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ENERGIE/1989: Gerechtigkeit in der Energieversorgung (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum - Universität Bayreuth
10. Jahrgang · Ausgabe 2 · November 2014

Gerechtigkeit in der Energieversorgung
Eine ethische Herausforderung

Von Rudolf Schüssler


Es besteht Konsens darüber, dass es bei der Energieversorgung gerecht zugehen sollte. Doch nach welchen Kriterien?

Die Energiewende in Deutschland weg vom Atomstrom und hin zu umweltverträglichen Energieträgern hat sich anspruchsvolle Ziele gesetzt. Sie will - idealer Weise - Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit, europäische Binnenmarktkompatibilität und soziale Gerechtigkeit vereinbaren. Weil man anfangs nur einen geringen Anstieg der Haushaltspreise für Strom erwartete, wurde das Ziel der sozialen Gerechtigkeit vergleichsweise wenig beachtet. Doch in den letzten Jahren sind die Haushaltspreise für Strom kräftig gestiegen. Dies geschah unter maßgeblicher Beteiligung der Energiepolitik, obwohl diese sicherlich nicht die einzige Ursache des Preisanstiegs darstellt. Die Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung, die 2011 von der Bundeskanzlerin eingesetzt wurde, ging in ihren Erwägungen zunächst noch davon aus, der Umstieg auf erneuerbare Energien werde für Haushalte nicht mehr als 1,4 Cent pro Kilowattstunde zusätzliche Kosten verursachen. Doch die aktuelle EEG-Umlage liegt bereits bei 6,24 Cent pro Kilowattstunde - und das ist nicht der einzige energiepolitisch bedingte Preisaufschlag. Insgesamt sind inzwischen knapp über 50 Prozent des Haushaltspreises für Strom regulativ bedingt, 1998 waren es noch ungefähr 25 Prozent.[1]

Zu einem Problem der sozialen Gerechtigkeit werden die wachsenden Kosten der Energiepolitik vornehmlich dann, wenn sie regressiv wirken - d.h. wenn sie überproportional den weniger gut verdienenden Haushalten aufgebürdet werden oder solche Haushalte sogar überlasten. Für die Überlastung von Haushalten durch Energieausgaben steht in Industriestaaten der Begriff der Energiearmut. Regressive Kostenlast und Energiearmut werden inzwischen in zahlreichen Forschungsvorhaben untersucht. Dazu zählt insbesondere auch ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Projekt mit dem Kurznamen "SoKo Energiewende". Der volle Name lautet "Sozialpolitische Konsequenzen der Energiewende in Deutschland". Das Projekt hat eine Laufzeit von 2013 bis 2016 und ist Teil des Programms FONA (Forschung für Nachhaltigkeit). Es wird getragen von einem Konsortium aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten Bayreuth, Eichstätt-Ingolstadt, Heidelberg und Kassel, das vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim geleitet wird. Seitens der Universität Bayreuth ist der Lehrstuhl Philosophie II an dem Projekt beteiligt, insbesondere mit

• grundlegenden Überlegungen zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit in Zusammenhang mit der Energiewende,
• konzeptuellen Analysen zu Indikatoren der Energiearmut sowie
• der Mitarbeit am Fragebogen für eine umfängliche Haushaltsbefragung.

Im folgenden sollen einige grundsätzliche Überlegungen aus diesem Forschungszusammenhang vorgestellt werden.


Energiewende und soziale Gerechtigkeit

Fragen sozialer Gerechtigkeit gestatten zumeist mehr als eine Antwort. Hinter ihnen verbirgt sich eine Vielfalt disparater Vorstellungen, die in der öffentlichen Arena vertreten werden. Aussicht auf Einigkeit besteht nur, wenn ein Begriffskern oder Begriffsverwendungen gefunden werden, hinsichtlich derer die meisten Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit übereinstimmen. Das ist bei den genannten Fragestellungen in Bezug auf eine gerechte Energieversorgung der Fall. Es herrscht weitgehend Konsens, dass die Lasten von Gemeinschaftsaufgaben nicht überproportional den Schwächeren in einer Gesellschaft aufgebürdet werden sollten. Einigkeit besteht überwiegend auch darüber, dass die Lasten einer Gemeinschaftsaufgabe niemanden in die Armut drücken sollten. Insofern, so scheint es, lässt sich die konzeptuelle Aufgabe der Philosophie schnell erledigen.

Bei näherer Betrachtung erweist sich die Lage dann doch nicht als so einfach. Können oder sollen nicht sogar eindeutige Forderungen sozialer Gerechtigkeit hintangestellt werden, um andere gebotene Ziele der Energiepolitik zu erreichen, beispielsweise eine intakte Umwelt oder eine 'gesunde Wirtschaftskraft'? Der Bericht der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung lässt diese Möglichkeit anscheinend offen.[2] Es bedarf einiger argumentativer Bemühungen, um zu zeigen, weshalb eine derart begründete Hintanstellung sozialer Gerechtigkeit nicht zugelassen werden sollte. Die Gründe sind darin zu suchen, dass das Kernanliegen der Energiewende überhaupt nicht in einem möglichen Widerspruch zu sozialer Gerechtigkeit steht. Probleme sozialer Gerechtigkeit können sich immer nur aus einer konkreten Ausgestaltung der Energiepolitik ergeben, und die lässt sich durch Zusatzprogramme sozial abfedern. Hiervon sind weder Umweltziele noch die Wettbewerbschancen von Unternehmen (das ist mit 'gesunder Wirtschaftskraft' gemeint) unmittelbar betroffen.

Differenzierterer Überlegungen bedarf auch die Entlastung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten von steigenden Stromkosten. Würde eine solche Politik nicht zur Verschwendung von Strom anreizen? Eine mögliche, aber umstrittene Antwort auf diese Frage besteht darin, Stromkonsum sozialpolitisch nur soweit zu unterstützen wie das bei einer ökologisch nachhaltigen Lebensweise erforderlich ist. Eine derartige Begrenzung würde mit "suffizientaristischen" Theorien sozialer Gerechtigkeit übereinstimmen, die darauf abzielen, Forderungen nach mehr Gerechtigkeit mit Bezug auf geeignete Schwellenwerte zu deckeln. Tatsächlich werden seit längerem Rufe nach einem Öko-Suffizientarismus laut, der eine langfristige Perspektive der deutschen Energiepolitik sein solle.[3]

Parallel dazu, aber ohne eigentliche Verbindung, gibt es seit wenigen Jahrzehnten eine Debatte um suffizientaristische Ideen in der philosophischen Gerechtigkeitstheorie.[4] Bislang wurde der ÖkoSuffizientarismus weder zustimmend noch kritisch zu den Thesen und Ergebnissen dieser Debatte in Beziehung gesetzt. Hierin liegt, gerade auch im Hinblick auf die Probleme der deutschen Energiepolitik, eine Herausforderung für weitere philosophische Untersuchungen.

An der Universität Bayreuth ist ein Forschungsteam derzeit damit befasst, die skizzierten philosophischen Fragestellungen für die internationale wissenschaftliche Diskussion aufzubereiten. Dieses Ziel stand allerdings in der Anfangsphase des Projekts "SoKo Energiewende" noch nicht im Vordergrund. Hier galt es zunächst, die empirische Arbeit des Konsortiums direkt zu unterstützen: durch eine Diskussion der wechselseitigen Bezüge von Armut und Energiearmut (Philipp Kanschik) und eine kritische Analyse vorhandener Indikatoren für Energiearmut (Rudolf Schüssler).


Indikatoren für Energiearmut

Einige Aussagen zu den sozialpolitischen Auswirkungen der deutschen Energiepolitik lassen sich bereits mit vorhandenen Datensätzen und einem etablierten begrifflichen Instrumentarium gewinnen. Anhand von Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) lassen sich regressive Wirkungen der aktuellen Stromkosten-Struktur valide belegen: Haushalte mit geringeren Einkommen müssen überproportional mehr für elektrische Energie ausgeben als Haushalte mit hohen Einkommen.[5]

Schwieriger stellt sich die Lage hinsichtlich der Energiearmut in Deutschland dar. Hier gibt es weder einen offiziellen Indikator noch eine zufrieden stellende Datenlage. Hilfsweise werden - auch von der Bundesregierung - für Großbritannien entwickelte Indikatoren auf die genannten Datensätze angewendet.[6] Dabei stellt sich natürlich die Frage: Wie gut sind die Indikatoren für diese Aufgabe geeignet?

Es erscheint plausibel, einige der Bedingungen, die für die Angemessenheit von Armutsindikatoren gelten, auf den Kontext der Energiearmut zu übertragen. Nur Indikatoren, die diese Bedingungen erfüllen, sollten daher bei Untersuchungen zur Energiearmut in Deutschland herangezogen werden.


Nicht überzeugend: Der "Doppelmedian-Indikator"

Wie die im Rahmen des Projekts "SoKo Energiewende" erarbeiteten Analysen zeigen, schneiden die offiziellen britischen Indikatoren in dieser Hinsicht nicht gut ab. Der lange Zeit (von 2001 bis 2012) gültige Zehn-Prozent-Indikator (ZPI) für Energiearmut, den auch die Bundesregierung bei Anfragen verwendet, steht auf einer problematischen normativen Grundlage.[7] Der ZPI zählt Haushalte als energiearm, wenn sie mehr als 10 Prozent ihres Nettoeinkommens für angemessene Energiedienstleistungen aufbringen müssen. Dieser Wert war im Jahr 1988 doppelt so hoch wie der Anteil des Nettoeinkommens, den ein typischer britischer Haushalt insgesamt für Energie aufbringen musste. Als "typisch" gilt dabei der gesellschaftliche Median, der wie folgt ermittelt wird: Wenn man alle Haushalte mit ihren für Energie verausgabten Einkommensanteilen in einer aufsteigenden Liste ordnet, ist der Median genau derjenige Einkommensanteil, über und unter dem jeweils 50 Prozent der Haushalte liegen.

An den ZPI schloss sich in der weiteren Diskussion die normative Überlegung an, dass übermäßig durch Energieausgaben belastet wird, wer vom eigenen Einkommen mehr als das Doppelte des gesellschaftlichen Medians für Energie ausgeben muss. Diese Norm aber führt zu unplausiblen Ergebnissen. Denn sie hat zur Folge, dass die Zahl der energiearmen Haushalte schrumpft, falls die Energieausgaben aller Haushalte steigen, ohne dass dabei die relative Position der Haushalte geändert wird.[8] Damit verstößt der DoppelmedianIndikator zum einen gegen den Alltagsverstand und zum anderen gegen Plausibilitätsbedingungen für Armutsindikatoren. Wenn keine Änderung der relativen Position der Haushalte eintritt, sollten zusätzliche Ausgaben für alle nämlich zu mehr Armut führen, aber jedenfalls nicht zu sinkender Armut. Das sollte natürlich auch für Energiearmut gelten. Fazit: Es gilt nach einer anderen Rechtfertigung zu suchen, wenn der ZPI beibehalten werden soll.


Sinkende Realeinkommen als Gefahr für Energiearmut

Tatsächlich hat die britische Regierung den ZPI bereits 2012 aufgegeben. Sie misst - zumindest für England - Energiearmut inzwischen mit einem neuen "Low Income High Cost" (LIHC) Indikator.[9] Dieser Indikator wertet Haushalte als energiearm,

• wenn ihre Ausgaben für angemessene Energiedienstleistungen über dem Median der Ausgaben liegen, die den britischen Haushalten insgesamt für angemessene Energiedienstleistungen entstehen,

• und wenn sie dabei durch eben diese Ausgaben unter die offizielle Armutsschwelle gedrückt werden.

Dadurch wird die Problematik des doppelten Medians vermieden. Doch der LIHC-Indikator hat eine andere entscheidende Schwäche. Es gibt viele Haushalte, deren Energieausgaben den gesellschaftlichen Median nicht übersteigen und die auch nicht unter der offiziellen Armutsschwelle liegen. Wenn nun aber die Realeinkommen sinken, besteht gerade für solche Haushalte die Gefahr, dass sie durch unveränderte und anteilig am Einkommen wachsende Energieausgaben unter die Armutsschwelle gedrückt werden. Die Annahme ist plausibel, dass sie auf diesem Weg auch energiearm werden können. Doch genau dies schließt der LIHC-Indikator aus. Er erkennt als energiearm nur solche Haushalte an, deren Energieausgaben über dem gesellschaftlichen Median liegen. Aber dies ist in der beschriebenen Konstellation mit sinkenden Realeinkommen nicht zwangsläufig der Fall.

Der Bundesregierung ist daher nicht anzuraten, sich der englischen Regierung anzuschließen und den LIHC-Indikator unverändert zu übernehmen. Daher wollen die am Projekt "SoKo Energiewende" beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Indikatoren erarbeiten, welche die genannten Schwächen vermeiden und gesellschaftliche Prozesse, die zur Energiearmut führen können, angemessen abbilden.


Autor

Prof. Dr. Rudolf Schüßler ist Inhaber des Lehrstuhls Philosophie II an der Universität Bayreuth.

Linktipp www.zew.de/soko2013


Anmerkungen

1. Für die Daten vgl. Ethik-Kommission 'Sichere Energieversorgung', Deutschlands Energiewende - Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft, Berlin 2011, S. 56; Bundesverband der Energie und Wasserwirtschaft (BDEW), Erneuerbare Energien und das EEG: Zahlen, Fakten, Grafiken, Berlin 2013, eigene Rechnung.

2. Ethik-Kommission 'Sichere Energieversorgung', S. 18, für die Trias der Forderungen nach intakter Umwelt, gesunder Wirtschaftskraft und sozialer Gerechtigkeit.

3. Vgl. C. Fischer, R. Grießhammer, Mehr als nur weniger. Suffizienz: Begriff, Begründung und Potenziale, ÖkoInstitut Working Paper 2/2013.

4. R. Huseby, Sufficiency: Restated and Defended, The Journal of Political Philosophy 18, 2010, 178-197; L. Shields, The Prospects for Sufficientarianism, Utilitas 24, 2012, 101-117.

5. Vgl. A. Löschel, F. Flues, P. Heindl, Verteilungswirkungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes - Das Erneuerbare-Energien-Gesetz in der Diskussion, Wirtschaftsdienst 92, 2012, S. 515-519; K. Neuhoff et al., Steigende EEG-Umlage: Unerwünschte Verteilungseffekte können vermindert werden, DIW Wochenberichte 41, 2012; P. Heindl, A. Löschel, R. Schüssler, Ist die Energiewende sozial gerecht?, Wirtschaftsdienst 7, 2014, 508-514.

6. Für eine aktuelle empirische Analyse mit SOEP-Daten vgl. P. Heindl, Measuring Fuel Poverty. General Considerations and Application to German Household Data, ZEW Discussion Paper No. 13-046, Mannheim 2013.

7. Der ZPI geht zurück auf B. Boardman, Fuel Poverty. From Cold Homes to Affordable Warmth, London 1991.

8. Vgl. R. Schuessler, Energy Poverty Indicators: Conceptual Issues, ZEW discussion paper 14-037, 2014.

9. J. Hills, Getting the Measure of Fuel Poverty, London 2012.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 44:
Strompreisanalyse Juni 2014: Entwicklung der Strompreise für Haushaltsstrom in Deutschland, bezogen auf einen durchschnittlichen Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 3.500 kWh (1998 = 100%).

Abb. S. 45:
Im interdisziplinären Studiengang "Philosophy & Economics" an der Universität Bayreuth sind auch Fragen zur Definition und zu den Kriterien sozialer Gerechtigkeit ein wichtiges Thema.


Sie finden das Magazin als PDF-Datei mit Abbildungen unter:
http://www.uni-bayreuth.de/presse/spektrum/spektrum-pdf/ausgabe_02_14.pdf

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Quelle:
spektrum - Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 2, November 2014, S. 42 - 45
Herausgeber: Universität Bayreuth
Stabsstelle Presse, Marketing und Kommunikation
95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2015

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