Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → WIRTSCHAFT

FINANZEN/039: Experten ohne Kontrolle (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 125/September 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Grenzen globaler Selbstregulierung der Rechnungslegung
Experten ohne Kontrolle

Von Sebastian Botzem


Die Diskussion über die globale Finanz- und Wirtschaftskrise wird von der Einsicht beherrscht, dass es an grenzüberschreitender Aufsicht und Regulierung für Finanzprodukte und die handelnden Akteure mangelt. Diese Erkenntnis ist richtig und falsch zugleich. In der Tat haben die vielfältigen Innovationen bei Finanzmarktprodukten, die Zinspolitik der Notenbanken und eine Liberalisierung des Kapitalverkehrs große Regelungslücken entstehen lassen, die vielfach ausgenutzt werden. Und dennoch lässt sich die Krise nicht nur auf mangelnde internationale Regulierung zurückführen. Die Krise mitverursacht haben auch Regeln, die seit einigen Jahren jenseits nationalstaatlicher Grenzen gemacht werden. Das Beispiel der internationalen Rechnungslegungsstandards zeigt, dass auch bereits bestehende grenzüberschreitende Regeln zur aktuellen Finanzkrise geführt haben. Es lohnt sich ein genauerer Blick auf die Standards der Rechnungslegung sowie das Institutionengefüge, in dem sie entstehen. Dabei zeigt sich, dass Experten weitgehend unabhängig agieren können und Regeln geschaffen haben, die vor allem an den Informationsbedürfnissen von Kapitalmarktakteuren ausgerichtet sind.

Rechnungslegungsstandards bestimmen, wie Unternehmen ihre Jahresabschlüsse verfassen und welche Informationen diese enthalten müssen. Es gibt eine Reihe von Adressaten, für die Unternehmensbilanzen wichtig sind: Beschäftigte vergewissern sich über den Zustand ihres Arbeitgebers, Gläubiger schätzen die Bonität ihrer Kreditnehmer ein, Steuer- und Aufsichtsbehörden erfassen die Steuerschuld und prüfen die Gesetzmäßigkeit der Unternehmensbilanzen. Und nicht zuletzt erwarten Analysten und Investoren Informationen für eine gewinnbringende, oft international ausgerichtete Strategie der Kapitalanlage. Diese - zum Teil gegensätzlichen - Bedürfnisse bestimmten die Regeln der Rechnungslegung auf nationaler Ebene.

Im Zuge grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivitäten entwickelte sich das Bedürfnis nach vergleichbaren Informationen über den Zustand und die Leistungsfähigkeit von Unternehmen. Die internationalen Rechnungslegungsstandards (International Accounting Standards, IAS) sind das heute dominierende Regelwerk für die grenzüberschreitende Unternehmensbilanzierung. Ihre Entstehung erfolgt unter der Ägide des International Accounting Standards Board (IASB), einer privaten internationalen Organisation der Standardsetzung. Ihre Orientierung an angloamerikanischen Vorstellungen privater Selbstregulierung und die langfristige Kooperation mit privatwirtschaftlichen Unternehmen haben dazu beigetragen, dass sich das IASB im Wettbewerb gegen zwischenstaatliche Initiativen zur Harmonisierung der Unternehmensrechnungslegung durchsetzen konnte.

Das IASB wurde 1973 als Zusammenschluss nationaler Berufsverbände der Wirtschaftsprüfer gegründet. Der Kern der damals kleinen Organisation bestand vornehmlich aus Wirtschaftsprüfern, die in international agierenden Prüfungsunternehmen beschäftigt waren. Schon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eröffneten einzelne Wirtschaftsprüfungsunternehmen Niederlassungen im Ausland oder schlossen sich zu grenzüberschreitenden Kooperationen zusammen. Die Herausforderungen der internationalen Vergleichbarkeit von Unternehmensinformationen prägten die Praktiker, die das IASB gründeten. Im Gegensatz zu Harmonisierungsvorhaben im Zuge der europäischen Binnenmarktschaffung oder Regulierungsversuchen der Vereinten Nationen war das IASB von Anfang an durch verbandlich organisierte Wirtschaftsprüfer dominiert, die in der Regel zugleich bei großen Prüfungsunternehmen beschäftigt waren. Auch wenn in den ersten Jahren noch alle oben genannten Adressatenkreise angesprochen wurden, arbeitete das IASB konsequent daran, die IAS sukzessive auf die Informationsbedürfnisse von Finanzmarktakteuren zuzuschneiden.

Die internationalen Standards der Rechnungslegung werden vom IASB seit 1975 veröffentlicht, haben ihren Charakter in den zurückliegenden Jahren aber stark verändert. Besonders markant ist das Zurückdrängen der ursprünglichen Koexistenz divergierender Prinzipien. Diese Vielfalt ging auf die unterschiedlichen nationalen Prinzipien und Regeln der Rechnungslegung zurück, die anfangs alle in den IAS Berücksichtigung fanden. Schon bald standen die unpräzisen Regeln einer tatsächlichen Angleichung der Bilanzen entgegen, so dass die bestehenden Standards seit 1987 wiederholt überarbeitet wurden. Neue Regeln wurden von Anfang an stärker auf die Informationsbedürfnisse von Kapitalmarktakteuren zugeschnitten. Zu den zurückgedrängten Regeln gehören auch die dem Vorsichtsprinzip folgenden Normen des deutschen Handelsgesetzbuchs. Sie gelten zwar weiterhin für Unternehmen, die in Deutschland ihre Steuerbilanz erstellen. Die Informationspflichten für Aktiengesellschaften werden dagegen durch eine EU-Richtlinie geregelt, die seit 2005 die Anwendung internationaler Standards europaweit für alle börsennotierten Kapitalgesellschaften vorschreibt.

Zentraler Baustein der Kapitalmarktorientierung ist das Prinzip des "beizulegenden Zeitwerts" (fair value accounting). Bis zum Ausbruch der Finanzkrise wurde unterstellt, der beizulegende Zeitwert entspreche dem Wert, den gut informierte Geschäftspartner für eine Transaktion zu zahlen bereit wären. Es handelt sich entweder um tatsächliche Marktpreise (mark-to-market), die durch den Verkauf von vergleichbaren Produkten ermittelt werden, oder um hypothetische Werte, die auf der Basis ökonometrischer Modellierung zustande kommen (mark-to-model).

Die Ermittlung von fair value ist mitunter sehr anspruchsvoll, trägt aber in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums zu einem verbesserten Unternehmensergebnis bei. Der Grund dafür liegt in einer prozyklischen Wirkung des beizulegenden Zeitwerts, der sich vor allem bei der Bilanzierung von Finanzinstrumenten niederschlägt, zu denen beispielsweise auch verbriefte Hypothekenkredite gehören: Der steigende Wert von Finanzinstrumenten trägt zu einem verbesserten Unternehmensergebnis bei und lässt die Aktienkurse steigen. Dies wiederum erleichtert die Kreditaufnahme und wird in der Regel mit einer höheren Bonität bewertet. Die Aktienkurse werden zugleich durch Manager-Boni und steigende Dividendenzahlungen befeuert.

Bis zum Platzen der Hypothekenblase in den USA hat daran kaum jemand Anstoß genommen. Nun wirkt die prozyklische Dynamik aber auch im Abschwung: Kurse sinken, das Einkommen geht zurück, Kredite werden knapper, Wertberichtigungen, die weitere Kursverluste bedeuten, erfolgen. Aus den sich vermeintlich selbst verstärkenden Segnungen wird ein Teufelskreis, der durch die internationalen Rechnungslegungsstandards und insbesondere ihre Fair-value-Orientierung mitverursacht wird.

Diese Zuspitzung von IAS auf die Informationsbedürfnisse von Kapitalmarktakteuren erfolgte in den 1990er Jahren und dauert bis heute an. Parallel dazu wurde auch die Organisationsstruktur des IASB verändert. Die anfänglich föderal verfasste Struktur, deren Kern Delegierte nationaler Wirtschaftsprüfungsverbände ausmachten, wurde zugunsten eines kleinen Kreises von Experten aufgegeben. Das IASB orientiert sich seit 2001 am Vorbild der USA. Auch dort obliegt die Standardsetzung ausgewählten Experten der Rechnungslegung, die keiner formalen Rechenschaft gegenüber öffentlichen Institutionen unterliegen. Die 14 hauptamtlichen Standardsetzer des IASB sind lediglich gegenüber einer Stiftung verantwortlich, deren Treuhänderkreis aus renommierten Individuen der internationalen Finanzwelt besteht, die aber allesamt der Idee der Selbstregulierung positiv gegenüberstehen.

Die einzige Vorgabe, die die Satzung für die Rekrutierung der IASB-Mitglieder vorgibt, ist "technische Expertise", die aber nicht genauer spezifiziert wird. Der kleine Expertenzirkel stützt sich bei seiner Arbeit auf ein Konsultationsverfahren, an dem sich die interessierte Öffentlichkeit durch schriftliche Stellungnahmen beteiligen kann. Formal wird das IASB damit zwar allgemeinen Erfordernissen von Transparenz und Beteiligung gerecht. Tatsächlich handelt es sich aber um ein hochgradig formalisiertes Verfahren, das wenig Aufschluss über die Hintergründe der getroffenen Entscheidungen gibt. Obwohl die Dokumente zugänglich sind und das IASB öffentlich tagt, bleibt weitgehend unklar, wie die Standardsetzer zu ihren Ergebnissen kommen. Die Konsultationsverfahren des IASB dienen vor allem dazu, neue Sachargumente an die Mitglieder des IASB heranzutragen. In der Praxis wird ihre Unabhängigkeit durch Konsultationen - auch wenn diese gängigen Transparenzerwartungen zu entsprechen scheinen - weder kontrolliert noch eingeschränkt.

Die einseitige Dominanz technischer Expertise zeigt sich vor allem anhand der maßgeblich an der Standardsetzung beteiligten Personen und Organisationen. Eine genauere Untersuchung des 14-köpfigen Entscheidungsgremiums verdeutlicht die Übermacht von Individuen mit angloamerikanischer Prägung. Die überwiegende Mehrheit hat ihre Ausbildung in englischsprachigen Ländern absolviert und ihre Berufserfahrung in diesem Kulturkreis gesammelt. Von besonderer Bedeutung war zudem die Tätigkeit bei einer der großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die zwischenzeitlich ein Oligopol von vier Unternehmen geschaffen haben. Zu den Big Four gehören PricewaterhouseCoopers, Deloitte Touche Tohmatsu, Ernst & Young und KPMG. Sie teilen sich den weltweiten Prüfungsmarkt großer börsennotierter Gesellschaften untereinander auf.

Der Blick auf die Besetzung weiterer Beratungs- und Aufsichtsgremien des IASB zeigt darüber hinaus zweierlei: Zum einen wird das Institutionengefüge der Standardsetzung von Unternehmen der Wirtschaftsprüfung beherrscht, die sich den Einfluss mit wenigen Investmentbanken und ausgewählten zwischenstaatlichen Organisationen sowie der EU-Kommission teilen. Zum anderen fällt ins Auge, dass die Nutzer von Finanzinformationen (Analysten, institutionelle Anleger und Investoren) nur schwach vertreten sind.

Angesichts der immer wieder hervorgehobenen Ausrichtung auf die Informationsbedürfnisse gerade dieser Gruppe erstaunt das Ergebnis. Vereinzelt wird die Abwesenheit von Bilanznutzern auf deren Desinteresse und die komplizierte Materie zurückgeführt. Hinzu kommt allerdings, dass die Experten mit ihrem spezifischen Wissen die Standardsetzung dominieren: "Technische Expertise" zeigt sich vor allem in anspruchsvollen, abstrakten Diskussionen, die großes Detailwissen voraussetzen. Dies erschwert eine Beteiligung der interessierten Öffentlichkeit und verengt den Kreis derjenigen, die über ausreichend Sachverstand verfügen, um Rechenschaft einfordern zu können.

Abgesichert durch ein Institutionengefüge, dessen Kern die unkontrollierte Selbstregulierung ausgewählter Experten ist, und flankiert durch Konsultationsverfahren, die wenig Einfluss ermöglichen, sind internationale Rechnungslegungsstandards entstanden, die einseitig die Informationsbedürfnisse von Kapitalmarktakteuren bedienen. Selbstregulierung mag daher aus Sicht der Beteiligten die effektivste Art der Regelsetzung sein.

Die globale Finanzkrise zeigt aber die Fragwürdigkeit von Regeln, die jenseits öffentlicher Rechenschaft entstehen: Die prozyklische Wirkung von IAS kommt im Aufschwung Managern, Beratungsgesellschaften und Kapitalanlegern zugute. Im Abschwung werden die Bilanzregeln verändert, um Spielräume für Unternehmen zu erhöhen. Und zur Rettung vieler Banken springt der Staat ein, um einen Teil der aufgelaufenen Verluste zu übernehmen. Die gegenwärtige Finanzkrise ist damit zugleich eine Krise der privaten internationalen Selbstregulierung. Politische Antworten auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise sind daher nicht nur in den Bereichen zu suchen, in denen es bisher keine einheitlichen Regeln gab. Auch dort, wo bereits internationale Standards vorhanden sind, gilt es private Selbstregulierung zu hinterfragen und stärker zu kontrollieren.


Sebastian Botzem ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung "Internationalisierung und Organisation". Er wurde am Graduiertenkolleg "Pfade organisatorischer Prozesse" des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin promoviert. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Fragen der internationalen politischen Ökonomie, insbesondere Transnational Governance, globale Standardisierungsprozesse und die grenzüberschreitende Regulierung der Finanzmärkte.
botzem@wzb.eu


Literatur

Sebastian Botzem, Standards der Globalisierung - Die grenzüberschreitende Regulierung der Unternehmensrechnungslegung als Pfadgestaltung, Online-Dissertation der Freien Universität Berlin, http://www.diss.fu-berlin.de/diss/content/below/index.xml (im Erscheinen)

Sebastian Botzem, "Transnational Expert-driven Standardisation - Accountancy Governance from a Professional Point of View", in: JeanChristophe Graz, Andreas Nölke (Eds.): Transnational Private Governance and its Limits, London: Routledge 2008, S. 44-57

Andrea Mennicken, Alexandra Heßling, "Welt(en) regulierter Zahlenproduktion zwischen Globalität und Lokalität: Reflexionen zu globalen Standards in Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung", in: Andrea Mennicken, Hendrik Vollmer (Hg.), Zahlenwerk. Kalkulation, Organisation und Gesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 207-227

James Perry, Andreas Nölke, "The Political Economy of International Accounting Standards", in: Review of International Political Economy, Vol. 13, No. 4, 2006, S. 559-586


*


Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 125, September 2009, Seite 13 - 15
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr
(März, Juni, September, Dezember)
Bezug gemäß § 63, Abs. 3, Satz 2 BHO kostenlos


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2009