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ORGANISATION/241: Caritas - Ein Hilfswerk auf dem Prüfstand (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 7/2011

Caritas: Ein Hilfswerk auf dem Prüfstand

Von Alexander Foitzik


In einem Fachsymposion stellte sich Caritas international der Kritik der renommierten Journalistin Linda Polman: Ihr zufolge verlängert humanitäre Hilfe in Kriegs- und Konfliktregionen oft nur das Leiden der Opfer.


Die Vorwürfe wiegen schwer, und die sie erhebt, kann auf eigene Anschauung und eine reiche, über 20-jährige Berufserfahrung verweisen. Ende letzten Jahres veröffentlichte die in Fachkreisen renommierte niederländische Journalistin Linda Polmann eine Art Schwarzbuch der humanitären Hilfe durch so genannte internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO) in Kriegsgebieten und Konfliktregionen. "Die Mitleidsindustrie" ist die deutsche Übersetzung des auch jenseits der Fachpresse in den Medien wahrgenommenen Buches vielsagend betitelt (Verlag Campus, Frankfurt 2010).

Afghanistan, Äthiopien, Liberia, Ruanda, Sierra Leone, Somalia und der Kongo - an all diesen Orten hat Polman über Jahre hinweg beobachtet, wie die ursprünglich gut gemeinte Hilfe westlicher Nichtregierungsorganisationen oft wirkungslos bleibt, im schlimmsten Fall aber kontraproduktiv wirkt, Kriege und Konflikte verlängert, weil die humanitäre Hilfe selbst zur Kriegswaffe wird.

Viel zu oft kommen demnach Hilfsgelder nicht nur den Opfern zugute, sondern verschwinden in den Taschen von Diktatoren und Rebellenführern. Denn Helfer müssen sich den Zugang zu Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern mit Hilfsgeldern oder Hilfsgütern teuer erkaufen, haben sich mit korrupten Regierungen oder "Warlords" zu arrangieren und werden so zu "unfreiwilligen Kollaborateuren."


Das wohl schockierendste Beispiel in diesem Buch, Polman spricht von der "totalen ethischen Katastrophe": In den riesigen Lagern, die das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in Goma im Osten der Demokratischen Republik Kongo eingerichtet hatte, unterstützte ein Heer internationaler Hilfsorganisationen die Täter: Hutu-Milizen, die sich nach den Massakern an der Tutsi-Bevölkerung in Ruanda 1994 dorthin, zurecht Rache fürchtend, "geflüchtet" hatten, samt ihrer zum Teil schweren Waffen. Über die Hälfte der Hilfsgüter - die mitleiderregenden Fernsehbilder aus den Lagern der vermeintlich Überlebenden des Genozids hatte eine Spendenwelle in Rekordhöhe ausgelöst - stahlen offenbar die Milizen, nicht zuletzt um neue Waffen zu kaufen. Von "Feeding the Killers" spricht man in solchen Fällen seitdem resignierend-zynisch in der Helfer-Szene, darf man Polman Glauben schenken.


Entsprechend scharf kritisiert die Journalistin vor diesem Hintergrund, dass die internationalen Hilfsorganisationen das Prinzip der politischen Neutralität, der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als ethische Grundlage ihres Handelns seit Henry Dunant wie ein Schild vor sich her trügen. In den meisten Fällen lasse sich dieser Neutralitätsanspruch gar nicht aufrechterhalten, könnten es sich die NGOs gar nicht erlauben, apolitisch zu sein.

Selbstredend traf Polman während ihrer zahlreichen Recherche-Reisen auch einzelne Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, deren quasi kolonialistisches Verhalten so gar nicht zu dem Bild passen will, das sich wohl die meisten Spender leicht verklärend machen: von den selbstlosen Helfern im unermüdlichen Dienst an den Armen und Geschundenen dieser Welt.


Vorsicht Hilfsorganisationen?

Nun herrscht aber in der "Mitleidsindustrie" und auf dem nach wie vor boomenden "Markt der Wohltätigkeit" bei immer mehr Akteuren (die Vereinten Nationen zählen 37 000 solcher Organisationen weltweit) eine unerbittliche Rivalität um Hilfsgelder, ein gnadenloser Konkurrenzkampf um Spender und die Aufmerksamkeit der Medien (deren Gesetze sich auch die neuen Kriegsherren in den zahlreichen Konflikten dieser Erde längst zunutze machen): Und so verschweigen die Hilfsorganisationen aus Angst vor einem Negativ-Image Korruption, Missbrauch und Misserfolg der Hilfsgelder, ebenso das Fehlverhalten ihrer Mitarbeiter. Zuletzt gehe es den Helfern mehr um den Selbsterhalt, die eigenen Interessen, tritt die Hilfe für die Opfer immer mehr in den Hintergrund.

In vielen Fällen, dies scheint die Lektüre der "Mitleidsindustrie" dem schockierten oder zumindest sehr ernüchterten Leser nahezulegen, hätten sich die Helfer schleunigst zurückziehen müssen, wäre nicht zu "helfen" die wohl größere Hilfe gewesen. Diese letzte Konsequenz, auf Hilfe zu verzichten, aber will Polman selbst nicht ziehen. Vielmehr appelliert sie vor allem an die aufgeklärten Spender, den Helfern unerbittlich unbequeme Fragen nach ihrer Arbeit und dem Verbleib der Hilfsgelder zu stellen.


So war es auf den ersten Blick vielleicht überraschend, in jedem Fall aber mutig, dass Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, Ende Mai die Journalistin zu einem Fachsymposion ("Vorsicht Hilfsorganisationen? Die Mitleidsindustrie auf dem Prüfstand") nach Freiburg lud, um mit etwa 150 Mitarbeitern auch anderer kirchlicher Hilfswerke, mit Vertretern aus Politik und Medien die provozierenden Thesen Polmans zu diskutieren. Denn dass man um die Wunde durchaus weiß, in die Polman so öffentlich wirksam ihren Finger gelegt hat, betonten schon zu Beginn des Symposions der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, und der Leiter von Caritas international, Oliver Müller. Beide bekräftigten jedoch auch die Bereitschaft, über Misserfolge zu reden, auch gegenüber den eigenen Spendern.


Den Anlass, sich der schonungslosen Abrechnung Polmans zu stellen - die Autorin spricht selbst von einem "Pamphlet", das eine Debatte auslösen soll -, gab ausgerechnet der altersbedingte Abschied des stellvertretenden Leiters von Caritas international, Jürgen Lieser, der sich in unterschiedlichen Positionen 30 Jahre lang für Caritas international dem inkriminierten Geschäft gewidmet hat. Als Mitdiskutanten hatte man Lieser und Polmann, den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion und früheren Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler, den Politikwissenschaftler und Friedensforscher Jochen Hippler und den Afrika-Korrespondenten des "Spiegel", Horand Knaup, zur Seite gestellt.

Lieser war es dann auch, der als Erster reagierte auf die von Polmann in Freiburg noch einmal angeschärften Thesen, aktualisiert mit einschlägigen Beobachtungen zu einer in ihren Augen mehr oder minder wirkungslosen Hilfe für die Erdbebenopfer in Haiti; obwohl die Organisationen auch dort angetreten seien, alte Fehler zu vermeiden, versande die meiste Hilfe doch wegen fehlender Kooperation und Koordinierung unter den unzähligen Hilfsorganisationen.

Weder Lieser noch die Vertreter anderer Hilfswerke und -organisationen machten es sich dabei so leicht, das eigene Tun nur mit Verweis auf ein paar schwarze Schafe reinzuwaschen. Zugleich mahnten sie jedoch zu differenzieren und warfen der Journalistin vor, ihre berechtigte Kritik in allzu einfache Schwarz-Weiß-Schablonen zu pressen.

So unterscheide sie beispielsweise nicht zwischen den einzelnen Organisationen der Vereinten Nationen, einem Hilfswerk wie Caritas international, das seine Hilfe ausschließlich mit lokalen Partnern realisiert, und etwa den von allen Experten als hochproblematisch eingeschätzten Kleinst-Hilfswerken hoch engagierter, aber meist völlig unprofessionell agierender (prominenter) Einzelpersonen, die sich als Gegenbewegung zu den vermeintlich überbürokratisierten internationalen Hilfsorganisationen verstehen; in der Helferszene offenbar als "Mongos" (My Own NGO) verspottet. Deutlicher unterscheiden in ihrer Kritik solle Polman aber auch zwischen humanitärer Hilfe im Krisen- und Konfliktfall und bei Naturkatastrophen.


Aus Fehlern gelernt

Vor allem aber stießen sich die in Freiburg versammelten Hilfs-Experten daran, wie wenig die Journalistin in ihrer Fixierung auf Negativbeispiele bereit sei, wahrzunehmen, dass in Hilfswerken wie Caritas international seit Jahren eine intensive Diskussion zu den durchaus bekannten Problemen und Dilemmata humanitärer Hilfe in Kriegs- und Konfliktregionen im Gange sei - unter anderem auch im Kontext von VENRO, dem Dachverband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen in Deutschland, dessen stellvertretender Vorsitzender Jürgen Lieser ist. Gerade aus dem Desaster in Ruanda habe man gelernt.

So verwies Lieser auf einen verbindlichen Verhaltenskodex, einen "Code of Conduct", zu dem sich etwa 300 Hilfswerke weltweit und unter ihnen auch Caritas international bereits verpflichtet haben. Seit 2009 sind bei Caritas international Leitlinien in Kraft, mit denen man Betrug und Korruption in der Projektarbeit bekämpfen will.


Differenzierung beziehungsweise der beklagte Mangel an Differenziertheit dürfte neben dem "Dilemma" bei diesem Fachsymposion die meist gebrauchten Begriffe gewesen sein - auch und erst recht bei der Auseinandersetzung mit dem "heißen Eisen Neutralität" (Oliver Müller). Als Prinzip und ethische Grundlage der Hilfe ist diese nicht aufzugeben, da war man sich einig. Nur lassen sich die Grenzen kaum grundsätzlich ziehen. Das beginnt etwa schon bei der Unterscheidung von Tätern und Opfern, wie eine Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH), des katholischen Fachdienstes zur Vermittlung von Entwicklungshelfern, für den Fall von "Kindersoldaten" anmahnte.

Problematisiert wurde unter anderem auch, dass humanitäre Hilfe immer mehr benutzt wird, um politische Ziele und Agenden zu verfolgen. Aber wo beginnt der Missbrauch und wo dient humanitäre Hilfe (immer schon) einfach nur gewünschten politischen Zielen, etwa der Stabilisierung eines Staates? Zurecht müssen sich die Unabhängigkeit beanspruchenden Hilfsorganisationen gegen jede Fremdbestimmung wehren, aber was heißt dies, so gab der Politologe Hippler zu bedenken, wenn NGOs bis zu 90 Prozent ihrer Hilfsgelder vom Staat und nicht von der Zivilgesellschaft erhalten?

Erler, der zwar die Politik zu einem noch stärkeren Hinschauen auf das Tun und Treiben der NGOs verpflichtete, von der Pauschalkritik Polmans jedoch entschieden Abstand nahm, mahnte vor allem die Trennlinie zwischen militärischem Einsatz und humanitärer Hilfe klar zu halten; Caritas international hat sich in diesem Sinne vehement gegen das so genannte Konzept "vernetzter Sicherheit" der Bundesregierung in Afghanistan gewehrt.


Bei aller Differenziertheit und mit offenem Blick für die Dilemmata, in die internationale Hilfsorganisationen in der Praxis wohl immer wieder geraten werden, war man sich beim Fachsymposion von Caritas international doch in einem einig: Sich aus der Hilfe zurückziehen und die Opfer alleine zu lassen, kann in keinem Fall eine sinnvolle Alternative sein.


Alexander Foitzik, Dipl. theol., geboren 1964 in Heidelberg. Studium der Katholischen Theologie in Freiburg und Innsbruck. Seit 1992 Redakteur der Herder Korrespondenz.
foitzik@herder.de


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 7, Juli 2011, S. 333-335
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2011