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JUGEND/284: Kolumbien - Land der verlassenen Kinder (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. September 2010

KOLUMBIEN:
Land der verlassenen Kinder - Vor allem Mädchen betroffen

Von Helda Martínez


Bogotá, 1. September (IPS) - Mariana ist 20 Jahre alt und weiß weder, wer ihre Eltern sind noch ob sie Geschwister hat. Sie war drei, als sie einer kolumbianischen Bauernfamilie überlassen wurde. Mit 14 Jahren riss sie aus und schlug sich eine Woche auf der Straße durch. Dann wurde sie von der Polizei aufgegriffen, die sie in ein staatliches Kinderheim steckte.

Mariana hat viel durchgemacht, auch eine Vergewaltigung. "Damals war ich sieben Jahre alt. Ich vertraute mich meiner Ersatzmutter an, aber sie glaubte mir nicht", erzählt sie. Von ihren leiblichen Eltern weiß sie nur, dass sie aus dem Osten des Landes stammten, aus der Provinz Boyacá, und ihre Tochter aus Armut in einem Dorf nahe der Hauptstadt Bogotá ausgesetzt hatten.

Inzwischen macht Mariana eine Psychotherapie, arbeitet und lässt sich zur Verwaltungsfachfrau ausbilden. "Ich werde ein Zentrum gründen, in dem ausgesetzte und missbrauchte Kinder Schutz finden", berichtet sie. Schließlich ist ihr Schicksal im bürgerkriegszerrütteten Kolumbien kein Einzelfall.


Mehr als die Hälfte der Kinder ungewollt

Armut scheint der Hauptgrund zu sein, der Eltern veranlasst, ihre Kinder im Stich zu lassen. Hinzu kommen Unwissen, was kindliche Fürsorge und Familienplanungsmethoden angeht, Machismus und die allgegenwärtige Gewalt. Der Bürgerkrieg trifft die kolumbianische Bevölkerung auf vielfache Weisen: durch Vertreibungen, den Zerfall der Familien, Morde, Zwangsrekrutierungen und sexuellen Missbrauch von Frauen und Mädchen.

Die Kultur der Gewalt hinterlässt ihre Spuren, die ESAR; eine in der Sexualaufklärung tätige Organisation (NGO), untersucht hat. Sie fand heraus, dass 2007 56 Prozent aller Schwangerschaften in Kolumbien ungewollt waren.

In Kolumbien leben nach offiziellen Angaben rund 45 Millionen Menschen, 37 Prozent von ihnen sind jünger als 18 Jahre. Rund 61.000 Minderjährige beider Geschlechter wurden im vergangenen Jahr von der staatlichen Fürsorge betreut und man schätzt, dass außerdem etwa 30.000 Kinder auf der Straße leben. Hinzu kommen zwischen 6.000 und 11.000 Mädchen und Jungen, die von den bewaffneten Gruppen zwangsrekrutiert wurden.

Straßenkind in Bogotá - Bild: © Helda Martínez/IPS

Straßenkind in Bogotá
Bild: © Helda Martínez/IPS

"Diese Realität macht uns zu einem der wütendsten Völker der Welt", meint dazu der Psychologe und renommierte kolumbianische Buchautor Francisco Cobos. "Wut ist ein Gefühl, das ausgelöst wird, wenn wir Dinge verlieren, die uns wichtig sind. Vernachlässigung und Verlassenwerden bedeuten Verlust. Das verursacht Wut, die in einen Teufelskreis aus Entfremdung und abermaligem Verlassenwerden mündet. Der Mangel an Zuwendung wird aufrechterhalten", erläutert der Experte.

Mädchenmorde in präkolumbianischer Zeit

Nach Ansicht des medizinischen Anthropologen und Kinderarztes Hugo Sotomayor wurden die Weichen für die Vernachlässigung der Mädchen bereits in vorkolonialer Zeit gelegt. "Den indigenen Gesellschaften waren Jungen mehr wert, weil sie künftige Krieger sein würden", erklärt er.

Indigene Völker, die vor der Ankunft der Spanier auf dem Gebiet des heutigen Kolumbiens lebten, hätten systematisch Kindermord am weiblichen Nachwuchs begangen. "Sie haben die Mädchen solange umgebracht, bis endlich ein Junge geboren wurde", betont Sotomayor. Die fortgesetzte Missachtung der Mädchen dokumentiert er an einem weiteren Beispiel. So habe es 1642 im 'Haus der ausgesetzten Kinder' in Santa Fe de Bogotá mehr Mädchen als Jungen gegeben.

Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts sei ein Rückgang der Jahrhunderte lang üblichen Geringschätzung von Frauen zu verzeichnen, meint der Psychologe Cobos. Der kontinuierliche Wandel sei "eine Revolution, die fast unbemerkt immer weiter fortschreitet", konstatiert er.

Die Grundhaltung gegenüber Minderjährigen müsse sich in Kolumbien grundlegend ändern, um den Teufelskreis aus Missbrauch und Vernachlässigung zu durchbrechen, so der Psychologe und Autor. Mit einer Intervention des kolumbianischen Verfassungsgerichts oder des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs (CIDH) sei wenig zu erreichen, und in den staatlichen Kinderschutzeinrichtungen gehe es weniger um das Wohl der Kinder, als um politische Ziele.

Vielleicht erklärt dies, weshalb Mariana "in ihren neuen Leben" selbst eine Stiftung zum Schutz von Kindern gründen will. "Gerade wir Mädchen sind so verletzlich", sagt sie und spricht fast zu sich selbst, als sie hinzufügt: " Es macht traurig, keine Mutter zu haben, die erklärt, was zu tun ist, wenn die Menstruation kommt oder die dich vor einer Vergewaltigung schützt." (Ende/IPS/beh/2010)



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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2010