 211.000 Unterbringungsplätze, in Maranhão 2.000. Wie aus dem brasilianischen Jahresbericht 2013 zur öffentlichen Sicherheit hervorgeht, müssen die Gefängniskapazitäten vor allem in São Paulo dringend erweitert werden. Dort werden 88.500 zusätzliche Plätze benötigt. In Minas Gerais fehlen 18.500 und in Pernambuco 17.900 Plätze.

Macieira zufolge müssen aber auch in Maranhão dringend neue Haftanstalten eröffnet werden, um für friedliche Zustände hinter Gittern zu sorgen. Den Regionalbehörden zufolge wird dies aber nicht vor Ende 2014 möglich sein.

Wie der Soziologe Rodrigo de Azevedo berichtet, haben sich die Missstände in den brasilianischen Haftanstalten im Laufe der vergangenen 20 Jahren immer weiter verschlechtert. Vor allem Arme landeten im Gefängnis, kritisiert Azevedo, der an der Katholischen Universität von Rio Grande do Sul eine Forschungsgruppe leitet, die sich mit dem Thema öffentliche Sicherheit befasst.

Zum Anstieg der Gefangenenzahlen hätten unter anderem der Anti-Drogen-Krieg sowie die häufige Anordnung von Untersuchungshaft vor Prozessbeginn geführt. Etwa 40 Prozent aller Häftlinge in Brasilien sind noch nicht rechtskräftig verurteilt. In einigen Bundesstaaten wie Maranhão erreicht dieser Anteil sogar 70 Prozent. (Ende/IPS/ck/2014)


Links:

http://www.ipsnews.net/2014/01/brazils-prison-violence-worsens-maranhao/
http://www.ipsnoticias.net/2014/01/el-drama-carcelario-de-brasil-se-recrudece-en-maranhao/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 30. Januar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2014