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DISKURS/134: Wirtschaftsdemokratie gegen den Strich gebürstet (spw)


spw - Ausgabe 5/2019 - Heft 234
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Analyse & Strategie
Wirtschaftsdemokratie gegen den Strich gebürstet

von Franziska Wiethold[1]


Die Linke hat die Idee der Wirtschaftsdemokratie wiederbelebt. Zunächst wurde der eher neue Begriff der Transformation (Demirovic 2016) verwandt. Inzwischen werden auch traditionelle Begriffe wie Wirtschaftsdemokratie (Forum Neue Politik der Arbeit) oder neue Begriffe wie Neosozialismus (Dörre/Schickert 2019) wieder hoffähig, seitdem Bewegungen gegen die Folgen des neoliberalen Regimes mit der wachsenden Ungleichheit und Unsicherheit und dem Raubbau an Natur, öffentlichen Gütern und menschlichen Ressourcen wachsen. Die Chancen für eine Wiederbelebung wirtschaftsdemokratischer Forderungen steigen also, auch wenn das neoliberale Dogma noch dominiert. Das zeigen auch die aufgeregten Reaktionen auf den Vergesellschaftungsvorschlag von Kevin Kühnert.

Die aktuellen Grundkonzepte sind offener als die früheren Konzepte; sie wollen Suchprozesse und Vielfalt ermöglichen. Diese Offenheit ist ihre Stärke. Sie beinhaltet aber auch Schwächen, wenn Differenzen und blinde Flecken zu wenig benannt und historische Erfahrungen zu wenig einbezogen werden. Auf diese Schwächen soll hier eingegangen werden, um die Konzepte weiterzuentwickeln:

  • Gesellschaftliche Interessen sollen bei der wirtschaftsdemokratischen Steuerung nicht alleine durch "die Arbeiterklasse" repräsentiert werden, sondern durch verschiedene Gruppierungen mit unterschiedlichen Sichtweisen. Aber häufig werden die Differenzen, Zielkonflikte und Verteilungskämpfe, die zwischen ihnen ausgetragen werden müssen, unterschätzt.
  • Anstelle einer einheitlich sozialistischen Eigentumsform soll ein gemischtwirtschaftliches System mit Privateigentum, Gemeineigentum und öffentlichem Eigentum entstehen. Betriebsdemokratie und die Dominanz gemeinwirtschaftlicher Prinzipien sind dabei eine entscheidende Basis für Wirtschaftsdemokratie. Aber inwieweit decken sich die Interessen Beschäftigter oder gemeinwirtschaftlicher Betriebe mit gesellschaftlichen Interessen?
  • Differenzierte Interessen erfordern Vielfalt anstelle homogener Lebensstile. Aber wo kann Vielfalt - auch als Unterschiedlichkeit gedacht - in Konflikt mit dem Gemeinschaftsgedanken geraten? Wo müssen sich demokratische Mehrheitsentscheidungen zugunsten individueller Rechte selbst beschneiden?
  • Marktprozesse sollen erhalten bleiben, gleichzeitig soll öffentliche Daseinsvorsorge garantiert werden. Aber wo ist Wettbewerb und Vielfalt nötig, wo soll der staatliche Bereich beginnen?
  • Auf überbetrieblicher Ebene sollen unterschiedliche Interessengruppen - nicht nur Beschäftigte, sondern auch Zivilgesellschaft - in die Rahmenplanung einbezogen werden. Aber die bisherigen Erfahrungen mit "Verbändedemokratie" und auch mit der Einbindung von Zivilgesellschaft werden zu wenig aufgearbeitet. Wo endet der negativ bewertete Korporatismus, wo beginnt eine Form "neuer" Beteiligung?
  • Markt soll reguliert werden; aber das Thema "Planung makroökonomischer Prozesse" wird zu selten angesprochen - ist es nach dem Zusammenbruch des "Staatssozialismus" tabuisiert?
Wie entstehen gesellschaftliche Interessen?

Gemeinsame gesellschaftliche Interessen existieren nicht a priori, auch nicht entlang bestimmter Schichten oder Klassen. In hoch komplexen Gesellschaften sind Menschen mehrfach in unterschiedlichen Funktionen in das Gesellschaftssystem eingebunden - als Beschäftigte, Konsumierende, Steuerzahlende, Nutznießer*innen des öffentlichen Dienstes usw. Sie entwickeln entsprechend unterschiedliche Erwartungen oder sogar Zielkonflikte. Auch die Interessen von Beschäftigten definieren sich nicht nur nach ökonomischen Interessen. Sie fordern ihren "gerechten" Anteil häufig nicht nur gegen das Kapital, sondern auch im Statusvergleich zu anderen Beschäftigten und berufen sich dabei auf eine normative Skala, was die jeweilige Arbeit wert sei. Spezifische Interessen, Statusinteressen müssen also zwischen Beschäftigten in komplizierten Auseinandersetzungen ausgetragen werden, um sie zu universalisieren (Silver 2005, S. 41ff). Gesellschaftsbilder entstehen also durch aktive Prozesse, in denen Beschäftigte Erfahrungen und Ansprüche zu normativen Erwartungen verarbeiten (Hürtgen/Vosswinkel 2014, S. 160f). Individuen sind also einerseits soziale Wesen, die in einer solidarischen Gesellschaft leben wollen; sie definieren sich aber auch als besondere Menschen und Handelnde, die nicht im Großen und Ganzen aufgehen wollen. Protestbewegungen können deshalb nicht einfach beanspruchen, den Allgemeinwillen zu repräsentieren, "da sich der Allgemeinwille nicht fixieren läßt ... denn das "Volk", die "Vielen", die Klasse der Lohnabhängigen, die Gruppe der Frauen, der UmweltvertreterInnen - sie alle sind jeweils auch in sich differenziert, existieren nicht als vorpolitische Einheiten und haben kein einheitliches Interesse, wenn die sozialen Verhältnisse von Produktion und Konsumtion, beruflicher Qualifikation und Bildung, unterschiedlicher Arbeitstätigkeiten, sexueller Orientierung oder Wohnlage einbezogen werden." (Demirovic 2016, S. 297). Da Wirtschaftsdemokratie Bürger*innen zu Akteur*innen machen will, müssen die demokratischen Beteiligungsformen diese Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Erfahrungen und Ansprüchen ermöglichen. Das ist anspruchsvoll und verabschiedet sich von einer Mobilisierung in "Wir-gegen-die"-Kategorien, auch in der linken Form des "Wir da unten, die da oben".

Chancen und Grenzen betrieblicher Demokratie

Die Ausweitung betrieblicher Demokratie - ob im Kapitalismus als Ausweitung der Mitbestimmung oder weitergehend als Selbstverwaltung durch die Belegschaften - ist eine unabdingbare Grundlage von Wirtschaftsdemokratie. Denn hier können sich Menschen zuallererst in einem für sie zentralen Lebensbereich als Akteur*innen und Träger*innen von Demokratie erleben. Seit der Auflösung fordistischer Strukturen haben sich die Anknüpfungspunkte dafür im Kapitalismus geändert: Beschäftigte sollen sich nicht mehr hierarchisch vorgegebenen Zielen unterordnen; sie sollen durch das Prinzip indirekter Steuerung Profitziele selber internalisieren und sich dadurch selber steuern. Aber alle Studien zeigen, dass dies nur partiell gelingt. Das Berufsethos der Beschäftigten - ihr Anspruch auf eine gute und nützliche Arbeit und auf eigene Gestaltungsmöglichkeiten - führen einerseits zu einer Identifikation mit dem Betrieb und dem Produkt/der Dienstleistung. Dieser Anspruch gerät aber gleichzeitig in Konflikt zu den Vorgaben indirekter Steuerung (Hürtgen/Vosswinkel 2014, S. 19), die dem Profitziel zu Lasten der Arbeitsqualität und der Gestaltungsspielräume folgen. An diesen Konflikten kann und muss die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie "von unten" ansetzen; sie muss über traditionelle Vertretungsstrukturen durch Betriebs- und Personalräte hinausgehen und Beschäftigten unmittelbar entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten geben (Detje/Sauer 2018, S. 33).

Aber betriebliche Interessen bleiben spezifische Interessen, auch wenn sie nicht durch kapitalistisches Profitstreben dominiert sind. In einem solidarischen Wirtschaftssystem sind zwar Beschäftigte mit ihrem Interesse an stabilen Arbeitsplätzen und Einkommen nicht mehr dem Profitprinzip unterworfen. Der Widerspruch zwischen dem Anspruch der Beschäftigten, gesellschaftlich nützliche Arbeit zu leisten, und der Profitorientierung kann aufgehoben werden. Aber der Berufsstolz bleibt ambivalent; er kann weiterhin zu Statuskämpfen gegen Andere führen, wenn er einen besonderen Wert der eigenen Arbeit beansprucht. Der traditionelle Produzentenstolz von Facharbeitern definierte sich nicht nur gegen "oben", sondern auch gegenüber angeblich weniger werthaltiger Arbeit z.B. von Frauen, von Angestellten. Wird diese Werteskala in Frage gestellt - wie in der Auseinandersetzung um die Wertigkeit typischer Männer- und Frauentätigkeiten -, führt das zu Konflikten quer zu "Klassenauseinandersetzungen".

Die Identifikation mit dem eigenen Betrieb und Produkt kann sogar in dem Maße wachsen, wie Beschäftigte über Investitionen, Gewinnverwendung usw. mitentscheiden können, also auch am Erfolg des eigenen Betriebes am Markt interessiert sind. Ohne diese Spielräume ist aber Betriebsdemokratie nicht zu haben. Das kann auch zu "betriebsegoistischen" Verhaltensweisen wie Externalisierung von Kosten, Ausnutzen besonderer Marktmacht usw. führen (Sik 1979, S. 365). Betriebsdemokratie und Markt stehen also auch ohne kapitalistische Dominanz in einem Spannungsverhältnis, das auf gesamtgesellschaftlicher Ebene reguliert werden muss.

Häufig wird die Hoffnung auf gemeinnützige Betriebsformen gesetzt, ob Genossenschaften oder gemeinnützige Unternehmen. Bei ihnen soll nicht der Markterfolg im Vordergrund stehen, sondern das ideelle Interesse an einem Produkt oder der Selbsthilfegedanke. Dabei wird zu wenig untersucht, welche Bedeutung dieser Bereich trotz aller Deregulierung immer noch in Deutschland hat - mit überwiegend positiven Auswirkungen auf die jeweiligen Branchen, aber weitgehend ohne die erhoffte Transformationskraft. Die Wohlfahrtsverbände in Deutschland (Kirchen, AWO, Rotes Kreuz usw.) beschäftigen (ohne Ehrenamtliche) über 1,5 Millionen Menschen und generieren in den Bereichen Gesundheit, Altenpflege, Jugendhilfe, Kitas usw. einen Umsatz von ca. 45 Milliarden Euro (Wikipedia). Da sie weitgehend über Steuermittel finanziert werden, unterliegen sie der entsprechenden staatlichen Steuerung; diese unterwirft gemeinnützige Unternehmen inzwischen im Zuge der staatlichen Sparmaßnahmen und der Pseudo-Vermarktlichung dem Prinzip scharfer Kostenreduzierung und Konkurrenz mit preiswerteren Anbietern. Genossenschaften (Edeka, Rewe, Volks- und Raiffeisenbanken, Wohnungsbau-, Energie-, Einkaufsgenossenschaften von Landwirten usw.) beschäftigen ca. 800.000 Menschen. Sie entstanden überwiegend durch Zusammenschlüsse von Selbstständigen, wurzeln also nicht in der Tradition der Arbeiterbewegung (Selbsthilfe- oder Produzentengenossenschaften), die nur noch eine geringe Rolle spielen. Sie unterliegen nicht den Zwängen des Finanzkapitalismus. Aber sie bewegen sich überwiegend auf normalen Märkten mit harter Konkurrenz und Kostendruck, denen sie sich auch weitgehend anpassen. Commens, die außerhalb eines anonymen Marktes weitgehend für den "Eigenbedarf " arbeiten (Wohnungsbau-, Energiegenossenschaften z.B.) können sich dem entziehen, häufig aber um den Preis, sich als relativ geschlossene Gemeinschaft auch gegen Außen zu konstituieren. Aber ist das eine weitergehende Perspektive mit Transformationskraft? Viele neuere Untersuchungen konzentrieren sich auf neu gegründete alternative Genossenschaften (Notz 2018), die häufig zunächst erfolgreich sind. Aber können sie sich - wenn sie sich nicht in Nischen, sondern auf einem anonymen Markt bewegen - auf Dauer dem Sog eines kapitalistischen Umfeldes entziehen? All das zeigt, dass die Regulierung von Markt und Wettbewerb, also das Umfeld, in dem sich Betriebe bewegen, mindestens so wichtig ist wie die Eigentumsform. Das wird m.E. bei Untersuchungen über Alternativökonomie zu wenig berücksichtigt.

Als Beispiel für erfolgreiche commens wird zurecht häufig die Allmende-Ökonomie genannt; in ihr schlossen sich Selbstständige für die gemeinsame nachhaltige Nutzung von Wasser, Weiden, Fischfanggebieten zusammen; sie hatten sich auf Nachhaltigkeitsprinzipien für eine gesamte Gemeinschaft verpflichtet. Der Preis dafür sollte aber nicht unterschlagen werden: Sie schlossen sich meist nach Außen ab und kontrollierten sich auch sozial untereinander (Ostrom 1999, S. 122 ff).

Betriebsdemokratie muss deshalb nach Innen den Gemeinschaftsgedanken mit Respekt vor Individualität und unterschiedlichen Interessen verbinden, damit Gemeinschaft nicht zu Gruppendruck wird. Die Gemeinschaft muss Transparenz und Kontrolle "ertragen" (an deren Mangel sind manche commens schon gescheitert). Nach Außen müssen die Gefahren der Ausnutzung wirtschaftlicher Macht durch entsprechende Regelwerke eingedämmt werden (dazu später). Beschäftigte müssen also konfrontiert werden mit den eventuell schädlichen Auswirkungen ihrer Produktion (Externalisierung von Kosten), mit der Notwendigkeit von Wettbewerb oder auch mit schmerzhafter ökologischer Transformation. Sie müssen sich auch mit der Arbeit Anderer auseinandersetzen, um auch sie zu respektieren und um ihre Werteskala in Frage zu stellen. Erst durch diese z. T. konfliktreichen Auseinandersetzungen können sich aus spezifischen Sichtweisen gesellschaftliche Interessen entwickeln.

Kollektive Entscheidungen und individuelle Interessen

Wirtschaftsdemokratie will das Freiheitsversprechen der bürgerlichen Revolution erweitern: Durch die Einschränkung wirtschaftlicher Macht soll allen Menschen unabhängig von ihrem Eigentum auch in der Ökonomie Chancengleichheit, individuelle Entfaltungsund Teilhabemöglichkeiten garantiert werden. Wirtschaftsdemokratie will gleichzeitig die Ökonomie gemäß gesellschaftlichen Interessen steuern. Inwieweit kann hier ein Zielkonflikt zwischen individuellen Spielräumen und Gemeinschaftsgedanken entstehen? Inwieweit muss sich Wirtschaftsdemokratie in ihrem Anspruch, Wirtschaft und damit auch individuelle Lebensbedingungen durch Mehrheitsentscheidungen zu gestalten, beschränken - analog zum Katalog politischer Grundrechte, die nicht durch Mehrheitsentscheidungen eingeschränkt werden dürfen? Viele Projekte kollektiver Arbeits- und Lebensformen (Kibbutzim, Produktionsgenossenschaften, Wohnprojekte) wollten gemeinschaftliche Lebensformen auch zulasten von Vielfalt und individuellen Spielräumen schaffen. Sie gerieten nach einer heroischen Aufbruchsphase häufig in Konflikte, da Individuen auch in Gemeinschaften Unterschiede und Privaträume ausleben wollten. Viele commens setzen sich auch heute immer wieder mit dem brisanten Thema von "leistungsgerechter" versus weitgehend einheitlicher Bezahlung auseinander. Auch Gewerkschaften taten sich früher schwer damit, individuelle Spielräume bei Arbeitszeiten und Arbeitsgestaltung zu akzeptieren. All das entspricht nicht mehr unserem heutigen Verständnis von gewünschter Vielfalt und pluralen Lebensstilen (die neuere gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik z.B. will Optionen ermöglichen). Aber trotzdem sollte diskutiert werden, wo kollektive Gestaltungsmacht sich begrenzen muss und bis zu welchem Grad Vielfalt auch in Form von Ungleichheit zu akzeptieren ist.

Markt - Staat - Wettbewerb

Alle neueren Konzepte zur Wirtschaftsdemokratie wollen Markt und Wettbewerb in regulierter Form erhalten; gleichzeitig soll der öffentliche Bereich wieder ausgeweitet und Privatisierung zurückgenommen werden. Aber wo endet der eine, wo beginnt der andere Bereich? Diese Diskussion ist nicht abstrakt: Seit den 80er Jahren wurden in Deutschland staatliche Monopole privatisiert und die Branchen für Wettbewerb geöffnet. Wollen wir in den Bereichen Telekommunikation, Luftfahrt, Rundfunk/Fernsehen, Post, Nah- und Fernverkehr, Energieversorgung usw. die Privatisierung zurücknehmen und staatliche Monopole revitalisieren oder - um Vielfalt zu erhalten - Wettbewerb so regulieren, dass Verbraucher- und Beschäftigteninteressen gesichert und das Profitinteresse entsprechend eingeschränkt wird? Die Diskussion um die Vor- und Nachteile wird zu wenig geführt.

Verbände und "Zivilgesellschaft"

Es ist unstrittig, dass Markt und Wettbewerb über Regelwerke begrenzt werden müssen, um die Externalisierung von Kosten zu verhindern, um die Rechte von Beschäftigten zu schützen, um Monopolisierungstendenzen zu verhindern und um Transformationsprozesse zu fördern. Hier greifen die demokratischen Sozialist*innen auf die Idee der Wirtschafts- und Sozialräte zurück; sie sollen sowohl mit Beschäftigtenvertretungen als auch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen besetzt werden, die zusätzliche Interessen z.B. in Bezug auf Ökologie oder Geschlechterfragen repräsentieren. Diese Gremien müssen auch mit Macht (Eingriffe in Investitionsentscheidungen, gegen Kartellbildung) und finanziellen Ressourcen (Investitionsfonds) ausgestattet werden, um Marktprozesse steuern zu können und nicht nur deren Folgen abfedern zu müssen. Ohne diese Macht würden wirtschaftsdemokratische Ansätze schnell zu "Wettbewerbskorporatismus" werden, wo Gremien überwiegend versuchen, ihre Branchen/Regionen gegenüber anderen "fit" zu machen.

Diese Konzepte grenzen sich vom "Korporatismus" ab (Riexinger/Becker 2018, S. 124). Das reicht aber nicht. Denn sie setzen sich zu selten mit der bis heute existierenden "Verbändedemokratie" auseinander oder meinen, es reiche, diesen "Altstrukturen" die "Zivilgesellschaft" (ein unpräzises, aber deshalb beliebtes und positiv konnotiertes "Wieselwort") entgegenzusetzen. In Deutschland sind Beteiligungsstrukturen zwar abgebaut oder geschwächt worden; aber sie existieren immer noch z.B. in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen, in Kammern u.a. mit der gewerkschaftlichen Mitwirkung bei der dualen Berufsausbildung, in der Mitwirkung von Mieter- und Vermieterorganisationen bei der Erstellung der kommunalen Mietspiegel, in Rundfunkräten usw. Die Erfahrungen mit dieser "Verbändedemokratie" sollten genauer aufgearbeitet werden, um zu untersuchen, inwieweit deren problematische Strukturen nicht auch in einer Wirtschaftsdemokratie auftreten könnten. Einerseits können dadurch asymmetrische Machtverhältnisse ausgeglichen und kapitalistische Destruktionskräfte minimiert werden (z.B. Berufsgenossenschaften). Gleichzeitig entsteht dort häufig ein Eigenleben, das nicht nur auf die Einbindung in ein kapitalistisches Regime zurückzuführen ist. Die Bearbeitung komplexer Prozesse erfordert stabile Aushandlungsstrukturen, die sich auch gegen neue Organisationen, gegen kritische Interventionen abschotten können (Streeck 1999, S. 200 ff). Verbände spiegeln mit ihrer Macht außerdem nicht nur Organisationsmacht wider, sondern auch gesellschaftlich anerkannte Wertvorstellungen über die Bedeutung von Beschäftigten, Branchen, Regionen. In den von der Montanindustrie geprägten Regionen mit starker Arbeiterschaft (repräsentiert durch Gewerkschaften und SPD) entstanden teilweise "Kartellstrukturen", die Konflikte und Strukturwandel zugunsten der dort Beschäftigten abfedern konnten, aber weniger gut repräsentierte Branchen und Gruppen (z.B. die Strukturkrise in den Frauenbranchen Textil und Bekleidung) ausblendeten. Die früheren teilweise problematischen Strukturen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ("Filz") sind ein weiteres Beispiel. Die lange Zeit unterschiedliche Behandlung von Männer- und Frauenarbeit (die sich aufgrund der erstarkten Frauenbewegung ändert) spiegelte diese unterschiedliche, gesellschaftlich verbreitete Wertstruktur ebenso wider wie die Auseinandersetzung nach 2008, wer als "systemrelevante" Branche (Exportindustrie) in den Genuss staatlicher Hilfen kam.

Kann die "Zivilgesellschaft" mit ihren NGOs davor schützen? Auch sie haben z.T. den Reiz des "neuen" verloren, seitdem auch sie stärker in öffentliche Strukturen einbezogen werden, z.B. in der Entwicklungshilfe, in Bündnissen für fairen Handel, in Beiräten wie der Kohlekommission usw. Aber reicht es aus, das vorrangig als Ergebnis einer neoliberalen governance-Strategie zu kritisieren, durch die staatliche Funktionen abgebaut und NGOs ihrer Widerständigkeit beraubt werden sollen (Priester 2014, S. 106, anders Demirovic 2016, S. 286)? Wenn neue gesellschaftliche Bewegungen stärker werden, versuchen kluge Regierungen meist, sie einzubinden, was zu den bekannten Auseinandersetzungen zwischen "Realos und Fundis" führt. NGOs sind m.E. vor dem Eigenleben von Organisationen nicht besser geschützt als traditionelle Verbände. Außerdem leiden NGOs unter dem Problem asymmetrischer Repräsentation; es dominieren die Schichten mit höherem sozialem und kulturellem Kapital. Wer repräsentiert jeweils das Neue, wer repräsentiert die Schichten ohne dieses soziale und kulturelle Kapital? Und wie hält man Beteiligungsstrukturen offen?

Wirtschaftsdemokratische Steuerung muss auch und gerade die nahen Lebensbereiche von Bürger*innen einbeziehen - neben dem Betrieb die Kommune, die Region, die Branche. Aber je spezifischer diese Strukturen sind, je mehr sich die Akteur*innen kennen, je mehr man sich im Kampf um Ressourcen und Aufmerksamkeit auch gegen andere Regionen/Branchen durchsetzen muss, desto eher kann ein Korporatismus entstehen, der sich auch zu Lasten von Anderen oder auch zu Lasten von Zukunftsthemen (Ökologie!) durchzusetzen versucht. Der neue Streeck hofft, gerade auf kommunaler Ebene könne man einen "alltäglichen Kommunismus" erproben mit Eigentumsformen, die auf lokale Selbstorganisation setzen, (Streeck 2019, S. 105). Dies trifft in vielen Punkten zu, blendet aber die damit verbundene Gefahr aus.

Das hier beschriebene Dilemma kann am ehesten gelöst werden, wenn die Strukturen mit Gegengewichten versehen werden - mit neuen Organisationen bzw. Organisationen mit widerständigen Positionen; mit nicht organisierten, nach dem Zufallsprinzip ausgesuchten Bürger*innen usw. Branchenräte müssen z.B. neben den Beschäftigtenvertretungen auch mit kritischen Vertreter*innen aus Ökologie und Verbraucherschutz besetzt werden; sie müssen auch Vertretungen aus Branchen entlang der Wertschöpfungskette umfassen, um korporatistische Arrangements zu Lasten Dritter zu verhindern. Die Vergabe öffentlicher Aufträge muss durch Transparenz und klare Kriterien kontrolliert werden können. Das setzt voraus, dass alle Organisationsvertreter*innen anstelle eines Alleinvertretungsanspruches die Begrenztheit ihrer jeweiligen Sicht reflektieren.

Planbarkeit von Wirtschaftsprozessen

Dieses Thema muss dringend reaktiviert werden. Neben den negativen Erfahrungen mit dem gescheiterten "Staatssozialismus" sollten auch die sozialdemokratischen Erfahrungen aus den 70er Jahren mit Versuchen der Investitionslenkung und Globalsteuerung einbezogen werden. Diese Versuche konnten mit ihren Eingriffen in hochkomplexe Systeme zwar häufig ihre Ziele nicht erreichen und z. B. die "Stagflation" in den 70er Jahren nicht verhindern. Auch deshalb wurde unter linken Keynesianern intensiv über eine weitergehende direkte Investitionslenkung diskutiert (Meissner 1974, Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik usw.).

All diese Erfahrungen zeigen, dass makroökonomische Steuerung möglich ist, wenn sie die Grenzen der Planbarkeit reflektiert, wenn sie unterschiedliche Entscheidungsebenen ermöglicht und wenn sie Suchprozesse und Korrekturen zulässt. Sie muss die Vielfalt von Interessen und deren Zielkonflikte akzeptieren und politische Steuerungsprozesse demokratischer Entscheidung zugänglich machen. Ota Sik hat mit seinem Buch "Humane Wirtschaftspolitik" von 1979 dazu Vorschläge entwickelt, die wieder stärker berücksichtigt werden sollten (Bontrup 2018 und Dörre 2019, S. 203 f. greifen sie auf). Er beschreibt ein System abgestufter Wirtschaftsdemokratie, in dem selbstverwaltete Unternehmen eigenständig über Investitionen entscheiden können, aber dafür einen Rahmen vorgegeben bekommen. Er beschreibt, wie statt monopolistischer Tendenzen Wettbewerb erhalten und wie Innovationen durch gesellschaftliche Fonds unterstützt werden können. Bei der gesamtwirtschaftlichen Rahmenplanung geht er nicht nur von unterschiedlichen Interessen aus, sondern auch von Zielkonflikten z.B. zwischen ökologisch-langfristigen Interessen einerseits und kurzfristigen Konsuminteressen mit der Gefahr des Raubbaus andererseits. Wirtschaftsdemokratie erfordert, dass die Bevölkerung sich mit diesen Zielkonflikten auseinandersetzt. Denn die Gefahr "imperialer Lebensweisen" (Brandt/Wissen 2017) ist durch die Überwindung des Kapitalismus alleine nicht zu beenden (siehe ökologischer Raubbau im "Staatssozialismus" und im ehemals linken Brasilien und Venezuela). Die Bevölkerung kann und muss also Verantwortung für die Folgen ihrer Lebensweise übernehmen, indem auch lange Wirkungsketten in globaler Arbeitsteilung offengelegt werden. Dieses Konzept scheint mir mehr Erfolg zu versprechen als ein Rückzug auf eine überschaubare regionale Produktion (Streeck 2019, S. 105); man unterschätzt auch Bürger*innen, wenn man unterstellt, nur unmittelbar erfahrbare Auswirkungen würden wahrgenommen. Eine wachsende Zahl von Konsument*innen richtet ihre Kaufentscheidungen auch an den ökologischen und sozialen Bedingungen der Produkte aus, obwohl diese weit weg sind. Da sich aus den unterschiedlichen Interessen und Zielen auch unterschiedliche Planungskonzepte ergeben, fordert Sik, dass verschiedene Alternativen zur Diskussion und schließlich zur Abstimmung vorgelegt werden. Auch diese Alternativkonzepte sollen verpflichtet werden, anstelle eines Absolutheitsanspruches Zielkonflikte, Unsicherheiten und eventuelle nicht-intendierte Folgen mit zu benennen. Vielleicht sind diese Vorstellungen von Ota Sik zu technokratisch oder sogar utopisch. Aber es lohnt sich, daran weiterzuarbeiten.

Einstiegsprojekte

Durch Einstiegsprojekte sollen wirtschaftsdemokratische Ansätze an bereits existierende Bewegungen anknüpfen. Riexinger/Becker (2018, S. 136) schlagen z.B. dafür Pflege und Wohnungsbau vor. Hier existiert in der Tat eine breite Bewegung einschließlich der dort Beschäftigten, die einen deregulierten Markt zugunsten öffentlicher Daseinsvorsorge zurückdrängen will. Bei anderen Feldern wie dem sozial-ökologischen Umbau wird es schwieriger, weil er für die dort Beschäftigten schmerzhaft ist. Aber welche Strukturen finden wir bei diesen Themen schon vor? Wie beurteilen wir z.B. die Arbeit der Kohlekommission? Sie setzte sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zusammen; sie hatte die Kompetenz, Markteingriffe vorzuschlagen (Ende von Braunkohleabbau und -verstromung). Sie schlug den Einsatz staatlicher Ressourcen für die Abfederung und vor allem für den Neuaufbau von Regionalstrukturen vor (Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019). Bei aller Kritik am Gesamtergebnis ähnelt deren Arbeitsstruktur m.E. vielen Vorschlägen für Einstiegsprojekte - allerdings mit der wichtigen Einschränkung, dass Betroffene und Öffentlichkeit zu wenig in diese Aushandlungsprozesse einbezogen wurden. Wenn sich verdichtet, dass die "Leitbranche" Automobilindustrie vor einem Um- und Abbau steht, werden wir auch hier ein Revival einer staatlich abgefederten Branchenpolitik erleben. Wo ist hier die Grenze zwischen Wettbewerbskorporatismus und einem wirtschaftsdemokratischen Einstiegsprojekt? Aktuell ist der Staat nur in Einzelfällen - bei "systemrelevanten" Branchen oder in einer Branche mit hoher gesellschaftlicher Aufmerksamkeit (Pflege) - zu einer Branchenpolitik mit Markteingriffen und finanzieller Abfederung bereit. Aber die Diskussion beginnt sich zu verbreitern. Abgehängte Regionen sollen z.B. mehr gefördert werden, nachdem regionale Strukturpolitik lange Zeit ein Schattendasein führte. Es wäre an der Zeit, statt dieser selektiver Reaktionen das Prinzip aktiver Strukturpolitik generell für Branchen und Regionen zu verallgemeinern. Dafür müssten aber die bestehenden Ansätze einer Branchen- und Regionalpolitik aufgearbeitet und geprüft werden, was daran anschlussfähig ist und was nicht.

Zum Schluss: Die hier aufgeworfenen Probleme sind entgegen mancher Thesen (so Urban 2018 in seiner ansonsten klugen Analyse S. 116) nicht neu. Soll mit der häufigen Anrufung des Neuen der Zauber gewahrt bleiben, der allem Anfang innewohnt? Ich halte es dagegen eher mit den Mühen der Ebenen und dem Bohren dicker Bretter - Fähigkeiten, die verlangt werden, wenn der Zauber des Neuen verflogen ist.


Anmerkung

[1] Franziska Wiethold, hat von 1965-1972 ihr Studium der Politik und Soziologie in Marburg absolviert und war als Teamerin in der gewerkschaftlichen Jugendbildungsarbeit tätig. Von 1972-2005 war sie Gewerkschaftssekretärin beim DGB, dann bei der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherung, und am Schluss bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.


Literaturverzeichnis

Bontrup, Heinz: Wie demokratisches Wirtschaften in Unternehmen möglich sein soll? Ein Vorschlag. In: OXI Wirtschaft anders denken 20.12.2018.

Brand, Ulrich/Wissen, Markus: Imperiale Lebensweise, oekom-Verlag 2017.

Demirovic, Alex: Demokratie zwischen autoritären Tendenzen und gesellschaftlicher Transformation; in Demirovic Hrsg. Transformation der Demokratie - demokratische Transformation, Münster 2016.

Detje, Richard/Sauer, Dieter: Wirtschaftsdemokratische Transformation. Der Einstieg "von unten" in: Demirovic, Alex Hrsg. Wirtschaftsdemokratie neu denken, Münster 2018.

Dörre, Klaus, Was ist neu am Neosozialismus? In: Dörre, Klaus/Schickert, Christine Hrsg., Neosozialismus München 2019.

Forum Neue Politik der Arbeit: Blog Neue Wirtschaftsdemokratie, www.fnpa.de.

Hürtgen, Stefanie/Vosswinkel, Stephan: Nichtnormale Normalität? Berlin 2014

Meissner, Werner: Investitionslenkung, Frankfurt am Main 1974.

Notz, Gisela: Anders arbeiten - anders leben. Selbstverwaltete Betriebe als alternative Wirtschaftsmodelle gestern und heute, in: Demirovic, Alex Hrsg. Wirtschaftsdemokratie neu denken Münster 2018.

Ostrom, Elinor: Die Verfassung der Allmende Tübingen 1999.

Priester, Karin: Governance in Europa: Auf dem Weg in die Postdemokratie? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2014.

Riexinger, Bernd/Becker, Lia: For the many, not the few, in: Demirovic, Alex, Wirtschaftsdemokratie neu denken, Münster 2018.

Rosa-Luxemburg-Stiftung Hrsg.: Nach der Kohle-Alternativen für einen Strukturwandel in der Lausitz Berlin 2019.

Silver, Beverly J.: Forces of Labor - Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870, Hamburg 2005.

Sik, Ota: Humane Wirtschaftsdemokratie - Ein dritter Weg, Hamburg 1979.

Streeck, Wolfgang: Korporatismus in Deutschland, Frankfurt/Main 1999.

Streeck, Wolfgang: Der alltägliche Kommunismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2019.

Urban, Hans-Jürgen: Ausbruch aus dem Gehäuse der Economic Governance, in: Berliner Journal für Soziologie 2018.

Wikipedia, Freie Wohlfahrtspflege, www.wikipedia.de abgerufen 27.9.19.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2019, Heft 234, Seite 62-69
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2019

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