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ARBEIT/1995: "Leyen"-Statistik und die Realität dahinter (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 40 vom 7. Oktober 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

"Leyen"-Statistik und die Realität dahinter
Mit ihrem Monatsbericht legt die Bundesanstalt für Arbeit wieder eine kreative Statistik vor

von Manfred Dietenberger


Im September 2011 sank trotz Schuldenkrise und Rezessionsängsten die Zahl des offiziell in Bundesdeutschland als Arbeitslose registrierten Menschen auf jetzt 2,796 Millionen, den niedrigsten Wert seit Herbst 1991. Ursächlich dafür verantwortlich sei - so der Weise Frank-Jürgen, Chef der Bundesagentur für Arbeit, der Konjunkturaufschwung. Aber gerade derartige langfristige Vergleiche sind mit Vorsicht zu genießen, weil es im Laufe der Jahre immer wieder "kreative" statistische Änderungen gibt. Die positive Arbeitsmarktentwicklung sei real und beruhe nicht auf irgendwelchen statistischen Mogeleien, sagt dazu der Arbeitsmarktexperte der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, Alexander Herzog-Stein. Schön wär's, aber die Realität sieht anders aus. Zur aktuellen Realität gehört, dass die Arbeitslosigkeit hauptsächlich dadurch zurückgeht, weil immer mehr Erwerbslose nur als Prekärbeschäftigte einen Arbeitsplatz ergattern können und es heute viel mehr Teilzeitstellen, 400-Euro-Jobs und Leiharbeit gibt als noch vor zwanzig Jahren. Und doch gibt es eine Zahl, die nahe dran ist an dem, was man im Jahr 1991 als Arbeitslosenzahl erfasste. Das Stichwort heißt "Unterbeschäftigung" und erfasst alle die Menschen, die mit Hilfe der statistischen Tricks nicht mehr als arbeitslos geführt werden. Deren Zahl allerdings gibt wenig Anlass für schrille Regierungsreklame.

Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit (BA) waren im Monat September 2011 offiziell 3.935.000 Menschen unterbeschäftigt. Aber nicht nur linke Statistiker gehen davon aus, dass die Zahl der Unterbeschäftigten (die von der BA gut versteckt in ihrem aktuellen Monatsbericht auf Seite 64 selbst dokumentiert ist) am ehesten dem entspricht, was man im Jahr 1991 noch regierungsamtlich als Arbeitslosenzahl auswies. Dies berücksichtigend, müsste die korrekte Meldung heißen: Im Jahr 1991 waren 2,8 Millionen Menschen arbeitslos. Im September 2011 sind es ca. 3,9 Millionen Menschen!

Wer glaubt, dass, wer keine Arbeit hat, auch als Arbeitsloser gilt, täuscht sich gewaltig. Die Monatsberichte der Bundesagentur sind nach unten rechts frisierte Berichte, die mit schier kryptisch scheinenden Tabellen und komplizierten Definitionen, zwar eine Menge Daten liefern, aber nicht wirklich über das wahre Ausmaß der Arbeitslosigkeit informieren, sondern ablenken, sollen.

Bert Brecht aber forderte: "Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse! Lass dir nichts einreden, Sieh selber nach! Was du nicht selber weißt, weißt du nicht. Prüfe die Rechnung, Du musst sie bezahlen. Lege den Finger auf jeden Posten. Frage: wie kommt er hierher?" Wie es zu den einzelnen "Posten" auf der offiziellen Arbeitslosenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit (BA) kommt, sei hier kurz erklärt: Die BA erfasst nur die Erwerbsfähigen ohne Job, die sich arbeitslos gemeldet haben. Wer sich nicht bei der Arbeitsagentur meldet, um entweder Arbeitslosengeld (ALG) I oder II zu erhalten, wird einfach nicht mitgezählt und erscheint nirgendwo als arbeitslos. Wie viele Deutsche das nicht machen, kann nur geschätzt werden. Sobald ein registrierter Arbeitsloser an "Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung" (also Trainings und Weiterbildungsmaßnahmen, z. B. Computerkurs, auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen) teilnimmt, gilt er sofort nicht mehr als arbeitslos und fällt aus der Statistik. Die BA begründet das damit, dass Jobsucher für die Dauer ihrer Weiterbildung der Arbeitsvermittlung in dieser Zeit nicht zur Verfügung stünden; sie seien sozusagen die "stille Reserve".

Seit 2009 können Jobcenter Arbeitssuchenden auch einen Gutschein ausstellen, mit dem sie sich dann zu einem privaten Sklavenhändler - sprich artig: "Arbeitsvermittler" - begeben können. Er fliegt aus der offiziellen Statistik sobald der Gutschein ausgehändigt ist. Auch hierfür muss wieder die "billige" Begründung herhalten, dass der Jobsuchende ja nun von einer anderen Stelle betreut werde und daher für die Vermittlung durch die Jobcenter nicht mehr zur Verfügung stehe. Genauso kann auch eine Krankheit einen Arbeitsuchenden aus der Arbeitslosenstatistik schmeißen. Nach der offiziellen BA-Definition kann nur als arbeitslos gelten, wer tatsächlich auch vermittelbar ist. Krankgeschriebene können nicht arbeiten und sind deswegen - wir kennen die Antwort ja jetzt schon fast selber, auch nicht vermittelbar und daher nach BA-Meinung auch nicht arbeitslos.

Auch "Ein-Euro-Jobber" werden nicht als arbeitslos gezählt. In BA-Deutsch heißen solche Jobs "Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung" und sind für Empfänger von ALG II ausgedacht. Sie sollen vor allem Langzeitarbeitslosen "helfen", den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Statt Lohn gibt es nur eine Aufwandsentschädigung, in der Regel zwischen 1,00 Euro und 2,50 Euro pro Stunde. Des ungeachtet sind Menschen in solchen "Arbeitsgelegenheiten" mit einem Schlag laut Statistik nicht mehr arbeitslos.

Wer über 58 Jahre alt und länger als ein Jahr arbeitslos ist, der fällt, weil er als nicht mehr vermittlungsfähig gilt, ebenfalls aus der Statistik. Fakt ist auch, dass nicht jeder, der Arbeitslosengeld I oder II erhält, tatsächlich keine Arbeit hat. Rund ein Drittel aller ALG-II-Empfänger sind sogenannte "Aufstocker", die in ihren Jobs zu wenig verdienen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und deswegen statt vom Kapitalisten Geld vom Staat bekommen. Auch Empfänger des Gründungszuschusses, für Arbeitslose, die sich selbstständig machen wollen und Menschen in Altersteilzeit, die auf Arbeitslosengeld angewiesen sind, gelten nicht als arbeitslos. Alles in allem: die offiziell von der Bundesanstalt für Arbeit in die Welt hinausposaunten aktuellen Arbeitslosenzahlen sind gelinde gesagt geschönt. Selbst in ihrem eigenen, 83-Seiten-Bericht lassen sich über eine Million versteckte Arbeitslose entdecken. Plus Dunkelziffer liegt wohl die Zahl der tatsächlich Arbeitslosen bei weit über vier Millionen.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, 40 vom 7. Oktober 2011, Seite 4
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2011