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FINANZEN/114: Krisen verhindern - Beitrag der Wirtschaftswissenschaft (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 29/2010
Forum der Universität Tübingen
November 2010

Wirtschaftswissenschaft auf dem Prüfstand

Von Bernhard Boockmann und Claudia M. Buch


Welchen Beitrag kann die Wirtschaftswissenschaft leisten, um Wirtschafts- und Finanzkrisen rechtzeitig zu erkennen und dadurch möglicherweise zu verhindern? Hat sie sich in der aktuellen Krise überzeugend bewährt?


Hätten die Ökonomen die größte weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise der Nachkriegszeit nicht besser vorhersagen und Maßnahmen vorschlagen können, die die Folgen der Krise abgeschwächt hätten? Sind die gängigen wirtschaftstheoretischen Modelle die richtigen oder übersehen sie nicht wichtige Zusammenhänge, die ausschlaggebend für die Krise waren? Diese Fragen stellt die Öffentlichkeit an die Ökonomen, und sie werden auch zwischen Ökonomen diskutiert. Bei genauerer Betrachtung relativieren sich allerdings einige der in dieser Debatte vorgebrachten Argumente.


Beispielsweise: »Ökonomen hätten die Krise vorhersehen müssen.« Diese Aussage ist aus zwei Gründen irreführend. Zum einen ist die Prognose von künftigen wirtschaftlichen Entwicklungen nur eine der vielen Fragen, mit denen sich Ökonomen beschäftigen - gleichzeitig aber auch die in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommene. Die Jahresgutachten des Sachverständigenrates, einem Gremium, das die Bundesregierung in wirtschaftspolitischen Fragen berät, können dies verdeutlichen. Diese jährlich vorgelegten Gutachten enthalten einen Prognoseteil; der weitaus umfangreichere Teil dieser Gutachten beschäftigt sich allerdings mit wichtigen strukturpolitischen Fragen wie der Reform des Arbeitsmarktes oder der besseren Regulierung der Finanzmärkte. Viele Vorschläge, die der Sachverständigenrat in der Vergangenheit entwickelt hat, haben unmittelbaren Eingang in die Praxis der Wirtschaftspolitik gefunden.


Fortschreibung vergangener Entwicklungen

Außerdem muss man die Grenzen der Aussagekraft von Prognosen berücksichtigen. In »normalen« Zeiten liegen sie meist nicht fern von den Werten, die dann tatsächlich eintreffen. Sie geben der Wirtschaft und Politik daher nützliche Orientierung. Sie sind allerdings nicht perfekt - so lässt sich zeigen, dass sich die Prognostiker gegenseitig beeinflussen (sogenanntes Herdenverhalten), was zu Verzerrungen führt. Daran muss gearbeitet werden. Die jüngste weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise konnten diese Verfahren nicht vorhersagen, weil sie zu großen Teilen auf der Fortschreibung von vergangenen Entwicklungen beruhen. Deshalb Prognosen ganz einzustellen, wäre allerdings ein Fehler und letztlich auch für die Wirtschaftspolitik keine Alternative. »Ökonomen nutzen die falschen Modelle.« Dieses Argument führt schon deswegen in die falsche Richtung, weil es in der Ökonomie nicht einen einheitlichen Modellrahmen gibt. Vielmehr gibt es eine Vielzahl konkurrierender theoretischer Modelle, die sich letztlich harten empirischen Tests unterziehen müssen. Natürlich gibt es, wie in anderen Wissenschaften auch, unterschiedliche Denkschulen, aber gleichzeitig gibt es auch eine ausgeprägte Kultur, die Gültigkeit konkurrierender Ansätze zu testen. Gerade in den letzten etwa zehn Jahren hat sich die Breite der Ansätze, die in der Forschung verwendet werden, erheblich ausgeweitet. Ökonomen arbeiten mehr als zuvor mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen wie Psychologen, Soziologen oder sogar Neurowissenschaftlern zusammen, um die verhaltenswissenschaftliche Fundierung ihrer Ansätze zu verbessern.


Vorwürfe treffen oft die Falschen

Auch das häufig vorgebrachte Argument, in den gängigen theoretischen (und empirischen) Modellen fände der Finanzsektor eine zu geringe Bedeutung, lässt sich nur bedingt halten. Richtig an diesem Argument ist, dass dem Wechselspiel zwischen der Realwirtschaft und der Finanzwirtschaft in vielen Modellierungsansätzen bislang zu wenig Bedeutung geschenkt worden ist. Falsch an dem Argument ist allerdings, dass viele der zentralen Mechanismen, die zu der Krise beigetragen haben, von Ökonomen nicht als relevant erkannt werden. Das Gegenteil ist der Fall: Es gibt eine umfangreiche Literatur, die sich mit Problemen auf Finanzmärkten beschäftigt und beispielsweise zeigt, wie Fehlanreize bei Banken dazu führen können, dass von den Banken zu hohe Risiken eingegangen werden.

»Ökonomische Empfehlungen sind zu weit von der wirtschaftspolitischen Praxis entfernt.« Dieser Vorwurf trifft oft die Falschen. Denn wie in allen anderen Bereichen der Wissenschaft gibt es auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einen Bereich der Grundlagenforschung. Mit einem gewissen Abstand von den aktuellen tagespolitischen und wirtschaftspolitischen Fragen gehen Wissenschaftler hier der Frage nach, was die Abläufe innerhalb eines Wirtschaftssystems bestimmt, wie die einzelnen Märkte und die Individuen miteinander agieren oder welches theoretische Modell der Wirklichkeit am nächsten kommt. Einen solchen Prozess muss es geben, denn nur so kann wissenschaftlicher Fortschritt entstehen, nur so können sich neue Paradigmen entwickeln.

Aber gleichzeitig - und auch hier unterscheiden sich die Wirtschaftswissenschaften nicht von anderen Wissenschaftsbereichen - gibt es einen Bedarf, aktuelle Erkenntnisse in die Praxis der Wirtschaftspolitik oder der einzelnen Unternehmen zu transferieren. Ein Beispiel kann illustrieren, dass dieser Prozess des Erkenntnistransfers in den Wirtschaftswissenschaften in den letzten Jahren sogar zunehmend erfolgreich verläuft. Das Beispiel ist der makroökonomischen Forschung, also der Forschung über gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge, entnommen. Im Jahre 1958 machte der britische Forscher William Phillips die Entdeckung, dass es einen recht engen statistischen Zusammenhang zwischen der Inflationsrate eines Landes und der Arbeitslosigkeit gibt. Für die Wirtschaftspolitik war dies eine wichtige Erkenntnis, könnte es doch möglich sein, einen optimalen Mix von Inflation und Arbeitslosigkeit zu wählen. Viele erinnern sich an die Aussage des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt »Mir scheint, dass das deutsche Volk - zugespitzt - fünf Prozent Preisanstieg eher vertragen kann als fünf Prozent Arbeitslosigkeit«.

Doch wie jede andere Entdeckung in den Wissenschaften rief auch diese sofort die Skeptiker auf den Plan. Ist der Zusammenhang systematisch und, vor allem, lässt er sich von der Wirtschaftspolitik wirklich nutzen? Ein gewichtiger Einwand ist, dass die Wirtschaftspolitik nicht einfach die gewünschte Kombination aus Inflation und Arbeitslosigkeit wählen kann, wenn die Individuen rationale Erwartungen und vollständige Informationen haben. Denn die Wirtschaftssubjekte würden die Anreize der Regierung durchschauen, durch eine höhere Inflation eine geringere Arbeitslosigkeit zu erzielen. Sie würden ihre Erwartungen anpassen, und am Ende würde ein Land wohl mit mehr Inflation, nicht aber mit einer geringeren Arbeitslosigkeit dastehen. Sind die Annahmen, die dieser Kritik zugrunde liegen, realistisch? Sie sind es natürlich nicht, denn weder verhalten wir uns in der Regel rational noch haben wir vollständige Informationen. Dennoch hatte der Kern dieses Arguments erhebliche Relevanz für die Wirtschaftspolitik, und die geschilderte Debatte hat dazu geführt, dass sich die institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen die Geldpolitik heute durchgeführt wird, geändert haben. Der Erfolg und die institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Zentralbank, insbesondere ihre Unabhängigkeit von der Politik, ist ein wichtiges Beispiel hierfür. Die Erkenntnisse dieser Forschung haben uns in den vergangenen Jahren geldpolitische Stabilität und geringere Inflationsraten beschert - bei einem längerfristigen Rückgang der Arbeitslosigkeit in den meisten Ländern der Eurozone.

Als Fazit lässt sich formulieren: Insgesamt werden in den Wirtschaftswissenschaften empirische und interdisziplinäre Ansätze häufiger. Das macht es einfacher, Forschungsergebnisse in die Praxis zu übertragen. Zugleich sind die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger und Ministerien mehr und mehr bereit und in der Lage, Forschungsergebnisse korrekt zu interpretieren und besser in Handlungsoptionen umzusetzen. Dazu hat nicht zuletzt ein stetiger »Braindrain« von den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten und Fakultäten in die Ministerien beigetragen. Der Eindruck, in den Wirtschaftswissenschaften stimme die ganze Richtung nicht, mag in der Krise bei vielen kurzfristig aufgekommen sein. Es handelt sich jedoch um eine verzerrte Wahrnehmung.


Claudia M. Buch ist Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftstheorie, insbesondere Geld und Währung, an der Universität Tübingen sowie wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW). Sie ist derzeit Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie.

Bernhard Boockmann ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des Tübinger Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) und außerplanmäßiger Professor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.


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Quelle:
attempto!, November 2010, S. 18-19
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2011