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INTERNATIONAL/331: Streifzug durch Armenien (lunapark21)


lunapark 21, Heft 38 - Sommer 2017
zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie

Streifzug durch Armenien

Von Hannes Hofbauer


Wir treffen den jungen Ökonomen im "Anti-Café" an der Buzand-Straße im Zentrum der Hauptstadt. Sein Freund betreibt dort ein ungewöhnliches Geschäft. Der Mangel an Treffpunkten für Studierende hat ihn auf die Idee gebracht, Raum für Freizeit und gemeinsames Lernen zu vermieten. Die Managerin des "Anti-Café" sorgt dafür, dass zu jeder Zeit Tee, Kaffee und Kekse frei verfügbar sind und koordiniert die unterschiedlichen Kleingruppen, die sich in den drei Räumen im dritten Stock eines Altbaugebäudes treffen. Die Miete berechnet sich aus der Anzahl der Stunden und Menschen, die das Angebot nutzen. Eine Tafel weist darauf hin, was gerade in den einzelnen Räumen vor sich geht. Neben einem Englischkurs steht an diesem späten Nachmittag ein beliebtes Kartenspiel mit dem Namen "Mafia" auf dem Programm. Für das Interview mit dem jungen Ökonomen fällt keine Gebühr an, weil sein Freund der Besitzer des "Anti-Cafés" ist.

Im Eingangstor des Hauses stehen zwei Polizisten lässig rauchend und verstellen einem den Weg. Vom "Anti-Café" haben sie noch nie etwas gehört. obwohl es viele junge Leute anzieht, die ständig ein- und ausgehen. Warum die beiden Wachleute dort stehen, darüber rätselt auch der Betreiber des seltsamen Geschäftsmodells. Vielleicht, weil im oberen Stockwerk ein Büro des Verkehrsministeriums untergebracht ist? Oder weil unterhalb davon fallweise die Reste der Kommunistischen Partei Armeniens hinter einstmals schalldichten Tapetentüren tagen? Am wahrscheinlichsten, so einigt man sich schließlich. ist es allerdings, dass die Vertreter der Staatsmacht vor dem Regen ins Haus geflüchtet sind. Anklänge an Geschichten, die an das berühmte "Radio Erewan" erinnern, findet man allenthalben in Armenien.

Russische Liaison

Im September 2013, zwei Monate vor dem EU-Gipfel von Vilnius, auf dem Brüssel ein Assoziierungsabkommen mit vier von sechs ex-sowjetischen Republiken unterschreiben wollte, erklärte der armenische Präsident Sersch Sargasjan den Beitritt seines Landes zur russisch dominierten Zollunion, der späteren Eurasischen Union. Damit folgte er der wirtschaftlichen Logik. hängt doch das kleine Land in wesentlichen ökonomischen Fragen von Russland ab. Zollfreiheit zwischen Russland und Armenien ist zwar bislang noch nicht hergestellt, erklärt der junge Wirtschaftswissenschaftler Albert Badaljan, aber die Barrieren sinken. zwischen 2013 und 2017 im Durchschnitt von 33 auf 20 Prozent. Dass für Autos aus Russland immer noch Zollgebühren anfallen, verärgert die Menschen.

Die strategischen Sektoren der armenischen Wirtschaft, allen voran die Energie, sind extrem monopolisiert. Die Gasversorgung obliegt der russischen Gasprom. Und seitdem Beitritt zur Zollunion hat sich mit Rosneft der größte russische Player auch den kompletten armenischen Erdölmarkt unter den Nagel gerissen. In der Person des reichsten Armeniers. Samvel Karapetjan, wird überdeutlich, wie eng die die Oligarchenwirtschaft mit Russland verwoben ist. Der Eigentümer der Tashir-Gruppe verfügt u.a. über die Mehrheit beim armenischen Stromversorger. Sein Vermögen wird auf knapp 5 Milliarden US-Dollar geschätzt und sein Bruder Karen führt aktuell das Land als Premierminister, was sicherlich nicht zum Schaden des Geschäftsmannes geschieht. Übrigens: Samvel Karapetjan hat seit den 1990er Jahren seinen Hauptwohnsitz in Russland.

Die Zeiten, in denen Armenien als hochqualifizierte Werkstatt der Sowjetunion galt. sind unwiederbringlich vorbei. Große Chemie-, Metall- und Maschinenbauwerke in Kirowakan (Vanadsor) und Jerewan schlossen nach 1991 ihre Fabrik-Store, Industriegiganten wie Nairit oder Kondensatori sind zerschlagen und existieren nicht mehr Von den einstmals 1100 Fabriken der Kaukasusrepublik ist nur eine Handvoll übrig geblieben. Heute ist Armenien deindustrialisiert; exportiert werden landwirtschaftliche Produkte und junge Arbeitskräfte. Der einzige Sektor, der signifikante Steigerungsraten zu verzeichnen hat, ist die IT-Branche.

Mehr als 450 kleine und mittlere Firmen, viele davon Ein-Mann-Betriebe, tummeln sich in der digitalen Welt Armeniens, erzählt der Ökonom Albert Badaljan: "Unsere IT-Spezialisten arbeiten für Firmen in Polen, den baltischen Staaten und Deutschland als ausgelagerte Betriebe und Menschen." Die Branche boomt, weil es keine Regeln gibt, keinen Zoll, keine sozialen Mindeststandards und niemanden, der eine gerechte Besteuerung der Einkünfte vornimmt. Junge Armenier sitzen vor ihren Bildschirmen und sind mit polnischen, baltischen, indischen und deutschen Unternehmen vernetzt, die ihre billige Arbeitskraft zu schätzen wissen. Ein armenischer Programmierer ist bereits für 300 Euro pro Monat zu haben, Top-Leute können bis zu 2000 Euro verdienen. Soziale Absicherung ist Vereinbarungssache, meint Badaljan. Sie hängt von den einzelnen Unternehmen ab, manche gewähren eine Sozial- und Pensionsversicherung, andere nicht. Zwar gibt es prinzipiell ein armenisches Gesetz, das erwerbstätigen Menschen soziale Sicherheit garantiert, aber es hält sich kaum jemand daran. Selbst die staatliche Universität, an der unser Gesprächspartner unterrichtet, sieht keine Sozialversicherung für ihn vor.

Industriebrache Vanadsor

Im Zentrum der früheren sowjetischen Industriestadt Kirowakan (Vanadsor) wuchert ein Straßenmarkt weit über das dafür vorgesehene Rinok-Gebäude hinaus. Viel Landbevölkerung kommt hierher, um direkt aus dem Auto heraus Gemüse zu verkaufen; nebenan sitzen Frauen vor Holzsteigen, auf denen zwei Dutzend Bund Petersilie oder diverse Bergkräuter ausgebreitet sind. Alte Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, sind nun auf Zuverdienst aus Kleinstverkäufen angewiesen, um ihr karges Auskommen zu finden. Die Jungen wiederum setzen alles daran, um wegzuziehen. Verlassene Dörfer zeugen vom Sog der Emigration oder der Übersiedlung in die Hauptstadt Jerewan.

In der Industriestadt lebten in den glorreichen 1970er Jahren, als sie noch Kirowakan hieß, 150.000 Menschen, heute sind es nur noch 80.000. Massiv gebaute vierstöckige Wohnhäuser entlang der Argishti-Straße erinnern noch an die Blüte sowjetischer Industrialisierung. In den 1980er Jahren brachen mehrere Katastrophen über den von hohen Bergen umgebenen Chemie- und Maschinenbaustandort herein. Der die marode Planwirtschaft zerstörenden Perestroika folgte am 7. Dezember 1988 zur Mittagszeit ein verheerender Erdstoß, der 200 Ortschaften in der Umgebung von Kirowakan und Leninakan (heute: Gjumri) völlig zerstörte und den Mittelpunktort schwer erschütterte. Die folgende Oligarchisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die im Zuge der harschen Privatisierung wenige reich und die allermeisten arm gemacht hat, zeigt sich an manchen Stellen auf geradezu irrwitzige Weise; z.B. dort, wo in einer typisch sowjetischen Hinterhofgarage jenseits des knarrenden und rostenden Blechtores ein blitzblank geputzter. weißer Bentley aufbewahrt wird. dem nur ein eingefleischter Automobilverächter eine Ausfahrt über die mit Schlaglöchern übersäten Straßen von Vanadsor oder gar in Richtung Jerewan wünscht.

Eine parallel zum Zerfall der Sowjetunion. dem Erdbeben und den sozialen Verwerfungen eingetretene weitere Katastrophe ist zu 50 Prozent armenisch hausgemacht. Nur wenige Monate nach der Unabhängigkeitserklärung der christlichen Kaukasus-Republik vom 21. September 1991 steigerten sich die Territorialkonflikte mit dem benachbarten Aserbaidschan zum veritablen Krieg, der auf kleiner, aber immer wieder tödlicher Flamme bis zum heutigen Tag weiterbrennt.

Der wuchtige Bahnhof der nordarmenischen Stadt liegt verwaist am Ufer des Flusses Pambak. Die große Halle ist zur Mittagszeit völlig menschenleer, an der Wand befindet sich eine aus Ton gebrannte Landkarte mit den Zugverbindungen in Sowjetzeiten. Diese reichten von Jerewan im Westen bis Wladiwostok im Osten. Heutzutage hält gerade einmal ein Zug pro Tag in Vanadsor, um auf seinem Weg von Jerewan nach Tiflis Passagiere aufzunehmen. Für die 180 Kilometer entfernt liegende georgische Hauptstadt benötigt er die ganze Nacht.

Vor dem Bahnhof schieben Chauffeure ihre Gas-betriebenen Busse hin und her. die allesamt schon 40 Jahre und mehr auf ihren Rädern rollen. Dazwischen warten Marschrutki-Taxis auf Reisende. Ihre Routen führen in südrussische Städte wie Rostow, Sotschi oder Anapa, für die Menschen aus Vanadsor keine Feriendestinationen, sondern Arbeitsorte, die sie über den großen Kaukasus pendeln lassen. Viele Armenier verdingen sich als Gastarbeiter am Bau in Russland.

Das Dom Kulturi - Kulturhaus - zieht unsere Blicke auf sich. Von außen sieht man ihm noch seine Funktion als gesellschaftlicher Treffpunkt für Kunst und Kultur an. Der Blick ins Innere zeigt jedoch, dass es zu einem riesigen Kartoffellager umfunktioniert wurde. Eine knapp 50jährige Frau, die gerade mit einer elektronischen Waage ins Freie tritt, antwortet auf die Frage, wie es denn zu dieser Transformation vom Kulturpalast zum Gemüselager kommen konnte mit einem vielsagenden Blick, der die Geschichte der vergangenen 25 Jahre in sich trägt.

Wer kann, emigriert

"Die Emigration ist unser größtes Problem. schlimmer noch als der Krieg mit Aserbaidschan", meint Garik Kurghinjan, ein junger Assistent von der staatlichen Wirtschaftsuniversität Jerewan Viele seiner Studienkollegen sind ins Ausland gegangen. Russland zieht gut ausgebildete Techniker oder Mediziner genauso an wie westeuropäische Staaten oder die USA. Die Eurasische Union, die ehemalige Sowjetrepubliken wie Belarus, Kasachstan, Kirgisien und Armenien unter Moskauer Führung wirtschaftlich und politisch zusammenschweißen soll, bietet den Vorteil eines gemeinsamen Marktes, in dem Visa-frei gereist und gearbeitet werden kann. Auch für Georgien und den Iran benötigen Armenierinnen und Armenier keine Visa. Auf der anderen Seite existiert für den von Intellektuellen viel gelobten Westen eine ganze Reihe von Einreisebeschränkungen.

Über eine Million Menschen sind seit dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahre 1991 aus Armenien emigriert. Schätzungsweise 30 Prozent der Bevölkerung haben ihre Heimat verlassen. Es handelt sich dabei statistisch um den größten Bevölkerungsverlust eines Landes, der in den vergangenen Jahrzehnten gemessen wurde. Selbst Bulgarien, das seit dem Systemwechsel 1989/91 12 Prozent seiner Menschen durch Auswanderung verlor, liegt damit weit hinter Armenien.

Die Wellen der Emigration werden indes nicht niedriger. Nach einer Gallup-Umfrage von 2012 wollen 40 Prozent der Befragten Armenien den Rücken kehren, sobald sich eine Gelegenheit dafür bietet. Die traditionelle armenische Diaspora, die seit dem Ende des Osmanischen Reiches und den Massakern an der armenischen Bevölkerung im Jahr 1915 viele Gegenden dieser Welt erreicht hat, bietet für viele Auswanderungswillige einen ersten Anker in der Fremde, dem weitere Kettenmigrationen folgen.

70 Prozent der Emigranten verschlägt es nach Russland, wofür neben dem gemeinsamen Wirtschaftsraum die guten russischen Sprachkenntnisse und vergleichsweise höhere Löhne verantwortlich sind. Mit diesen Löhnen unterstützen die Auswanderer ihre Familien zu Hause. Armenien kann mit Fug und Recht als "Remittance-Ökonomie" bezeichnet werden. Rücküberweisungen aus dem Ausland machen geschätzte 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Für das Jahr 2017, so der Ökonom Garik Kurghinjan, rechnet die Regierung mit 3,2 Milliarden US-Dollar an Diaspora-Geldern. Diese entlasten indirekt das Budget. stellen aber gleichzeitig ein großes Problem für die Allgemeinheit dar. Denn Rücküberweisungen sind in aller Regel familiäre Unterstützungsgelder. Dringend notwendige Infrastrukturmaßnahmen bleiben auf der Strecke, wie ein Blick auf das desaströse Straßennetz - gar nicht zu reden vom Schienennetz - offenbart. Unkoordinierte Protzbauten einzelner Auslandsarmenier wie Charles Aznavour oder Samvel Karapetjan für Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen komplettieren das Bild einer Gesellschaft, deren Politik auf dem Paternalismus und der Spendenfreudigkeit einzelner Oligarchen beruht. Der Staat Armenien begnügt sich mit der Aufgabe. dieses notdürftig zu verwalten.


Von Hannes Hofbauer ist in vierter Auflage erschienen: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung (Promedia Verlag).

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Inhaltsverzeichnis lunapark 21, Heft 38 - Sommer 2017

Lunart: Plakat zum UN-Klima-Gipfel, Paris 2016
editorial
quartalslüge: II/MMXVII "Wir retten das Klima"
kolumne winfried wolf: Die kommende Krise

welt & wirtschaft
Winfried Wolf • Schiefe Ebene - zwischen Frankreich und Deutschland
Bernard Schmid • Macron: Abbau von Demokratie & sozialen Rechten
Christian Bunke • Großbritannien: Ein kaum erwarteter Erfolg für die Linke
Jürgen Wagner • EU-Militarisierung: "Visionen", die Albträume sind
Hannes Hofbauer • Streifzug durch Armenien
lexikon Georg Fülberth • Schutzzoll & Freihandel
Thomas Fruth • Blick von Mexiko nach Norden: TLCAN - für Mexiko ein Desaster
Klaus Hess • EU-Freihandelspolitik im globalen Süden

märchen des neoliberalismus (nr. 9)
Kai Eicker-Wolf & Patrick Schreiner • "Wir müssen die Globalisierung gestalten!"

soziales & gegenwehr
Daniel Behruzi • Wirtschaftsunternehmen Krankenhäuser: Geld statt Gesundheit
Armin Kammrad • Kampagne: Gleichbehandlung von Leiharbeit & Stammbelegschaften

feminismus & ökonomie
Therese Wüthrich & Yvonne Zimmermann • Nein gegen Goldmine in Cajamarca, Kolumbien
Stephanie Odenwald Feminismus & Arbeit: Die zwei Gesichter der Arbeit

spezial >> klima. kapital. katastrophen
Urs-Bonifaz Kohler • It's the capital stupid!
Wolfgang Pomrehn • Dampfwalze Trump: Komplikationen beim Klima-Abkommen-Ausstieg
US-Klimaleugner: mächtig & finanzstark
Klaus Meier • Trump sagt zum Klimavertrag das, was das Kapital macht
Carl Waßmuth • Autobahnen: Privatisierung der Daseinsvorsorge als Coup
Winfried Wolf • Debatte zur Schieneninfrastruktur
Leitantrag der GDL zur Schieneninfrastruktur: "Stärkung des Eisenbahnsystems"
Peter Westenberger • Trassenpreisanstieg gefährdet Schienenverkehr
Bernhard Knierim • Imperiale Lebensweise

kultur
Klaus Gietinger • Über den Filmregisseur Wolfgang Staudte: Mörder unter und in uns

ort & zeit
Fritz Hoffmann • Paulínia, Brasilien: "Pflanzenschutz" = Menschenleben vernutzt

der subjektive faktor
Christian Walter • Containern ist kein Verbrechen!

geschichte & ökonomie
Thomas Kuczynski • Oktoberrevolution: Eine Revolution gegen das "Kapital"?

seziertisch (nr. 175)
Georg Fülberth • Zwei Etikettenschwindel

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Quelle:
Lunapark 21, Heft 38 - Sommer 2017, Seite 20 - 22
Herausgeber: Lunapark 21 GmbH, An den Bergen 112, 14552 Michendorf
Telefon: 030 42804040
E-Mail: www@lunapark21.net
Internet: www.lunapark21.net
 
Lunapark 21 erscheint viermal jährlich.
Einzelheft: 6,50 Euro + Porto, Jahres-Abo: 26,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2017

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