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GEWERKSCHAFT/591: "Krise ist immer" - betriebliche Krisenreaktionen (Sozialismus)


Sozialismus Heft 2/2012

"Krise ist immer"
Zum Verhältnis von Finanz- und Wirtschaftskrise und betrieblicher Krise in Permanenz

Von Dieter Sauer


Mit den Erschütterungen auf den Finanzmärkten ist eine kapitalismusimmanente Antwort auf die Krise des Fordismus gescheitert. Deshalb ist neu nach betrieblichen Krisenreaktionen zu fragen.

Wirtschaftskrisen sind eine vertrackte Angelegenheit: In ihren sozialen Folgen bedrohlich, sind ihre Ursachen und Verläufe schwer zu dechiffrieren. Das gilt für Finanzkrisen in potenzierter Form: extrem zerstörerisch, ganze Staatengruppen an den Rand des Abgrunds führend, aber zugleich höchst intransparent. Denn wer von den Betroffenen durchschaut schon die "Bewegungsgesetze" der Finanzmärkte, die Transformationsprozesse in realwirtschaftliche Krisen und die vielfältigen Krisenkaskaden, die vor Jahren auf den Immobilienmärkten begannen und auf den europäischen Anleihemärkten noch nicht beendet sind. Mittlerweile berichtet die Umfrageforschung von einer möglicherweise breiter anzutreffenden Reaktion: Man will von dieser Krise nichts mehr hören, kapselt sich ab, ist der Krisenlösungsrhetorik überdrüssig. Das wäre fatal. Denn damit wäre die Herrschaft eines unbeherrschten Prozesses festgeschrieben.

Wenn Forderungen nach Regulierung der Finanzmärkte seit Jahren weitgehend in den Wind geschrieben Strategiediskussion werden, ist möglicherweise ein Perspektivwechsel fällig. In dem Sinne, "Krise" nicht nur als Fehlsteuerung von Finanzmärkten und als globale Spekulation - mit "Risiken", Staatsschulden, Rohstoffen usw. - zu verhandeln, sondern gleichsam in den Alltag zurückzuholen. Präziser: In den Alltag der Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums. Was heißt "Krise" im betrieblichen Erleben? Wie hängen Finanz- und Wirtschaftskrisen mit den alltäglichen Krisenerfahrungen zusammen. Welche Rolle spielt Arbeit und Arbeitspolitik in den aktuellen Krisenverläufen?

Für Gewerkschaften könnte das der Ausgangspunkt für dringend erforderliche Strategieveränderungen sein. Dass Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute als Experten für gute Arbeit, Beschäftigung und eine nachhaltige Unternehmenspolitik gefordert sind, ist die Herausforderung. Und die hat viel mit Antikrisenpolitik zu tun.

Was also bedeutet "Krise" im Betrieb?


Krisenwahrnehmung aus betrieblicher Sicht

Für die Mehrzahl der Beschäftigten in den Betrieben wirkte die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht als singuläres Ereignis, sondern trifft auf frühere, schon länger andauernde "alltägliche" betriebliche Krisenerfahrungen. Anders als im strikt ökonomischen Sinn wird Krise oftmals als ein gleichsam "permanenter Prozess" wahrgenommen, der sich seit über einem Jahrzehnt durch beständige Restrukturierung der betrieblichen Abläufe, Verlagerungen, Outsourcing, Kostensenkungsprogramme, fortwährende Intensivierung der Arbeit usw. auszeichnet. Als "krisenhaft" werden der fortwährende Druck und die permanente Unsicherheit von Beschäftigung, Einkommen und Arbeitsbedingungen verstanden. In der Auseinandersetzung mit dieser Restrukturierung in Permanenz werden "Krisenreaktionen" dann selbst zu einer gewissen Routine.

Das bedeutet nicht, dass von der Krise 2009/2010 keine eigenständige Bedrohung und Wirkung ausgegangen wäre, aber für Beschäftigte in Betrieben, die sich seit einem Jahrzehnt in permanenter Standortkonkurrenz befinden und ständig mit den Geschäftsleitungen darüber feilschen müssen, wie viel sie von ihrem Einkommen oder ihrer Arbeitszeit hergeben, damit der Standort gesichert bleibt, ist "immer Krise", egal ob die Wirtschaft sich konjunkturell aufwärts oder abwärts bewegt. Boom oder Krise, der Druck auf die Arbeitsbedingungen in Zeiten permanenter Restrukturierung hört nicht auf.

Diese Aussagen sind Ergebnis einer kleinen aktuellen Studie zur Wahrnehmung der Krise von Beschäftigten in Betrieben der Metall-, Elektro- und Textilindustrie.(1) Vergleichbare Einschätzungen haben wir auch in anderen Forschungsprojekten der letzten zehn Jahren vorgefunden. Sie waren u.a. ein Beleg für unsere These einer permanten Reorganisation in den Unternehmen, die bei den Beschäftigten für Unruhe und Druck sorgt. Allerdings war damals die Bezeichnung Krise für ständig steigenden Druck weniger geläufig. Insofern hat die Finanz- und Wirtschaftskrise den Blick auf die zurückliegenden Erfahrungen durchaus geschärft.

Das "German Miracle" beruhte auf extremen Formen der flexiblen Anpassung krisengestählter Belegschaften.

In der Wahrnehmung von "Krise als permanentem Prozess" stecken Defensiverfahrungen bis hin zu sozialen und politischen Niederlagen. Weder hat man wachsenden Leistungsdruck, die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitverlängerungen im Kontext einer fortschreitenden Vermarktlichung der Verhältnisse im Unternehmen verhindern können, noch die höchst einseitige Verteilung des neu produzierten Reichtums zu Gunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen.

Nicht zuletzt sind es auch die Reallohnverluste, die die Beschäftigten in den letzten zehn Jahren hinnehmen mussten, die in Verbindung mit Poduktivitätssteigerungen die Lohnstückkosten im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich abgesenkt haben. Laut Berichten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf sind die Löhne in Deutschland preisbereinigt um 4,5% gefallen,(2) in anderen Ländern wie z.B. in Norwegen um 25,1% gestiegen. Im unteren Lohndrittel sind im vergangenen Jahrzehnt die Reallöhne um über 20% gesunken.(3) Die Lohnstückkosten stiegen nur um 6% und lagen damit weit unter dem EU-Durchschnitt von 20% an letzter Stelle in Europa.(4)

Es gibt in der deutschen Wirtschaft und insbesondere in der exportorientierten Industrie also durchaus Krisengewinner. Aber es gibt auch klare Verlierer: Das sind große Teile der Arbeitnehmer, die für die - teilweise - Sicherung ihrer Arbeitsplätze einen hohen Preis gezahlt haben. Das sogenannte "German Miracle" - die erstaunlich erfolgreiche und geräuschlose Krisenbewältigung - beruhte ja nicht zuletzt auf extremen Formen der flexiblen Anpassung krisengestählter Belegschaften an betriebliche Krisenbedingungen. Ein Beispiel dafür: Die Arbeitszeitflexibilisierung durch Auf- und Abbau von Arbeitszeitkonten war für die Krisenbewältigung wichtiger als die Kurzarbeitsregelungen. Dass die Arbeitszeitpolitik in diesem Maße nahezu konfliktlos als Instrument der Krisenbewältigung funktionierte, ist nur verständlich vor dem Hintergrund einer bereits langfristig eingeübten Fähigkeit der Beschäftigten, ihre Alltagsorganisation flexibel den betrieblichen Zyklen der Zeitbeanspruchung anzupassen - eine Fähigkeit, die mit der Deregulierung der Arbeitszeiten spätestens seit Mitte der 1990er Jahre massiv gefordert und trainiert wurde. Leistungsdruck, arbeitsbedingter Stress und mit ihm die psychischen Erkrankungen haben während der Krise erheblich zugenommen.(5)

Sicher treffen diese Verschlechterungen nicht alle Arbeitnehmer in gleicher Weise. Die Unterschiede und Spaltungen nehmen zu, aber immer mehr bekommen die Folgen dieser Entwicklung zu spüren.


Krise als "Brennglas" - Finanz- und Wirtschaftskrise und Krise des Fordismus

Kontext betrieblicher Erfahrungen erweist sich die Krise offensichtlich auch als "Brennglas", als Zuspitzung früherer Erfahrungen, in der gesellschaftliche Zusammenhänge deutlicher werden. Dies gilt auch für unsere eigenen Analysen.

Begnügt man sich nicht mit einer oberflächlichen Krisenerklärung, sondern folgt einigen der vorliegenden ökonomischen Analysen,(6) so reichen die tieferen ökonomischen Ursachen der aktuellen Krise bis zu dem weltweiten Wachstumseinbruch Mitte der 1970er Jahre (Dollarkrise, Ölpreisschock) zurück. Seit diesem Zeitpunkt lässt sich - über mehrere Wachstums- und Krisenzyklen hinweg - ein Ansteigen der Arbeitslosenraten in den wichtigen westlichen Nationen - insbesondere in Europa - beobachten. Demnach war die 1970er Krise mehr als eine konjunkturelle Rezession. Sie war das Ende des Vollbeschäftigungswachstums und - in ersten Ansätzen - der Beginn einer neoliberalen Wirtschaftspolitik.

Die Zeit Mitte der 1970er Jahre wird rückblickend jedoch nicht nur als das Ende von Vollbeschäftigung angesehen, sondern generell als Wendepunkt genommen, als Umbruch in der sozio-ökonomischen Entwicklung. Damals wurde die Krise der fordistischen Regulation eingeläutet, mit der eine tiefergehende gesellschaftliche Restrukturierung begann. In den Unternehmen waren die traditionellen Rationalisierungsformen an Grenzen gestoßen. Produktivitätssteigerungen ließen sich nur mit einer weitreichenden Reorganisation der betrieblichen Strukturen und mit neuen Steuerungsformen von Arbeit erreichen. Diese Veränderungen wurden von uns und anderen mit dem Label einer "marktzentrierten Produktionsweise" belegt, die den Zugriff auf die lebendige Arbeit substanziell verändert hat.

Nimmt man beides zusammen, so vollzieht sich die Erosion der fordistischen Arbeitsgesellschaft vor dem Hintergrund einer strukturellen Überakkumulation mit sich verschlechternden profitabeln Anlagemöglichkeiten (manche Autoren reden auch von einer sinkenden Profitrate). Die Transformation einer "mixed economy" in eine finanzmarktgesteuerte Kapitalakkumulation mit dem Shareholder bzw. dem Finanzinvestor als ökonomische Zentralfigur kann in dieser Interpretation als kapitalistisch immanente Lösungsform der fordistischen Krise begriffen werden. Das Verhältnis von so genannter Realökonomie und Finanz- und Kapitalmärkten drehte sich um. Es kommt zu einer relativen Verselbständigung der Geldkapitalakkumulation. Die Herstellungsprozesse in den Betrieben werden zu abhängigen Variablen, zu Objekten der Spekulation.

Spätestens in den 1990er Jahren wird der prägende Einfluss der Kapital- und Finanzmärkte auf das ökonomische Geschehen deutlich. In den Unternehmen dominieren zunehmend finanzmarktorientierte Steuerungsgrößen die innere Organisation und die Arbeitsabläufe. Die Finanzialisierung der internen Unternehmensstruktur, die neue Herrschaft der Zahlen, war Folge und Voraussetzung für die orientierende Kraft der Finanzmärkte. Dasselbe gilt für die Finalisierung der Leistungssteuerung, also ihre Ergebnis- und Erfolgsorientierung. Sie sind Bausteine neuer indirekter Steuerungsformen von Unternehmen und Arbeit, die einer finanzmarkt-orientierten Logik folgen.


Finanzialisierung der Unternehmenssteuerung und Finalisierung der Leistungspolitik

Vor diesem Hintergrund könnte man in der gegenwärtigen Krisenkonstellation auch ein Scheitern der kapitalismusimmanenten Lösungsformen sehen. Dieses Scheitern käme dann eben nicht nur in den Spekulationsblasen auf den Finanzmärkten, den Bankenkrisen oder den staatlichen Schuldenkrisen zum Ausdruck, sondern auch in einer Krise der Steuerungsformen von Unternehmen und Arbeit, die den Finanzmarktimperativen folgen. Die Orientierung an den Finanzmärkten hat tiefe Spuren in der Organisation der Unternehmen, der Organisation von Arbeit und in den konkreten Formen der Leistungsteuerung hinterlassen. Aber es ist nicht davon auszugehen, dass das "grandiose Scheitern"(7) einer finanzmarktgesteuerten Kapitalakkumulation in der Krise das Ende der finanzmarktorientierten Steuerung in den Unternehmen bedeuten wird. Auch wenn Strategiediskussion mit der Krise das "Regime des Shareholder Value verblasst" - zumindest was das Leitbild angeht(8) -, so ist nicht zu erwarten, dass die Unternehmen von sich aus eine weitgehende Revision bisheriger Steuerungsformen vornehmen werden.

Im Gegenteil: Formen finanzmarktorientierter Unternehmenssteurung konnten in den letzten Jahren auch in Unternehmen beobachtet werden, die nicht börsenorientiert und nicht von Finanzinvestoren bestimmt wurden. Es kommt generell zu einer zunehmenden Finanzialisierung der Unternehmen: Nicht mehr wie früher die "normale" Profitrate, sondern Renditeerwartungen, die sich am Kapitalmarkt oder an Konkurrenten orientieren, bestimmen die "Wertorientierung" der Unternehmen. Das "Delta" zwischen Kapitalmarktrendite und "normalem" Profit wird zum Maßstab und erzeugt eine "maßlose" Verwertungsperspektive. Es findet seinen Ausdruck in der Formulierung von Zielen, die sich am "theoretisch Notwendigen" und nicht (mehr) am "praktisch Machbaren" orientieren: Die Unternehmen überlasten sich und ihre Organisation systematisch selbst. Und dies ist kein Fehler im System, sondern hat selbst System. Wir haben in mehreren empirischen Studien in den letzten Jahren dafür Belege gefunden.(9) Effektive Wirkung wird vor allem dann erzielt, wenn die Existenz von Organisationseinheiten an das Erreichen von Kennziffern oder Benchmarks gebunden und damit eine permanente Bedrohung erzeugt wird. Aus dem Problem der Überlastung der Organisation wird ein Problem der Beschäftigten und seine Lösung wird zum eigentlichen Maßstab von Leistung bzw. Erfolg. Leistung wird nun vom Ende her bestimmt: vom wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Nicht mehr die Input-Seite der Arbeit, sondern nur mehr die Output-Seite, das Ergebnis, interessiert. Und Leistung ist zunehmend nur noch das, was der Markt auch als solche anerkennt. Sie bezieht sich nicht mehr auf ausgehandelte Größen des menschlich oder gesellschaftlich Möglichen oder Zumutbaren.

Mit ihrer Finalisierung verliert die Leistungspolitik jegliche Maßstäbe (wie z.B. die Zeit und Arbeitsmenge) und stößt damit immer wieder an die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit. Hinzu kommt, dass in diesem System der Leistungssteuerung die Aufgaben der Leistungsregulierung (Abstimmung von Anforderungen und Ressourcen, Rationalisierung etc.) die Beschäftigten weitgehend selbst übernehmen müssen. Es entsteht "ein anderes Arbeitserleben: ein Gefühl der immerwährenden Anspannung, das den Rhythmus von viel und weniger Arbeit, von hektischen und ruhigen Phasen, von Auftragsspitzen und Normallast kaum mehr kennt. Ob im Konjunkturhoch oder Konjunkturtal, im Wachstum oder in der Krise, es kehrt keine 'Normalität' mehr ins Arbeitserleben ein".(10)

"Immer Krise" heißt also auch "immer Anspannung und immer Überforderung" - das ist das Resultat der finanzmarktorientierten Unternehmenssteuerung, wenn maßlose Renditen ihren Ausdruck in maßlosen Leistungsanforderungen finden.

Und dass daraus inzwischen eine neue Krisendimension entstanden ist, zeigen viele aktuelle Untersuchungen. Psychische Belastungen und Erkrankungen nehmen dramatisch zu. Sie indizieren nicht nur steigende Gefahren für individuelle Gesundheit und soziale Beziehungen, sie verweisen auf nicht mehr zu leugnende Grenzen einer Ökonomie der Maßlosigkeit.


Krisen ohne Ende oder Ende der Maßlosigkeit?

Was folgt aus dem Versuch, einen Zusammenhang von Finanz- und Wirtschaftskrise und den Entwicklungen in den Betrieben herzustellen? Was hat das für Konsequenzen in der Einschätzung der weiteren Entwicklung? Welche arbeitspolitischen Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?

Ich maße mir angesichts der alltäglich zu beobachtenden Metamorphosen von ökonomischen und politischen Krisenphänomenen nicht an, die Ursachen der gegenwärtigen Krisensituation zu erklären und einigermaßen konkrete Aussagen über mögliche Krisenverläufe zu machen. Zwar sind wir als Arbeits- und Industriesoziologen in der Vergangenheit immer sehr großzügig und vielleicht auch leichtfertig mit dem Krisenbegriff umgegangen. Da war schnell was in der "Krise" oder "am Ende" und wir waren immer "dem Neuen" auf der Spur. Aber das bezog sich damals immer auf die Transformation fordistischer Organisations- und Arbeitsformen. Mit unseren Diagnosen zur nachfordistischen Phase lagen wir - zumindest was die generellen Aussagen zu ihrem Übergangscharakter, ihrer Instabilität, ihrer permanenten Veränderungsdynamik und die mögliche Zuspitzung in Krisen (auch Finanzkrisen) angeht - nicht so falsch.

Mit der Entwicklung eines finanzmarktdominierten Kapitalismus und mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ist jedoch eine neue Qualität sichtbar geworden, die die Volatilität und Unsicherheit deutlich verstärkt. Zum einen wird immer häufiger der systemische Charakter der Krise hervorgehoben, d.h. ihr Gefährdungspotential hat sich vergrößert; zum andern ihre Mehrdimensionalität, d.h. ökonomische, ökologische, gesellschaftliche und individuelle Krisen verschränken sich - die Rede ist von einer multiplen Krise, einer Vielfachkrise.

"Krise ist immer", diese Aussage aus dem betrieblichen "Arbeitserleben" scheint auch für andere Krisenbereiche zuzutreffen und auch auf globaler ökonomischer Ebene scheint die Gleichzeitigkeit von Boom und Krise und die sensible Verflechtung von internationalen Warenströmen und Wertschöpfungsketten die Wahrnehmung von Krise auf Dauer zu stellen. Aber was bedeutet diese Wahrnehmung für die individuelle Verarbeitung und den Umgang mit Krisen?

Eine mögliche Reaktionsweise haben wir bei den von uns zur Finanz- und Wirtschaftskrise Befragten gefunden: Gerade bei denjenigen, die besonders hart von der Krise betroffen waren, fanden sich viele, die aufgrund vergangener betrieblicher Erfahrungen oder vor dem Hintergrund einer durch Unsicherheit und Brüche geprägten Erwerbsbiografie eine generalisierte Kompetenz zum Umgang mit belastenden und prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen erworben haben. Wer bereits ausgeprägte Krisenerfahrungen in der Vergangenheit gemacht hat, empfindet die "große Krise" kaum als relevanten persönlichen Einschnitt. Und das scheint die Mehrheit zu sein. Menschen entwickeln eigene individuelle Praktiken und Routinen, sie lernen mit Krisen umzugehen. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass in Deutschland großformatige gesellschaftliche Konflikte ausgeblieben sind.

Aber zumindest in den Betrieben ist die Krise nicht ohne Kritik geblieben. Hinter der vergleichsweise geräuschlosen Krisenverarbeitung scheinen tiefgehende Ohnmachtserfahrungen gegenüber einer entfernten, unbeherrschten Dynamik auf Die Beschäftigten signalisieren große Unzufriedenheit, die sich in vielen Fällen mit wenig Hoffnung auf baldige Veränderung verbindet. Dahinter wird ein nicht unerhebliches - allerdings recht diffuses - Potential an Wut und Protest sichtbar. Der "Wutbürger" hat offensichtlich einen Kollegen im Betrieb. Die Wut hat sich schon vor der Krise nach und nach aufgestaut und wird nun noch einmal verstärkt. Aber sie hat meist keinen konkreten Adressaten im Betrieb. Das Ohnmachtserleben schlägt um in eine Art "adressatenlose Wut", die dann vom Betrieb auf "Gesellschaft" und auf "Staat und Politik" verschoben wird. Diese Wut schafft sich in relativ diffuser Weise Raum und führt zu ziemlich ausgeprägten Widerstands- und Protestfantasien. In unseren Interviews finden sich immer wieder "brennende Reifen" sowie die Vorstellung, demnächst werde es "gewaltig krachen", "richtig scheppern".

Der Wutbürger hat einen Kollegen im Betrieb.

Die Krise traf auf den skeptischen "Boden" langer Erfahrungen einer Verschlechterung der Arbeits- und Lebensverhältnisse und auf weitreichende Prozesse einer Delegitimierung der ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnisse und deren Institutionen (das zeigen übrigens auch die demoskopischen Umfragen der letzten Jahre). Die Krise wird als Bestätigung einer über Jahre "gereiften" Kritik wahrgenommen.

Was aus diesem Kritikpotential wird, ist die eine Frage: Verbindet es sich mit anderen Formen und Trägern von Kritik, die in den aktuellen Krisenverläufen entstehen? Die andere Frage richtet sich auf die realistischen Ansatzpunkte einer solchen Kritik: Gibt es die Chance von politischen Veränderungen, gibt es Anzeichen für ein Umdenken, in dem die Grenzen einer maßlosen Ökonomie thematisiert und ein nachhaltiger Umgang mit ökologischen und menschlichen Ressourcen gefordert oder auch schon in Ansätzen praktiziert wird?

Ohne Frage hat die anhaltende Krise die gesellschaftliche Thematisierung einer solchen Umsteuerung in Gang gebracht, und das nicht nur in linken Zirkeln. Doch die Skepsis gegenüber der politischen Durchsetzung, die Skepsis gegenüber dem, was Politik überhaupt noch vermag, ist ungeheuer groß. Das wird nicht nur in unserer Studie deutlich ("Politiker kannst Du vergessen"), und das betrifft auch nicht nur die politische Regulierung der Finanzmärkte.

Aber bleiben wir auf der betrieblichen Ebene. In der Krise gab es nicht nur breite Kritik am finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, sondern auch an den übertriebenen Renditezielen von Unternehmen, aber der destruktive Umgang mit Arbeit wurde nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Die angelegten Tendenzen zur Leistungsintensivierung, zu einer arbeitszeitlichen Ultra-Flexibilisierung sowie zur Prekarisierung der Beschäftigungsbedingungen haben durch die Krise noch einmal einen neuen Schub erhalten - erwähnt sei hier nur, dass das neue "Beschäftigungswunder" nach der Krise zu großen Teilen in einer Expansion von Zeitarbeit besteht. Die Unternehmen gingen gestärkt aus der Krise hervor, denn sie haben sie als "Experimentalsituation" für eine weitere Verschärfung der Arbeits- und Leistungsbedingungen genutzt. Und im Aufschwung 2010/2011 hat die Anspannung nicht nachgelassen. Im Gegenteil: Massive Umsatzsteigerungen mussten mit einer in der Krise verknappten Personaldecke bewältigt werden.

Heißt das: kein Ende der Maßlosigkeit in Sicht?

Nicht nur die Ergebnisse unserer eigenen Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass in der betrieblichen Nutzung von Arbeitskraft eine Grenze erreicht ist: So wird eine weitere Verdichtung der Arbeit, eine weitere Verstärkung des Leistungsdrucks zu verheerenden gesundheitlichen Auswirkungen führen. Und die fast täglichen Berichte über die rapide Zunahme psychischer Erkrankungen zeigen, wohin die Reise geht: Der berufliche Stress und mit ihm die Volkskrankheit Depression droht - nach Expertenmeinung - zu einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts zu werden. Doch schon davor reagiert ein erheblicher Teil der Beschäftigten: Motivation und Engagement sinken, innere Kündigungen nehmen zu.

Nun gibt es in den Unternehmen und in ihren Beratungsfirmen durchaus Anzeichen eines Umdenkens. So hat der Chef der Unternehmensberatung McKinsey kürzlich die Zielperspektive einer nachhaltigen Unternehmenspolitik formuliert, die an die Stelle der bisherigen Kurzfrist-Strategien treten soll, die McKinsey früher propagiert hat.(11) Offensichtlich sind hier Grenzen eines einfachen "Weiter so" erreicht. Was in dieser Perspektive jedoch nicht auftaucht, ist das Ziel eines nachhaltigen Umgangs mit Arbeit.

Interpretiert man die Finanz- und Wirtschaftskrise selbst auch als Ergebnis der finanzmarktorientierten Unternehmens- und Leistungssteuerung, können sich politische Strategien zum Umgang mit Krisen nicht auf die Regulierung von Finanzmärkten beschränken, sondern müssen auch die Innenseite der kapitalistischen Ökonomie wieder stärker ins Visier nehmen, d.h. sich mit unternehmensinternen Organisationsformen auseinandersetzen, die einen anderen, einen nachhaltigen Umgang mit Arbeit möglich machen. Arbeitspolitik erhält in dieser Perspektive eine herausragende Bedeutung - ganz im Gegensatz zur gegenwärtigen Praxis.


Dieter Sauer ist Sozialforscher am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München und Honorarprofessor für Soziologie an der Universität Jena. Der Artikel ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Herbst-Tagung der Sektion "Arbeits- und Industriesoziologie" am 27/28. Oktober 2011 in München.


Anmerkungen

(1) R. Detje/W. Menz/S. Nies/D. Sauer: Krise ohne Konflikt? Hamburg 2011.

(2) International Labour Office (2010), Global Wage Report 2010/11: Wage policies in times of crisis (Genf, 2010). Online unter
http://www.ilo.org/travail/lang--en/index.htm.

(3) K. Brenke/M. Grabka: Schwache Lohnentwicklung im letzten Jahrzehnt, in: DIW-Wochenbericht 45-2011.

(4) Europe in figures - Eurostat yearbook 2011.

(5) Vgl. L. Schröder/H.-J. Urban (Hrsg.): Jahrbuch Gute Arbeit. Ausgabe 2012. Frankfurt a.M. 2011.

(6) Vgl. z.B. R. Brenner: Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft, Hamburg 2003.S. Krüger: Konjunkturzyklus und Überakkumulation. Wert, wertgesetz und Wertrechnung für die Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 2007. K.G. Zinn, K.: Krisenerklärung: Drei verlorene Jahrzehnte. In: E. Altvater u.a.: Krisen Analysen, Hamburg 2009.

(7) S. Krüger: Finanzmarktkrise: Der Umschlag des Kredit- in das Monetarsystem, in: J. Bischoff/S. Krüger/K.G. Zinn: Finanzkrise, Überakkumulation und die Rückkehr des Staates. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 12/2008.

(8) So K. Dörre/H. Holst/I. Matuschek: Der Shareholder Value ist tot, es lebe die Maximalrendite! In: L. Schröder/H.-J. Urban: Gute Arbeit - Jahrbuch 2011. Frankfurt a.M. 2011.

(9) Vgl. z.B. N. Kratzer/W. Dunkel/K. Becker/S. Hinrichs/K. Peters (Hrsg.): Arbeit und Gesundheit ins Konflikt. Analysen und Ansätze für ein Partizipatives Gesundheitsmanagement. Berlin 2011; N. Kratzer/S. Nies: Neue Leistungspolitik bei Angestellten. ERA, Leistungssteuerung, Leistungsentgelt. Berlin 2009.

(10) J. Reindl/A. Köchling/H. Breit: Seelennot - Prävention in der dunklen Zone der modernen Arbeitswelt. Wissenschaftlicher Abschlussbericht des Projektes "Lebenslang gesund arbeiten - demographieorientierte innovative Präventionskonzepte" (LEGESA) 2011.

(11) D. Bartun: Zeit zu Handeln. In: Harvard Business Manager, Mai 2011.


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Quelle:
Sozialismus Heft 2/2012, Seite 45 - 49
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2012