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INTERNATIONAL/181: Wachstum ohne Jobs - die Realität des 21. Jahrhunderts (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. November 2013

Arbeit: Wachstum ohne Jobs - die Realität des 21. Jahrhunderts

von Samuel Oakford


Bild: © Naresh Newar/IPS

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Bild: © Naresh Newar/IPS

New York, 27. November (IPS) - Die ärmsten Länder der Welt überdenken ihre Wirtschaftspolitik, die selbst in Zeiten riesigen Wachstums keine qualitativ hochwertigen Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen konnte, welche dem demografischen Wachstum entsprechen würden.

Die Diskrepanz zwischen Wachstum und Jobs ist nirgendwo größer als in den ärmsten Ländern der Welt (LDCs). Diese Staaten brauchen nach Ansicht der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) jährlich 16 Millionen neue Stellen, um die Berufsanfänger in ihr rapide anwachsendes Heer von Arbeitskräften aufnehmen zu können. In die Kategorie der LDCs fallen Länder, deren Pro-Kopf-Einkommen unter 922 US-Dollar beträgt.

Jahrzehntelang hatten die multilateralen Finanzorganisationen die LDCs dazu gedrängt, ihre Staatsausgaben zu kürzen, die Inflation zu drosseln und die Handelszölle zum Schutz der heimischen Industrie abzuschaffen. Das inzwischen verbreitete "Wachstum ohne neue Arbeitsplätze" hat jedoch dazu geführt, dass die Länder in die entgegengesetzte Richtung blicken.

"Diese Staaten haben radikale politische Reformen hinter sich gebracht", sagt Mussie Delelegn vom UNCTAD-Büro in New York. "In den 1980er Jahren setzten viele von ihnen Strukturanpassungsprogramme um. Doch die Annahme, dass Wachstum automatisch Beschäftigung und einen Rückgang der Armut mit sich bringt, hat sich nicht bewahrheitet."

Obgleich der Anteil der extrem Armen, die mit weniger als 1,25 US- Dollar pro Tag auskommen müssen, in den LDCs gesunken ist, ist ihre Zahl infolge des Bevölkerungswachstums gestiegen. In der Dekade vor der Weltfinanzkrise von 2008 wuchsen die Volkswirtschaften dieser Länder jährlich um mehr als 7,5 Prozent. Das jährliche Wachstum an Arbeitsplätzen betrug zwischen 2000 und 2012 etwa 2,9 Prozent und lag damit knapp über dem Bevölkerungswachstum von 2,3 Prozent.


Erwerbslosenrate unverändert

Die Arbeitslosenquote in dieser Ländergruppe hält sich weiterhin bei durchschnittlich 5,5 Prozent. Ein Vergleich mit Industriestaaten ist allerdings problematisch, denn in den meisten Fällen handelt es sich um prekäre Beschäftigungsverhältnisse. 2010 galten mehr als 80 Prozent aller Jobs in den LDCs als 'gefährdet'.

2011 war das Istanbuler Aktionsprogramm zu dem Ergebnis gekommen, dass das Bruttoinlandsprodukt der LDCs zwischen 2011 und 2010 jährlich um mindestens sieben Prozent wachsen müsste, damit die Armut beseitigt und inklusives Wachstum erreicht werden können. Die Vereinten Nationen gehen jedoch davon aus, dass die meisten LDCs dieses Ziel in den nächsten Jahren um ein bis zwei Prozent verfehlen werden.

Wenn selbst hohe Zuwachsraten den Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren nicht stabilisieren konnten, werden in einem Zeitraum verlangsamten Wachstums gezielte Strategien notwendig, um neue Jobangebote zu schaffen.

Die Währungspolitik sollte vor allem darauf abzielen, Vollbeschäftigung zu erreichen, statt in erster Linie die Inflationsrate zu senken, schrieb UNCTAD-Generalsekretär Muhkisa Kituyi in der Einleitung zu dem Bericht. "Angesichts des relativ schwach ausgebildeten privaten Sektors in vielen LDCs ist es kurz- bis mittelfristig wahrscheinlicher und realistischer, dass der Investitionsschub, der für den Beginn eines Wachstumsprozesse] notwendig wäre, aus dem öffentlichen Sektor kommt."

Kituyi rät den Staaten, Unternehmen und Einzelpersonen mit großen Einkommen stärker zu besteuern, um den höheren Kostenaufwand für die Wachstumsmaßnahmen auszugleichen. Auf Luxusgüter sollten Mehrwertsteuern erhoben werden. Steuererleichterungen hält Kituyi erst dann für gerechtfertigt, "wenn alternative Einkommensquellen erschlossen worden sind".

Unter diesen Vorgaben wäre die Suche nach Investoren nicht länger ein Unterbietungswettbewerb. Der Arbeitsmarkt in den LDCs tendiert derzeit zu zwei Extremen: entweder zu Beschäftigung in informellen Klein- und Mikrounternehmen oder in riesigen, kapitalintensiven Exportunternehmen.

Einerseits gibt es die kleinen Firmen, die oft nur aus Mitgliedern einer Familie bestehen. Auf der anderen Seite diktieren die Rohstoffpreise, die nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds in den nächsten Jahren stetig sinken werden, Einstellungen oder Entlassungen von Arbeitskräften.


Mittelstand fehlt

In diesen Ländern fehlen mittelständische Unternehmen, die in einem großen Teil der industrialisierten Welt feste Arbeitsplätze bieten. Experten sind sich einig, dass der Aufbau dieses Sektors in erheblichem Maße davon abhängig sein wird, den auf hohen Mehrwert ausgerichteten Bereich der Hauptausfuhrgüter in den Griff zu bekommen. So sollten die Staaten etwa selbst Eisen produzieren, anstatt nur Erz zu verschiffen.

Ein 2010 erlassenes Gesetz in Indien, das nicht zu den LDCs gehört, schreibt bereits eine 30-prozentige Ausfuhrsteuer auf Eisenerz vor. In dem südamerikanischen Staat Chile, der als Paradies des freien Marktes gilt, übt die Regierung weiterhin eine strenge Kontrolle über die Kupferindustrie aus. Dadurch werden Arbeitsplätze und zugleich souveränes Eigentum erhalten.

Die Länder begreifen allmählich, dass es keine Standardlösungen für ihre Probleme gibt. "In der Asien-Krise war Malaysia das einzige krisenresistente Land der Region, weil es Maßnahmen und Strategien zur Kontrolle des freien Kapitalflusses umgesetzt hatte", so Delelegn.

Auch bei den internationalen Finanzorganisationen findet allmählich ein Umdenken statt. 2011 hatte der Weltwirtschaftsfonds IWF in einem Papier eingeräumt, dass Kapitalkontrollen durchaus sinnvoll sind. Doch die LDCs könnten zu der Erkenntnis kommen, dass sie überhaupt besser ohne die Kredite des IWF dastehen. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://unctad.org/en/pages/aldc/Least%20Developed%20Countries/The-Least-Developed-Countries-Report.aspx
http://www.wfp.org/content/istanbul-programme-action-least-developed-countries-decade-2011-2020
http://www.ipsnews.net/2013/11/jobless-growth-21st-century-condition/

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IPS-Tagesdienst vom 27. November 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2013