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INTERNATIONAL/072: Die G20 als Global Governance-Akteur (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2011
Global Governance - Eine Chimäre?

Die G20 als Global Governance-Akteur
Neue Dynamik durch informellen Multilateralismus?

Von Dr. Lars Brozus


Auf globaler Ebene werden neue Formen multilateraler Kooperation, die sich durch eine vergleichsweise große Informalität auszeichnen, immer wichtiger. Hier ist in erster Linie die G20 zu nennen, die im Verlauf der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise erhebliche Steuerungsenergie bewiesen hat. Vorangetrieben durch die französische Präsidentschaft sind 2011 zusätzliche Politikfelder - wie Ernährungssicherheit, Rohstoffpreisvolatilität und die soziale Dimension der Globalisierung - auf die Agenda der G20 geraten. Damit hat die G20 eine noch zentralere Rolle für Global Governance übernommen. Zwar ist nicht absehbar, ob diese Dynamik unter der mexikanischen Präsidentschaft 2012 beibehalten werden kann. Klar ist jedoch, dass sich Machtverschiebungen in einem durch größere Informalität geprägten Multilateralismus sehr viel unmittelbarer in neue Handlungsspielräume für die "Globalisierungsgewinner" unter den Staaten umsetzen (zum Beispiel China, Indien, Brasilien, auch Deutschland), als dies in einem stärker institutionalisierten Rahmen wie dem UN-System möglich ist.


Seit 2008 haben die G20 in der Global Governance-Politik erheblich an Bedeutung gewonnen. Mit der Aufwertung der G20-Treffen zu Gipfeln der Staats- und Regierungschefs sind - je nach Perspektive - die Befürchtungen vor, beziehungsweise die Erwartungen an diesen Club, der politisch und ökonomisch relevante Akteure aus verschiedenen Weltregionen versammelt, erheblich gestiegen. Die G20 begreifen sich inzwischen als ein bedeutendes Gravitationszentrum von Global Governance, worunter die Produktion und das Management von globalen Kollektivgütern verstanden wird. Dazu zählen Güter wie der Schutz menschlicher Lebensgrundlagen, die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Frieden oder in wirtschaftlicher Hinsicht die Bewahrung makroökonomischer Stabilität. Entsprechend weitet sich die Agenda der G20 stetig aus. Ursprünglich eingerichtet, um in einem informellen Rahmen über globale Finanz- und Wirtschaftspolitik zu diskutieren, befassen sich die G20 inzwischen auch mit anderen Politikfeldern wie der Entwicklungs- oder der Energiepolitik.


Der Bedeutungsgewinn der G20

Der Bedeutungsgewinn der G20 hängt eng mit der als unzureichend wahrgenommenen Handlungsfähigkeit anderer Akteure zusammen, die Global Governance-Politik betreiben. Die für globales Regieren legitimierte Institution, das UN-System, scheint nicht in der Lage, ihre internen Blockaden auf dem Weg zu mehr effektiver Steuerung zu überwinden. So zeichnet sich kein Konsens über eine Reform des Sicherheitsrates ab, die dieses Organ zu einem wirklich handlungsfähigen Instrument globalen Regierens machen würde. Im Sicherheitsrat selbst gibt es immer wieder Streit über Maßnahmen zum Schutz des globalen Friedens, wie zuletzt an der Uneinigkeit über eine Resolution zur Verurteilung der Aggression der Assad-Regierung gegenüber den protestierenden Syrern deutlich wurde. Andere Reformschritte, etwa die Einrichtung einer globalen Umweltorganisation oder die Doha-Welthandelsrunde, kommen nur langsam voran. Und die Verhandlungen über den Schutz menschlicher Lebensgrundlagen, etwa im Klimabereich, scheitern an nationalen Vorbehalten. Kurz: Die universal legitimierte Institution, deren Aufgabe im herrschaftlichen Management globaler Kollektivgüter besteht, erbringt keine hinreichenden Steuerungsleistungen.

Wesentliche Gründe dafür werden in der Struktur des UN-Systems gesehen, in dem zu viele Akteure mit zu unterschiedlichen Interessen mitmischen. Die G20 setzen hingegen auf informelle Treffen zwischen den Staats- und Regierungschefs der teilnehmenden Staaten, zu denen inzwischen regelmäßig auch führende Wirtschaftsvertreter und gelegentlich Repräsentanten der Zivilgesellschaft herangezogen werden. Zwar fällen die G20 keine Entscheidungen. Sie legen aber Positionen fest, die später von den formal zuständigen Institutionen, etwa Weltbank oder Internationaler Währungsfonds (IWF International Monetary Fund), beschlossen werden.


Das Global Governance-Defizit

Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die pauschale Kritik am UN-System am Kern des Problems vorbeigeht. Von einem generellen Governance-Defizit kann nämlich nicht die Rede sein. Governance unterscheidet begrifflich zwischen dem Aspekt der Regelsetzung (regulative oder regulatory governance) und dem Aspekt der effektiven Umsetzung der Regel (durchsetzungsfähige oder assertive governance). Aus dieser Perspektive wird erkennbar, dass das Global Governance-Defizit in erster Linie auf der Seite des durchsetzungsfähigen Regierens liegt. Nun ist der Bedarf an regulativer wie auch durchsetzungsfähiger Regierungsführung auf globaler Ebene gleichermaßen hoch - und er steigt aufgrund sich permanent verstärkender Interdependenzen fortwährend. Anders sieht es hingegen beim Governance-Angebot aus: Hier gibt es auf der Seite regulativer Governance eine ganze Menge von Normen, Regeln, Prinzipien und Prozeduren. Der Mangel besteht zum einen in den Schwierigkeiten, globalen Konsens für weitreichende Entscheidungen zur Produktion und zum Management globaler Kollektivgüter zu finden, zum anderen aber auch in der Implementierung von Entscheidungen. Kurz gesagt: das UN-System produziert zwar viele Regeln, ist aber oft nicht in der Lage, diese effektiv umzusetzen. Die Differenz zwischen dem Angebot an regulativer Governance einerseits und durchsetzungsfähiger Governance andererseits entblößt ein Defizit, das durch das universal legitimierte UN-System nicht gedeckt wird. In diese Lücke stoßen die sogenannten Club Governance-Formate wie die G20, die mit dem Vorzug sektoraler Handlungsfähigkeit werben, welche auf der Konsensbereitschaft der Staats- und Regierungschefs beruht.

Für die Leistungsfähigkeit von Global Governance muss eine Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Akteuren, die für jeweils unterschiedliche globale Kollektivgüter zuständig sind, grundsätzlich kein Problem darstellen. Allerdings steigt automatisch der Koordinierungs- und Legitimierungsbedarf. Dafür sind zum einen funktionale Zusammenhänge zwischen den Politikfeldern verantwortlich: Um den Klimawandel einzudämmen, muss über die Veränderung von Produktions- und Konsumtionsweisen verhandelt werden. Um gesamtwirtschaftliche Stabilität zu erreichen, ist der Abbau ökonomischer Ungleichgewichte notwendig. So hat die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit nicht nur unter Bedingungen begrenzter oder fragiler Staatlichkeit eine entwicklungspolitische Komponente. Zum anderen sind sektorale Governance-Akteure in besonderem Maße auf Legitimität angewiesen, wenn sie effektiv regieren wollen. Denn aufgrund dieser Interdependenzen und funktionalen Zusammenhänge tangiert sektorales globales Regieren immer wieder individuelle oder auch kollektive Interessen und Präferenzen von Akteuren, die gar nicht unmittelbar adressiert werden. Damit bedarf dieses Regieren der Rechtfertigung, die entweder mit Bezug auf die kollektiven Präferenzen (Input-Dimension) oder die kollektiven Interessen (Output-Dimension) der Regierten beziehungsweise Regelungsadressaten erfolgen kann.

Dadurch entsteht für die etablierten Global Governance-Strukturen eine neue Herausforderung: Ihre Aufgabe wird künftig sein, die verschiedenen Akteure, die sektorale Governance-Leistungen mit globalen Auswirkungen erbringen, zu koordinieren und zu legitimieren. Diese Legitimierung kann am einfachsten über das UN-System erfolgen, weshalb die UN-Generalversammlung sich unter ihrem letzten Präsidenten Joseph Deiss um eine engere Abstimmung zwischen UN-System und G20 bemüht hat. Hier deutet sich eine Arbeitsteilung an, die dazu beitragen könnte, das Defizit an durchsetzungsfähiger Global Governance abzubauen. Voraussetzung dafür wäre allerdings nicht nur bessere Koordination, sondern auch mehr Transparenz und Offenheit der Club Governance-Formate gegenüber nichtstaatlichen Organisationen.


TABELLE 1: DIE G20-MITGLIEDER 
 (*: Ständige UN-Sicherheitsratsmitglieder, 
 **: Nichtständige UN-Sicherheitsratsmitglieder 2011/2012)

Argentinien
Deutschland**
Indien**
Psychologie
Mexiko


Australien
Frankreich*
Indonesien
Russland*
Türkei


Brasilien**
Großbritannien*
Italien
Saudi-Arabien
USA*


China*
Japan
Kanada
Südafrika**
Europäische Union




TABELLE 2: DAS GLOBAL GOVERNANCE-DEFIZIT (GG-D)                

Regulative (regulatory) Governance
Durchsetzungsfähige (assertive) Governance

Bedarf +  
+  

Angebot +  
-  
(GG-D)

Dr. Lars Brozus arbeitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu den Themen EU-Außenbeziehungen und Global Governance.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2011, Seite 5-6
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2012