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LEISTUNGEN/522: HARTZ IV und das Alltagsbewußtsein (Sozialismus)


Sozialismus Heft 11/2012

Hartz IV und das Alltagsbewusstsein

von Bernhard Müller



"Deutschland hat sich in den vergangenen zehn Jahren in einem Maß modernisiert wie kein anderes europäisches Land." So lautet die Bilanz von Ex-Kanzler Gerhard Schröder.(1) Dass zu dieser Bilanz ein repressives Armutregime gehört, weist der Beitrag von Bernhard Müller nach.


Vor zehn Jahren habe Deutschland international noch als ein Land gegolten, das strukturell verkrustet und erstarrt war. "Das wirtschaftliche Wachstum war nur noch schwach, die Verschuldung überbordend, der Arbeitsmarkt durch eine wachsende Sockelarbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die deutsche Wirtschaft war international nicht wettbewerbsfähig. Das gipfelte in der Feststellung, Deutschland sei der 'kranke Mann Europas'." Die neugewonnene Stärke Deutschlands habe "mit den Reformen der Agenda 2010 zu tun, aber nicht nur mit ihnen. Es gibt weitere Faktoren, die eine Rolle spielen: Die deutschen Unternehmen haben ihre Strukturen verschlankt und ihre Flexibilität erhöht."

Die Reformen der Agenda 2010 hätten vor allem auf dem Arbeitsmarkt positiv gewirkt. "Die Hartz-Reformen haben dazu beigetragen, dass die konjunkturellen Aufschwünge im Vergleich zu früheren Jahren beschäftigungsintensiver waren. Die Langzeitarbeitslosigkeit und die Sockelarbeitslosigkeit wurden von ihrem hohen Niveau deutlich zurückgeführt. In der Euro-Zone dagegen sind so viele Menschen ohne Arbeit wie nie seit Einführung der Gemeinschaftswährung."

Die segensreichen Wirkungen der Agenda 2010 werden zu Recht bestritten. Unbestreitbar aber hat die durch die Strukturreform verstärkte Flexibilisierung des Arbeitsmarkts die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kapitals zulasten seiner Nachbarn erhöht und die Geldbeutel von Unternehmen und Vermögensbesitzern gefüllt. Unbestreitbar ist aber auch, dass diese Flexibilisierung und Verdichtung von Arbeit um den Preis programmierter Armut und verstärkter Disziplinierung durchgesetzt wurde und die segensreichen Wirkungen von Prekarisierung und Verarmung ihre Wirkung auf die noch in Normalarbeitsverhältnissen stehenden Lohnabhängigen nicht verfehlen. Die Bereitschaft, unzumutbare Arbeitsbedingungen und Lohnkürzungen hinzunehmen, um einem Verlust des Arbeitsplatzes und damit dem Abstieg über die Armutsrutsche Hartz IV zu entgehen, hat deutlich zugenommen.

Dabei spielt auch eine Rolle, dass das Hartz IV-Regime mit einem umfangreichen System repressiver staatlicher Kontrollen und Sanktionen verknüpft wurde. Das konnte dieser Tage den Zeitungen entnommen werden, als die Bundesagentur für Arbeit meldete, dass die Zahl der mit empfindlichen Kürzungen des Arbeitslosengeldes verbundenen Sanktionen gegen Hartz IV-BezieherInnen erneut deutlich zugenommen hat. Arbeitsagenturen und Jobcenter haben danach in der ersten Jahreshälfte insgesamt 520.792 Sanktionen gegen erwerbsfähige Leistungsempfänger verhängt. In den ersten sechs Monaten des Vorjahres waren es noch 432.600 Strafen. Und dies, obwohl die Zahl der erwerbsfähigen Hartz IV-BezieherInnen seit Jahren rückläufig ist. Das heißt, die Schrauben werden bei den im Hartz IV-System hängen bleibenden BürgerInnen noch stärker angezogen.

Der häufigste Grund für Strafen waren Meldeversäumnisse (352.233). Sie werden etwa dann verhängt, wenn ein Arbeitssuchender nicht auf schriftliche Anfragen des Jobcenters reagiert. In 74.432 Fällen haben Arbeitslose gegen die Auflagen ihrer Eingliederungsvereinbarung verstoßen. Der dritthäufigste Grund für eine Sanktion (56.489) war die Weigerung, eine angebotene Stelle anzunehmen.

Um den Druck auf die Langzeitarbeitslosen hochzuhalten, sind die Sanktionen besonders hart für BürgerInnen, die wiederholt gegen die rigiden Regeln verstoßen. Wer ohne Grund einen Termin versäumt, muss mit einer Kürzung des Arbeitslosengeldes um 10% für drei Monate rechnen. Bei erneutem "Fehlverhalten" innerhalb eines Jahres werden 20% der Leistungen gestrichen. Bei den anderen Verstößen gegen die Regeln der Jobcenter müssten Hartz IV-EmpfängerInnen sogar mit Abzügen von bis zu 30% rechnen. In diesen Fällen können Wiederholungs"tätern" sogar 60% des Arbeitslosengeldes gestrichen werden.

Der harsche, würdelose Umgang mit den BezieherInnen dieser Mindestsicherungsleistung kann sich dabei durchaus einer gewissen Unterstützung in der Bevölkerung sicher sein, wie eine aktuelle Umfrage bestätigt.(2) Danach gibt es zwar ein breites Verständnis für die schwierige Situation der SGB II-EmpfängerInnen, andererseits aber auch verbreitet Vorbehalte. So halten jeweils zwischen 55 und 60% der Befragten die Leistungsbezieher (eher) für schlecht ausgebildet und (eher) für zu wählerisch bei der Arbeitssuche.

Anzahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (eLb) und der 
 Bedarfsgemeinschaften (BG) in Millionen, Jahresdurchschnitt 2005-2011

2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
eLB
BG
4,98
3,72
5,39
3,98
5,28
3,73
5,01
3,58
4,91
3,56
4,89
3,58
4,62
3,42

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), SGB II Sozialgesetzbuch Zweites Buch, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Jahresbericht 2011, Nürnberg, April 2012


Hartz IV im System der Mindestsicherung

Zu den wichtigen Errungenschaften des fordistischen Wohlfahrtsstaates gehörte die Entwicklung eines sozialen Netzes für Notfälle in besonderen Lebenslagen. Über ihren BürgerInnenstatus wurde den Betroffenen ein Recht auf soziale Sicherheit zugesprochen. Die Leistungen waren in der Regel so bemessen, dass sie die gesellschaftliche Teilhabe sicherstellten. "Während die Leistungen zur Absicherung gegen die sozialen Risiken ihre Wirksamkeit bewahren, besteht daneben eine Vielzahl mehr oder weniger improvisierter Hilfeleistungen, die der Vielfalt der Situationen sozialer Deprivation entsprechen."(3) In Deutschland waren diese improvisierten Hilfeleistungen zunächst in der "Sozialhilfe" zusammengefasst.

Mit der fortschreitenden Krise des Fordismus entwickelt sich auch der Widerspruch zwischen lohnbezogener sozialer Sicherung und allgemeiner Zuteilung eines Mindestmaßes an existenziellen Ressourcen, die angesichts wachsender Immigration auch nicht mehr an den Staatsbürgerstatus geknüpft sind. Was zunächst als unteres soziales Netz für wenige Notfälle gedacht war, entwickelt sich durch fehlende Lohnarbeitsgelegenheiten zu einem eigenständigen Sicherungssystem für die immer größer werdende und sich verfestigende Unterschicht, die keinen Anschluss an den Arbeitsmarkt mehr hat.

Hauptelemente dieses Systems sozialer Mindestsicherung in Deutschland sind heute die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II (ALG II + Sozialgeld), die Mindestsicherungsleistungen im Rahmen der Sozialhilfe (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen + laufende Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung), die Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und die laufenden Leistungen der Kriegsopferfürsorge.

In der Bundesrepublik kommt der rot-grünen Bundesregierung das zweifelhafte Verdienst zu, diese Abkoppelung der Unterschicht von halbwegs gesicherten und menschenwürdigen Lebensverhältnissen entscheidend vorangetrieben zu haben. Die Implementierung des Hartz IV-Regimes war ein Markstein für die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und die Verwaltung der Armut. Durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurde die tendenzielle Entkoppelung von Lohnarbeit und sozialer Sicherheit massiv vorangetrieben. Die davon Betroffenen mussten auf zentrale Elemente ihres sozialen und persönlichen Eigentums verzichten. Über Lohnarbeit erworbene Ansprüche auf Zahlung von Arbeitslosengeld bzw. -hilfe wurden mit einem Schlag vernichtet. Die Inanspruchnahme der staatlichen Förderung wurde zudem an den vorlaufenden Verbrauch privater Ersparnisse gekoppelt.

Durch die Festlegung der Regelleistungen auf niedrigem Niveau wurde das in der Nachkriegszeit für Sozialleistungen bestimmende Prinzip der einzelfallorientierten sozialen Hilfe über Bord geworfen. Hartz IV sichert nicht mehr die gesellschaftliche Teilhabe. Die niedrigen Regelsätze, der Zwang zur Arbeitsaufnahme und die detaillierte Aufblätterung der privaten Lebensverhältnisse nehmen den Betroffenen ihre menschliche Würde und beraubt sie ihrer sozialen Bürgerrechte.

Mit der Einführung von Hartz IV wurde ein doppelter Zweck verfolgt: erstens die Verbilligung der Arbeitslosigkeit. Die steigenden gesellschaftlichen Kosten für das wachsende Heer von Langzeitarbeitslosen, die die Fäden zur Lohnarbeit verloren haben, gesellschaftlich ausgegrenzt sind und keine Chance mehr auf eine die Existenz sichernde Lohnarbeit haben, sollten eingegrenzt werden. Zweitens aber dient Hartz IV auch der direkten Förderung eines Niedriglohnsektors, indem diejenigen aus dem Kreis der Langzeitarbeitslosen rausgefiltert werden, die man über verschiedene Qualifizierungsmaßnahmen im System der Lohnarbeit auf unterstem Niveau unterbringen kann. So ist die Zahl der Lohnabhängigen, die von ihrer Arbeit nicht leben können und deshalb auf zusätzliche Grundsicherungsleistungen angewiesen sind, seit 2006 um 400.000 gestiegen. 2011 bezogen knapp 1,4 Mio. Beschäftigte zusätzliches Einkommen nach SGB II. Davon waren 700.000 geringfügig beschäftigt und 570.000 in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis - 330.000 sogar vollzeitbeschäftigt.


Hartz IV: Bestandsaufnahme

Im Jahresdurchschnitt 2011 bezogen 4,62 Mio. erwerbsfähige Leistungsberechtigte Hartz IV Regelleistungen. Damit waren so wenige Menschen auf das Arbeitslosengeld II angewiesen wie nie seit der Einführung des SGB II im Jahr 2005. Allein im Jahr 2011 sank die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten gegenüber dem Vorjahr um knapp 6% (-277.000). Ihre Zahl ist in diesem Jahr sogar stärker zurückgegangen als die Arbeitslosigkeit im SGB II. Verantwortlich für diesen deutlichen Rückgang war vor allem der wirtschaftliche Aufschwung 2010/2011, von dem dann auch die Langzeitarbeitslosen ein wenig profitieren konnten. Daneben spielten der Rückgang der Zahl der BürgerInnen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren und gesetzliche Änderungen (u.a. Kinderzuschlag, Anrechnung von Elterngeld) eine Rolle.

Die im Jahredurchschnitt 2011 4,62 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten lebten gemeinsam mit 1,74 Mio. nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (vor allem Kinder unter 15 Jahren) in 3,42 Mio. Bedarfsgemeinschaften. Auch deren Zahl ist 2011 um gut 4% (-159.000) zurückgegangen. Damit war im Jahresdurchschnitt 2011 gut jeder neunte Haushalt (10,7%) und 8,6% der Menschen im erwerbsfähigen Alter auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen.

Von den 4,62 Mio. Arbeitslosengeld II-BezieherInnen im Jahr 2011 galten im Jahresdurchschnitt 2,08 Mio. als arbeitslos und wurden überwiegend in einem Jobcenter betreut. Auch das waren so wenige wie nie zuvor seit Einführung des SGB II. Im September 2011 wurde sogar erstmals die Marke von zwei Millionen unterschritten. Die konjunkturelle Erholung und der folgende starke wirtschaftliche Aufschwung hatten sich zunächst schneller und stärker auf die Arbeitslosigkeit im Bereich der Arbeitslosenversicherung ausgewirkt, seit Anfang 2011 aber zunehmend auch den Rechtskreis SGB II erfasst. Dennoch sank die Arbeitslosigkeit im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nur verhalten - auch wegen des politisch gewollten starken Rückgangs der Teilnehmerzahlen an entlastenden Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik. Ohne diesen Rückgang läge die Zahl der Arbeitslosen noch erheblich niedriger.

Dass die Grundsicherung alles andere als ein "Ruhekissen" ist, zeigt die Bewegung, die sich hinter diesen Bestandszahlen verbirgt. So wurden im gleitenden Jahreszeitraum September 2010 bis August 2011 insgesamt 1,90 Mio. erwerbsfähige Personen hilfebedürftig. Im gleichen Zeitraum gelang es 2,26 Mio. ALG II-BezieherInnen, ihre Hilfebedürftigkeit zumindest zeitweise zu beenden. Allerdings können viele GrundsicherungsbezieherInnen der Hartz IV-Falle nicht entkommen. So hat mehr als die Hälfte der im Jahreszeitraum zugegangenen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in den zwölf Monaten zuvor bereits mindestens einmal Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Arbeitsuchende bezogen, über ein Drittel innerhalb der letzten drei Monate. Und: Von den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten waren im gleitenden Jahresdurchschnitt von September 2010 bis August 2011 mehr als zwei Drittel in den vergangenen 24 Monaten mindestens 21 Monate hilfebedürftig. Der Anteil von Langzeitbeziehern lag bei arbeitslosen Leistungsberechtigten bei fast 70%. Ein Großteil der Hartz IV-BezieherInnen ist allerdings nicht arbeitslos gemeldet. Das hängt damit zusammen, dass diese Personen erwerbstätig sind ("Aufstocker"), kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder sich noch in der Ausbildung befinden.


Arbeitslosigkeit und Gründe für Nicht-Arbeitslosigkeit erwerbsfähiger Leistungsberechtigter (eLb) und der Bedarfsgemeinschaften, Jahresdurchschnitt 2011
gesamt 5,360 Mio*
(* Abweichung zur Summe aus Arbeitslosengeldbeziehern und erwerbstätigen Leistungsberechtigten, da die Zahl der Aufstocker nicht enthalten ist.)
  829.000 Arbeitslosengeld-Bezieher
4.615.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte
(Alg II)
gesamt 4,615 Mio
43% arbeitslos = 1.992.000
nicht arbeitslos = 2.623.000
2,623 Mio. (nicht arbeitslos), davon
633.000 ungeförderte Erwerbstätigkeit
512.000 arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
258.000 vorruhestandsähnliche Regelungen
636.000 Schule, Studium, Ausbildung bzw.
Erziehung und Pflege von Angehörigen
584.000 sonstige (u.a. arbeitsunfähig erkrankt)
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), SGB II Sozialgesetzbuch Zweites Buch, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Jahresbericht 2011, Nürnberg, April 2012

Förderung des Niedriglohnsektors: "Aufstocker"(4)

Zu denen, die Hartz IV beziehen und nicht als arbeitslos gelten, zählen die "Aufstocker". Trotz (noch) steigender Beschäftigung und nomineller Lohnsteigerungen gab es Mitte 2011 570.000 Beschäftigte, die einen sozialversicherten Job ausübten und Sozialbeiträge zahlten, von ihrer Arbeit aber nicht leben konnten und auf Hartz IV angewiesen waren. Bundesweit waren dies 2,5% aller sozialversicherten Beschäftigten.

Von den Aufstockern mit sozialversichertem Job gingen rd. 330.000 einer Vollzeitbeschäftigung nach und knapp 240.000 übten sozialversicherte Teilzeit aus. Im Vergleich zu den Vorjahren zeigen sich zwischen diesen Beschäftigungsformen unterschiedliche Entwicklungslinien. So stieg die Zahl der Hilfeempfänger mit sozialversicherter Teilzeit kontinuierlich an, während die Vollzeitbeschäftigten nach 2008 abgenommen haben. Dies ist insbesondere auf eine gesetzliche Korrektur des Kinderzuschlags zum 1. Oktober 2008 zurückzuführen: Seitdem werden mehr erwerbstätige Personen, die zwar das eigene Existenzminimum sichern können, aber wegen der Kinder auf Hartz IV angewiesen sind, über den Kinderzuschlag gefördert und können ihre Hartz IV-Bedürftigkeit beenden. Die in einigen Branchen zwischenzeitlich durchgesetzten Mindestlöhne haben gleichfalls dazu beigetragen, dass das Hartz IV-Risiko von Vollzeitbeschäftigten etwas verringert werden konnte.

Neben den Aufstockern mit sozialversichertem Job gehen viele Hartz IV-EmpfängerInnen aber auch einer geringfügigen Beschäftigung nach oder sind selbständig. Bezieht man diesen Personenkreis mit ein, so erhöht sich die Zahl der erwerbstätigen Hartz IV-Bezieher auf insgesamt 1,36 Mio. Mitte 2011, eine Steigerung gegenüber 2007 um gut 100.000. Dies entspricht einem Anteil von 29% aller Hartz IV-EmpfängerInnen im erwerbstätigen Alter von 15 bis 64 Jahren. Und die (zeitweilige) Erwerbsbeteiligung von Hartz IV-Empfängern ist erheblich höher, als die durchschnittlichen Bestandszahlen ausweisen. Die hohe Zahl instabiler Beschäftigungsverhältnisse geht vielfach mit einem Wechsel von Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit und unterschiedlichen Überschneidungen von Hartz IV und Erwerbstätigkeit einher.

Wie bei den Arbeitslosen sind die Stichtagszahlen auch bei den Aufstockern nur eine Momentaufnahme. Der Bestand schlägt sich ständig um und geht mit größeren Zu- und Abgängen einher. Die Zahl der Aufstocker, die im Laufe eines Jahres Hartz IV erhalten, ist etwa doppelt so hoch, wie der durchschnittliche Bestand der erwerbstätigen Hartz IV-Bezieher ausweist. In diesen Daten ist die hohe Zahl jener nicht einmal enthalten, die Arbeitsgelegenheiten durchlaufen. Allein zwischen 2005 und 2008 wurden insgesamt 4,5 Mio. verschiedene Hartz IV-Empfänger gezählt, die zeitweilig erwerbstätig waren und zugleich Aufstockungsleistungen empfangen haben.

Doch längst nicht alle Geringverdiener stocken tatsächlich auf, obwohl sie Anspruch auf staatliche Hilfe hätten. Nur etwa jeder/jede zweite Vollzeitbeschäftigte tut dies, die anderen verzichten darauf, obwohl sie einen Rechtanspruch hätten. Als wesentliche Gründe für den Verzicht auf Hartz IV gelten neben fehlendem Wissen über bestehende Ansprüche auch Scham und Scheu vor dem komplizierten Antragsverfahren, dem Umgang der Hartz IV-Behörden und anderer staatlicher Fürsorgeinstitutionen mit den Anspruchsberechtigten. Viele wollen sich nicht vor der Behörde "quasi finanziell ausziehen".

Der Bestand an erwerbstätigen Aufstockern ist nur die Spitze des Eisbergs all jener, die trotz Erwerbstätigkeit Hartz IV oft nicht dauerhaft überwinden können. Vielmehr droht sich die Zahl jener zu erhöhen, die in eine Prekaritätsfalle geraten, die trotz aller Anstrengungen und einem vielfachem Wechsel von Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit Hartz IV-Bedürftigkeit nicht nachhaltig überwinden können. Der Ausstieg aus Hartz IV ist schwer, sei es weil Kinderbetreuung fehlt, der Arbeitsvertrag nur befristet ist, oder die neuen Arbeitsverhältnisse überwiegend im Niedriglohnsektor liegen.

Hartz IV war und ist nicht nur ein Sicherungssystem für Erwerbslose. Vielmehr hat sich der Anteil der Haushalte mit Erwerbseinkommen in den letzten Jahren eher erhöht: So stieg die Zahl der Bedarfsgemeinschaften mit Erwerbseinkommen von 1,09 Mio. in 2007 auf 1,23 Mio. im Jahr 2010 und ihr Anteil an allen hilfebedürftigen Haushalten von 29% auf 34%. Dieser Zuwachs ist allein auf die Haushalte mit sozialversicherter sowie geringfügiger Teilzeit zurückzuführen.

Leistungen zur Eingliederung in Arbeit (nur SGB II)

2006
2007
2008
2009
2010
2011
2011
Plan 2012
Plan 2013

Ist
Ist
Ist
Ist
Ist
Soll
Ist
Soll 2012
Soll 2013
erwerbsfähige
Leistungsberechtigte (eLB)
5.392.166

5.277.556

5.011.438

4.909.085

4.894.219



4.615.057

4.500.000



Leistungen zur Eingliederung
(nur SGB II o. BP) pro eHb
4.470.090

4.833.199

5.356.547

5.659.238

5.647.584

4.660.000

3.938.114

3.780.000

3.315.000

Bundesprogramme (Bp)1)
153.796
164.436
136.805
243.155
369.175
640.000
507.184
620.000
585.000
Leistungen zur Eingliederung
gesamt
4.623.886

4.997.635

5.493.352

5.902.393

6.016.759

5.300.000

4.445.298

4.400.000

3.900.000

Leistungen zur Eingliederung
in Arbeit (nur SGB II)
829

916

1.069

1.153

1.154

1.010

853

840



Leistungen zur Eingliederung
inkl. Bp pro eHb
858

947

1.096

1.202

1.229

1.148

963

978




Sinkende Kosten von Hartz IV

Die sinkende Zahl von Hartz IV-BezieherInnen und Bedarfsgemeinschaften hat natürlich Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Kosten der Langzeitarbeitslosigkeit. So sanken die Ausgaben des Bundes für die "Grundsicherung für Arbeitssuchende" von 38,7 Mrd. im Jahr 2006 auf nurmehr 33,0 Mrd. Euro im Jahr 2011. Für das Arbeitslosengeld II wurden 2006 noch 26,4 Mrd. Euro ausgegeben, 2011 sieben Mrd. Euro weniger, also 19,4 Mrd. Euro. Ein gewichtiger Faktor bei dieser Kostensenkung ist, dass es 2011 etwa eine Million weniger Personen in Bedarfsgemeinschaften gab also noch 2006. Daneben aber wurden eine Reihe von gewichtigen politischen Entscheidungen getroffen, die das Mindestsicherungsniveau noch weiter abgesenkt haben. Zu ihnen gehört - trotz Ermahnung des Bundesverfassungsgerichts - erstens die Entscheidung, die Regelsätze unter dem Armutsniveau zu halten. Rechnet man die Inflationsrate dagegen, sind die Regelsätze sogar gesunken. So liegt der Netto-Zahlungsanspruch (ohne Sozialversicherung) pro Bedarfsgemeinschaft und Monat 2011 mit 683,79 Euro nur knapp 6% über dem von 2006. Zweitens hat die schwarz-gelbe Bundesregierung entschieden, die Haushaltssanierung auf Kosten der Hartz IV-EmpfängerInnen durchzuführen. Sie beschloss u.a., 7,2 Mrd. Euro durch Abschaffung des Zuschusses an die Rentenversicherung und 1,6 Mrd. Euro durch die Abschaffung des Elterngelds bei ALG II-Bezieherinnen einzusparen. Dies hat zur Folge, dass der Bruttozahlungsanspruch (inkl. Sozialversicherung) pro Bedarfsgemeinschaft und Monat von 845,18 Euro im Jahr 2006 auf 808,39 Euro im Jahr 2011 abgesunken ist. Drittens - und besonders folgenreich - ist die Entscheidung von Schwarz-Gelb, die Ausgaben für Leistungen von Eingliederung in Arbeit im SGB II drastisch herunterzufahren - und zwar sehr viel stärker als dies der Rückgang der Zahl der Leistungsberechtigten begründen könnte. Wurden dafür 2010 noch sechs Mrd. Euro ausgegeben, waren es im Jahr 2011 1,6 Mrd. Euro weniger, also 4,4 Mrd. Euro. Und nach der Planung der Bundesregierung sollen es 2013 nurmehr 3,9 Mrd. Euro sein.

Die Bundesregierung hält den Druck auf die Arbeitsmarktpolitik hoch. So sollen der Eingliederungsbeitrag (§ 46 Abs. 4 SGB II), den die Bundesagentur für Arbeit an den Bund zu zahlen hat (2012: 3,8 Mrd. Euro) und die "Beteiligung des Bundes an den Kosten der Arbeitsförderung" ("Mehrwertsteuerpunkt", 2012 abgeschmolzen auf 7,2 Mrd. Euro) ganz abgeschafft werden. Damit fehlen der BA unterm Strich 3,4 Mrd. Euro, was den Zwang zu noch weniger aktiver Arbeitsmarktpolitik deutlich erhöht. Dieses weniger an aktiver Arbeitsmarktpolitik im SGB II geht einher mit einer massiven Ausweitung der Sanktionen vor allem gegenüber den arbeitslosen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Wurden gegen sie 2007 noch 777.479 Sanktionen ausgesprochen, werden es 2012 voraussichtlich über eine Million sein - ein Steigerung um satte 28,6%. Bezieht man das auf die (sinkende) Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, waren 2007 14,7% von einer Sanktion betroffen und 2012 22,7%.


Faule Arbeitslose?

Neben der wachsenden Schar von Lohnabhängigen, die in prekären, unsicheren Arbeitsverhältnissen stecken, gibt es eine große Zahl von dauerhaft Ausgegrenzten, zu denen viele Hartz IV-EmpfängerInnen gehören. Zu Recht wird hier von einem "verfestigten Prekariat" gesprochen. Charakteristisch für diese vielschichtig zusammengesetzte soziale Kategorie ist, dass sie - sei es aufgrund eigener Erfahrungen, sei es, weil das soziale Umfeld es nahelegt - die Orientierung auf eine reguläre Erwerbsarbeit aufgegeben haben. Die Antizipation der eigenen Chancenlosigkeit mündet in eine mehr oder minder bewusste Abkopplung von der offiziellen Arbeitsgesellschaft. "Normalarbeit" wird zu einem fiktiven Maßstab, den zu erreichen für die Befragten im Grunde unmöglich geworden ist. Realistisch erscheint allenfalls der Sprung in ein prekäres Arbeitsverhältnis, eine Aussicht, die Qualifizierungsbemühungen subjektiv entwertet und Vermeidungsverhalten fördert.

Vor diesem Hintergrund wird die Option, sich in einer Art Subgesellschaft einzurichten, zu einer realistischen Alternative. Sie entlastet vom ständigen Kampf um eine Einmündung in den ersten Arbeitsmarkt und der wenig attraktiven Aussicht eines dauerhaften Aufenthalts im prekären Segment. Auch diese "Abkehr vom Arbeitsmarkt" bedeutet allerdings nicht Akzeptanz eines passiven Bürgerstatus. Dies zeigen die Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das jährliche Befragungen über die Arbeitsmotivation und Konzessionsbereitschaft von Langzeitarbeitslosen, die Hartz IV beziehen, durchführt.(5) Danach sind zwei Drittel der 15 bis 65-jährigen GrundsicherungsempfängerInnen zum Befragungszeitraum 2007/2008 einer Tätigkeit nachgegangen: Sie waren erwerbstätig, in Ausbildung, Teilnehmer an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder mit Kinderbetreuung bzw. der Pflege von Angehörigen beschäftigt. Die wichtigsten Ergebnisse:

1. Der Anteil der Hartz IV-BezieherInnen, die Arbeit für das Wichtigste im Leben halten, ist höher als in der Vergleichsgruppe der Nicht-BezieherInnen. Gut 76% antworten auf die entsprechende Frage mit "stimme eher zu" oder "stimme voll und ganz zu". Geringe Unterschiede finden sich bei der Aussage, auch arbeiten zu wollen, wenn man das Geld nicht brauchen würde (80,1% der BezieherInnen und 78,4% der Nicht-BezieherInnen). Die Meinung, dass Arbeit ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt, ist in beiden Gruppen auf sehr hohem Niveau (86,1% und 88,1%) ähnlich häufig zu finden. Bei den Leistungsbeziehern wird andererseits aber auch deutlich, dass für viele in dieser Gruppe die Verbesserung der finanziellen Situation durch die Erwerbsarbeit eine besonders große Rolle spielt (55,1% gegenüber 45,4%). Es bleibt festzuhalten, dass die Arbeitsmotivation der Leistungsempfänger - nach eigenen Angaben - eher höher ist als die der übrigen Bevölkerung.

2. Unter den Befragten, die im Zeitraum von vier Wochen vor der Befragung nach Arbeit gesucht haben, weisen die GrundsicherungsbezieherInnen in fast allen Fragen zur Konzessionsbereitschaft höhere Werte auf als die beiden Vergleichsgruppen. Sie würden für eine neue Arbeitsstelle schlechtere Bedingungen in Kauf nehmen als Arbeitsuchende ohne Grundsicherungsbezug. Besonders deutlich wird das bei der Frage, ob auch eine Arbeit unterhalb des Qualifikationsniveaus angenommen würde. Hier geben vier von fünf SGB-II-Leistungsbeziehern an, auch eine Arbeit unter ihrem Qualifikationsniveau aufnehmen zu wollen. Unter den Personen, die keine Leistungen beziehen, ist es nur etwas mehr als die Hälfte, bei den übrigen Arbeitslosen sind es knapp 75%. Ähnliche Muster finden sich für die Akzeptanz langer Arbeitswege und ungünstiger Arbeitszeiten.

3. Ein weiterer aufschlussreicher Zugang zur Bewertung der Arbeitsmotivation von SGB-II-LeistungsempfängerInnen ergibt sich beim Blick auf deren Erwerbsbiografie: Ein sehr großer Teil ist im Beobachtungszeitraum zumindest vorübergehend erwerbstätig. Von den 8,87 Mio. erwerbsfähigen Hilfebeziehern, die zwischen Januar 2005 und Dezember 2007 mindestens einmal Leistungen bezogen haben, sind nur 2,18 Mio. - also nicht einmal jeder Vierte - durchgängig im Bezug gewesen. Zwar ist nicht jeder, der den Bezug verlässt, anschließend erwerbstätig, doch ist die Erwerbstätigkeit der häufigste Status nach der Beendigung der Bedürftigkeit. Zudem waren zwischen 2005 und 2008 insgesamt 4,5 Mio. verschiedene GrundsicherungsempfängerInnen zeitweilig parallel erwerbstätig und haben Aufstockerleistungen empfangen.

4. Rund 60% der Hartz IV-BezieherInnen sind laut SGB II verpflichtet, Arbeit zu suchen. Etwa zwei Drittel von ihnen tun dies tatsächlich, teils auf vielfältige Weise. Dennoch sind die Erfolge relativ bescheiden: Nur etwas mehr als ein Viertel der Suchenden hatte im Vormonat der Befragung ein Vorstellungsgespräch. Bei den verbleibenden 40% handelt es sich mehrheitlich um Entmutigte und um Personen, bei denen die Arbeitsfähigkeit hergestellt werden muss.

Die Analysen des IAB belegen insgesamt eine - nach den Selbstauskünften - vergleichsweise hohe Arbeitsmotivation und Konzessionsbereitschaft der SGB-II-Leistungsempfänger: Sie weisen der Arbeit einen hohen Stellenwert zu und sind eher als andere Arbeitsuchende bereit, Konzessionen einzugehen, um wieder eine Arbeit zu finden. Zudem ist die Mehrheit der Personen, die Leistungen der Grundsicherung beziehen, mit regelmäßigen Aufgaben beschäftigt. Dabei weist ein erheblicher Anteil durch Erwerbstätigkeit oder Ausbildung eine große Nähe zum Arbeitsmarkt auf. Eine weitere große Gruppe ist mit der Betreuung von Kindern oder der Pflege anderer Personen beschäftigt. Diese Aufgaben werden vor allem von Frauen wahrgenommen. Für viele von ihnen dürfte sich die Arbeitsmarktintegration aufgrund der Kinderbetreuung schwierig gestalten.

Diese These kann erhärtet werden, wenn man den hohen Anteil an Alleinerziehenden-Haushalten im Leistungsbezug berücksichtigt. 40% der Alleinerziehenden benötigen Hartz IV - fast ausschließlich Frauen. Mehr als ein Drittel geht parallel zum Leistungsbezug einer Erwerbstätigkeit nach. Meist handelt es sich bei dieser Beschäftigung aber lediglich um einen Mini-Job, der einen Verdienst von maximal 400 Euro im Monat erlaubt. Das fehlende Angebot an ganztägiger Betreuung erlaubt oft keine Erwerbstätigkeit in größerem Umfang - obwohl drei von vier alleinerziehenden Harz IV-EmpfängerInnen bei der Jobsuche bereit sind, unterhalb ihres fachlichen Könnens und unter belastenden Arbeitsbedingungen zu arbeiten.

Dass sich die EmpfängerInnen von Grundsicherungsleistungen in einer schwierigen Situation befinden und ihr Leben kein Honigschlecken ist, wird in der Bevölkerung sehr wohl wahrgenommen - insofern funktioniert der Druck, der durch die "Jahrhundertreform" bewirkt werden sollte. Nach der bereits erwähnten Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach halten es 90% der Deutschen ab 16 Jahre für "voll und ganz" oder "eher" zutreffend, dass sich Hartz IV-EmpfängerInnen finanziell sehr einschränken müssen, 79% dass sie über ihre Situation unglücklich sind, und 71% dass sie sich überflüssig und nicht anerkannt fühlen.(6)

Gleichzeitig bestehen allerdings auch weit verbreitete Vorurteile gegenüber SGB II-Empfängerinnen. So halten 57% der Befragten die LeistungsbezieherInnen eher für schlecht ausgebildet, dabei haben 73% der Langzeitarbeitslosen ein Schulabschluss, 40% besitzen einen Hauptschulabschluss, 21% die mittlere Reife und 10% das Abitur. Ebenfalls 57% meinen, dass die LeistungsbezieherInnen eher zu wählerisch bei der Arbeitssuche sind, oder gehen davon aus (55%), dass sie nichts Sinnvolles zu tun haben, nur die Zeit totschlagen, und sich nicht selbst aktiv um Arbeit bemühen (55%). Gut ein Drittel der Bevölkerung teilt den generellen Eindruck, dass Menschen in der Grundsicherung nicht arbeiten wollen. Diese Ressentiments sind in den Teilen der Bevölkerung, die selbst keinen nahen Kontakt zu LeistungsempfängerInnen haben, überdurchschnittlich stark verbreitet. Andererseits zeigen diejenigen, die näheren persönlichen Kontakt zu "Hartz IV-Beziehern" haben, häufiger Verständnis für deren schwierige Situation.

Hier müssen also Gewerkschaften, Sozialverbände, zivilgesellschaftliche Organisation und die politische Linke viel Aufklärungsarbeit leisten - gerade auch in der Perspektive einer Re-Regulierung des Arbeitsmarkts. Es wäre ein bedeutender Schritt in Richtung einer solchen neuen Regulierung, wenn die bisherigen Achsen des Hartz IV-Regimes aufgegeben würden, die durch unzureichende Regelsätze, ein erniedrigendes System von Sanktionen und Formen von "Beschäftigung" gekennzeichnet sind, und in denen keine Perspektive entwickelt werden kann.

Ein Sozialstaat des 21. Jahrhunderts, der in der Gesellschaft breite Akzeptanz und Unterstützung findet, muss auf einer modernen Konzeption der Arbeit gründen, inklusive eines sozialen Arbeitsmarktsektors, einer Qualifikations- und Arbeitszeitpolitik. Eine neue Zeitpolitik für flexible Lebens- und Erwerbsläufe ist die Grundlage für einen neuen Typus von Vollbeschäftigung. Wir brauchen Anrechte auf Guthaben für Bildungszeiten, Erziehungszeiten oder Auszeiten. Eine gerechte Verteilung der Arbeit und damit auch eine Verkürzung der allgemeinen Regelarbeitszeiten bleibt weiterhin das eigentlich erstrebenswerte und gesellschaftspolitisch sinnvolle Ziel.


Bernhard Müller ist Redakteur von Sozialismus.


Anmerkungen

(1) Gerhard Schröder, "Draghis kluge Entscheidung hält Euro-Zone zusammen", in: Handelsblatt vom 11.9.2012 (www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-draghis-kluge-entscheidung-haelt-euro-zone-zusammen/7118894.html)

(2) www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Pressemeldungen/2012/Presse-12-042-Allensbach-Bericht.pdf

(3) Robert Castel, Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 104

(4) Siehe zum Folgenden: Wilhelm Adamy, Hartz IV - Bedürftigkeit von Erwerbstätigen, DGB-Bundesvorstand, Berlin 10.1.2012.

(5) Jonas Beste/Arne Bethmann/Mark Trappmann, ALG-II-Bezug ist nur selten ein Ruhekissen, IAB Kurzbericht 15/2010

(6) www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Pressemeldungen/2012/Presse-12-042-Allensbach-Bericht.pdf

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Quelle:
Sozialismus Heft 11/2012, Seite 37 - 42
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2013