Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

REDE/049: Ursula von der Leyen zum Haushaltsgesetz 2011 am 16.09.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, zum Haushaltsgesetz 2011 vor dem Deutschen Bundestag am 16. September 2010 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Der Haushaltsentwurf, über den wir heute debattieren, steht immer noch sehr deutlich unter den Auswirkungen der Krise. Wir haben auf der einen Seite viel Geld investiert, gerade um den Arbeitsmarkt zu stabilisieren. Ich nenne die Konjunkturprogramme und die Ausgaben für das Kurzarbeitergeld. Das hat sich ausgezahlt. Wenn man die Arbeitslosendaten im August nimmt, dann sieht man, dass es gerade aus dem verarbeitenden Gewerbe, also der Branche, die am stärksten unter den Auswirkungen der Krise gelitten hat, weniger Zugänge in Arbeitslosigkeit gibt. Gleichzeitig wird die Kurzarbeit abgebaut. Das heißt, die Menschen gehen aus der Kurzarbeit wieder in die volle Beschäftigung. Dieses Prinzip, die Kurzarbeit als Brücke über die Krise zu nutzen, hat sich bewährt.

Wir sehen auch, dass wir am Arbeitsmarkt auf einem Niveau aus der Krise herauskommen, das niemand für möglich gehalten hätte. Experten haben uns noch im Jahr 2008 Arbeitslosenzahlen um 5 Millionen vorhergesagt. Wenn der positive Trend dieses Jahres weitergeht, dann könnte es gelingen, gegen Ende des Jahres die 3-Millionen-Marke zu unterschreiten.

Auch im internationalen Vergleich hat sich der deutsche Arbeitsmarkt gut gehalten. Die Arbeitslosigkeit ist in der Krise bei den EU-27 im Durchschnitt um 28 Prozent gestiegen, in Spanien um 60 Prozent, in Frankreich um 23 Prozent und in England um 35 Prozent. Aber in Deutschland ist die Arbeitslosigkeit nur um 3 Prozent gestiegen. Das, meine Damen und Herren, ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann. Das alles wirkt sich natürlich positiv auf den Sozialhaushalt aus. Für das Jahr 2011 liegen wir in der Gesamtsumme der Ausgaben des Einzelplanes 11 mit rund 131,8 Milliarden Euro deutlich unter dem alten Finanzplan, nämlich um 14,6 Milliarden Euro. Der größte Batzen in Höhe von 10 Milliarden Euro sind Einsparungen aufgrund des Anziehens der Wirtschaft und des Absinkens der Arbeitslosigkeit. Diese konjunkturellen Einsparungen sind nicht, wie sie so gerne bezeichnet werden, Windfall Profits. Nein, sie sind Einsparungen auf der Grundlage eines beherzten Krisenmanagements der Regierung. Sie beruhen auf richtigen politischen Entscheidungen, aber vor allem auch auf dem außergewöhnlichen Zusammenhalt von Gewerkschaften und Arbeitgebern. Das ist in der Tat etwas, was dieses Land auszeichnet.

So weit die Auswirkungen der Krise am Arbeitsmarkt. Im Prinzip gibt es eine positive Entwicklung durch ein gutes Krisenmanagement.

Wir wissen natürlich auch, dass die Krise ihre Spuren im Staatshaushalt durch eine exorbitant hohe Verschuldung hinterlassen hat. Deshalb reichen die Verbesserungen, die ich eben geschildert habe, durch sinkende Arbeitslosigkeit, was automatisch zu Einsparungen im Sozialetat führt, nicht aus. Unser Haushalt ist damit nicht nur Bilanz der guten Krisenbewältigung, sondern auch schon Vorbote für die nächsten Herausforderungen, nämlich der ganz klaren Ansage: Dieses Land muss strukturell konsolidieren.

Es gibt deshalb zu den Einsparungen in Höhe von 10 Milliarden Euro weitere 4,3 Milliarden Euro an strukturellen Einsparungen, die für die Schuldenbremse relevant sind. Das sind drei Prozent des Sozialhaushalts. Das ist schmerzhaft, aber das ist nicht unverhältnismäßig. Natürlich ist es im Sozialhaushalt immer schwierig, wenn man Prioritäten setzen muss. Was tun in einem Etat, der von Ausgaben für Rentnerinnen und Rentner, von Leistungen für Menschen mit Behinderungen, von Leistungen für Langzeitarbeitslose und ihren Lebensunterhalt dominiert ist?

Wir haben bewusst nichts bei den Renten der Rentnerinnen und Rentner und bei den Leistungen für Menschen mit Behinderungen verändert, und auch bei dem Etat für den Lebensunterhalt und die Warmmiete für Arbeitslose hat sich nichts verändert. Wir sparen aber da ein, wo nach reiflichen Überlegungen das eingesetzte Geld kaum Wirkung hat. Der Bund zahlt zum Beispiel jährlich 1,8 Milliarden Euro dafür, dass ein Langzeitarbeitsloser später gerade einmal zwei Euro Rente mehr im Monat hat. Daran sieht man: Man kann es drehen und wenden, es reicht für den Einzelnen in Zukunft niemals für eine auskömmliche Rente. Deshalb ist die Entscheidung gefallen, dafür heute nicht Milliarden einzusetzen, wenn es später keine Wirkung hat, sondern dies heute strukturell einzusparen. Das wird auch für die späteren Generationen die richtige Rendite sein.

Eine einfache Wahrheit lässt sich an diesem Beispiel auch ablesen: Aus Langzeitarbeitslosigkeit kann man keine Rente erwirtschaften. Die einzige Möglichkeit, Altersarmut zu vermeiden, sind möglichst viele Beitragsjahre in Arbeit.

Frau Hagedorn, die Reduktion der Einzahlungen in die Rentenversicherung wird nicht die Auswirkung haben, dass sie - das sind Ihre Worte gewesen - ein Loch in die Rentenkasse reißen wird, sondern sie ist dank der demografiefesten Leitplanken, die die Rente jetzt hat, durchaus verkraftbar.

Aber ich finde den zweiten Gedanken noch wichtiger, den Sie angesprochen haben. Sie haben zu Recht gesagt, die gängige Vorstellung ist, dass man, wenn man etwas spart, etwas zurücklegt, damit man in der Zukunft etwas hat. Ich muss ganz deutlich sagen: Ich wäre froh, wenn Deutschland in dieser Situation wäre. Aber unsere Haushalte sind weiß Gott nicht so, dass wir, wenn wir etwas einsparen, mehr auf der hohen Kante für die Zukunft haben; denn auch aufgrund der Politik einer hohen Verschuldung, die die Regierungen in den Jahren von Rot-Grün zu verantworten haben, ist die Verschuldung jetzt so hoch, dass wir es gerade eben schaffen können, ein Anwachsen der Schulden zu verhindern. Das heißt, Sparen bedeutet eigentlich nur, Ausgaben nicht wieder mit neu aufgenommenen Schulden tätigen, die sich drei- und vierfach negativ in den Haushalten der nächsten Jahre und damit zulasten der Kinder auswirken werden.

Es ist ganz entscheidend, in den kommenden Jahren die Geschichte eines robusten Arbeitsmarktes fortzuschreiben. Wir kehren bei den Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf das Vorkrisenniveau zurück: 9,5 Milliarden Euro für 2011. Das sind 400 000 Euro mehr, als 2008 zur Verfügung standen, obwohl das Niveau der Arbeitslosigkeit von 2008 schon heute wieder erreicht ist. Das heißt, dieser Haushaltsansatz ist vertretbar. Er ist mit Blick auf den Arbeitsmarkt verhältnismäßig. Zugleich ist er verantwortlich gegenüber dem Gesamthaushalt.

Der Etat meines Hauses für den Arbeitsmarkt beträgt auch jetzt noch rund 48 Milliarden Euro. Hinzu kommen die Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung. Das ist - keine Frage - noch immer viel Geld. Aber die Rahmenbedingungen der Vermittlung von Arbeitslosen verändern sich: Die Wirtschaft fasst wieder Tritt; die Zahl der offenen Stellen wächst. Wir fangen schon an, die Auswirkungen eines kommenden Fachkräftemangels in zahlreichen Branchen zu spüren. Das bedeutet aber auch: Wenn man passgenaue Maßnahmen zur Vermittlung in Arbeit und zur Weiterqualifizierung entwickelt, dann kann es gelingen, ein neues Fenster der Chancen für genau diejenigen Arbeitslosen zu öffnen, die in der Vergangenheit abgehängt waren, weil sie einfach durch die Konkurrenz der vielen Menschen, die in den Arbeitsmarkt hineindrängten, fast keine Chancen gehabt haben.

Es gibt einen weiteren positiven Punkt. Wir haben jetzt mit der Jobcenterreform die Grundlage für ein modernes, effizientes, selbstlernendes System der Vermittlung geschaffen. Deshalb wird es jetzt notwendig sein, sich in der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf die Programme und Maßnahmen zu konzentrieren, die nachweislich Menschen in Arbeit bringen. Eine Maßnahme, die wenig wirkt und viel Geld kostet, zementiert letztlich Arbeitslosigkeit. Deshalb werden wir auf der Grundlage wissenschaftlicher Evaluationen im nächsten Jahr prüfen: Wo können wir wirksamer werden? Welche Maßnahme bewirkt in der Tat eine zügige Vermittlung in Arbeit? Worauf können wir verzichten?

Wenn wir einen Teil der unwirksamen Maßnahmen aufgeben, dann können wir im Ergebnis beides tun, nämlich deutlich zur Haushaltssanierung beitragen und mit den bewährten Mitteln, mit erfolgreichen Maßnahmen, Menschen gezielt wieder in Arbeit bringen. Gute Arbeitsmarktpolitik hängt nicht von der absoluten Summe der eingesetzten Mittel ab, sondern zuallererst von der Qualität der Maßnahmen.

Arbeitslosigkeit entsteht aber vor allem durch schlechte und fehlende Ausbildung. Es ist ganz fatal, wenn sich Bildungsarmut und Benachteiligung von einer Generation in die nächste vererben und so Langzeitarbeitslosigkeit in Familien zementiert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat hier mit seinem Urteil im Februar den Finger in eine Wunde gelegt: Der Bund hat bei Kindern von Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, die von der schwierigen Situation ihrer Eltern genauso betroffen sind, eine Fürsorgepflicht. Die Fürsorgepflicht des Bundes bedeutet: Ja, Kinder müssen zur Schule gehen; aber sie müssen auch eine Chance haben, in der Schule mitzukommen und an den Aktivitäten der Gleichaltrigen im Alltag teilzunehmen.

Wir wissen doch zu gut, wie sehr sich der Kreislauf von wenig Bildung, wenig Chancen am Arbeitsmarkt und Transferabhängigkeit von einer Generation in die nächste fortsetzen kann, wenn man nicht von Anfang an gegensteuert. Man kann da mehr tun. Wir brauchen keinen teuren Reparaturmechanismus später, sondern reelle Chancen für die Kinder von Anfang an; das muss unser leitendes Prinzip sein.

Wir werden deshalb für Kinder, deren Eltern langzeitarbeitslos sind oder von Sozialhilfe leben, zusätzlich zum Lebensunterhalt, der wie bisher gezahlt wird, ein Bildungspaket entwickeln. Es geht um Lernförderung für Kinder, die in wichtigen Schulfächern nicht mitkommen. Es geht um das notwendige Schulmaterial. Es geht um ein warmes Mittagessen in der Schule oder in der Kita. Es geht um Teilhabe außerhalb der Schule bei Sport und Spiel.

Entscheidend ist, dass diese Kinder nicht länger ausgegrenzt werden und nicht bereits in den allerersten Lebensjahren den Anschluss an ihre gleichaltrigen Kameradinnen und Kameraden verlieren. Man könnte all das auf lange Sicht unkompliziert und unbürokratisch über eine Bildungskarte abrechnen. Manche sehen das als Stigmatisierung an. Ich sage: Die Stigmatisierung findet schon heute statt, nämlich wenn Kinder von Langzeitarbeitslosen nicht beim eintägigen Schulausflug mitmachen können, wenn bedürftige Kinder nicht am gemeinsamen, warmen Mittagessen in der Schule teilnehmen können, wenn bedürftige Kinder nicht mit ihren Klassenkameraden im Fußballklub sind, beim Turnen oder bei der "Kindermucke". Eine solche Stigmatisierung findet bereits heute statt, und der wollen wir ein Ende bereiten.

Ich möchte die logistische Aufgabe nicht kleinreden. Sie ist sicher nicht trivial. Man kann es auch umgekehrt sagen. Die kurzfristig bequemste, aber meines Erachtens langfristig teuerste, da wirkungsärmste Variante wäre: Geldbetrag erhöhen, auf das Konto überweisen, das Thema Bildungschancen ist erledigt. Das ist nicht mein Verständnis von nachhaltiger Politik.

Es ist unsere vornehmliche und verantwortungsvolle Aufgabe, uns der Mühe zu unterziehen, etwas zu unternehmen, indem wir es organisieren, dass im Zusammenspiel aller vor Ort die Lebensperspektiven bedürftiger Kinder verbessert werden. Die Anstrengung lohnt sich. Sie zahlt sich aus, nicht nur für eine Wirtschaft mit zunehmendem Fachkräftemangel, nicht nur für eine Gesellschaft im demografischen Wandel, nicht nur für eine Gemeinschaft, die heute eher teure Reparatursysteme bezahlt, sondern vor allem für das einzelne Kind, das bessere Lebenschancen und Lebensperspektiven hat. Lassen Sie uns deshalb diese Aufgabe gemeinsam angehen.


*


Quelle:
Bulletin Nr. 88-2 vom 16.09.2010
Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen,
zum Haushaltsgesetz 2011 vor dem Deutschen Bundestag am 16. September 2010 in Berlin
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Dorotheenstr. 84, D-10117 Berlin
Telefon: 01888 / 272 - 0, Telefax: 01888 / 272 - 2555
E-Mail: InternetPost@bundesregierung.de
Internet: http://www.bundesregierung.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2010