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MEINUNG/035: Wie weiter im zurückbleibenden Osten? - Chancen der ostdeutschen Bundesländer (Karl Mai)


Wie weiter im zurückbleibenden Osten? - Chancen der ostdeutschen Bundesländer

von Karl Mai, 28. August 2013



"Die alten Ost-Themen sind abgearbeitet" konstatierte neuerdings der "Spiegel" (Nr. 35/2013, S. 49). Betrachtet man einige der aktuellen Wahlbeeinflussungen, könnte man dem "Spiegel" zustimmen. Jedoch fordert der "Spiegel-Autor" Stefan Berg zugleich auch: "Die im Grundgesetz proklamierte Angleichung der Lebensverhältnisse bleibt permanenter Auftrag" (S. 49) - wohl für die Zukunft. Also: Sie ist keineswegs erledigt, sondern erscheint aktuell nur "abgearbeitet", wird mithin vertagt.

Was besagt nun wirklich die offizielle Wirtschaftsforschung?

Das IWH-Halle hält in seiner jüngsten Analyse der ostdeutschen Wirtschaft (Juli 2013) eine optimistische Zukunftserwartung für unrealistisch und konstatiert einen Rückschlag im makroökonomischen Konvergenzprozess Ost/West.[1] Hier nur einige Daten im Zitat:

Westdeutschland = 100 %     -     Zahlen für 2012
 
Bruttoinlandprodukt je Einwohner (BIP)     -     67,6 %
Arbeitnehmerentgeld je Arbeitsstunde     -     71,3 %
Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde     -     71,3 %
(IWH-Pressemitteilung 28/2013, Langfassung, S. 21)


Danach ist der 2012 erreichte Stand der Ost-Westangleichung beim BIP je Einwohner bei ca. 2/3 und bei Arbeitsproduktivität und Arbeitnehmerentgeld bei ca. 0,7 des Weststandes angelangt, also - entgegen dem "Spiegel" - keineswegs als "abgearbeitet" oder "erledigt" zu betrachten. Weiter mit Zitaten aus der angeführten IWH-Pressemitteilung:

"Die Zuwachsraten liegen nun seit dem Jahr 2010 unter denen im Westen Deutschlands." (S. 1)

"Alles in allem dürfte die gesamtwirtschaftliche Produktion in Ostdeutschland im Jahr 2013 stagnieren, während sie in Gesamtdeutschland um 0,7% zulegen dürfte. Nach diesem Konjunkturbild würde die ostdeutsche Wirtschaft in den Jahren 2011 bis 2013 mit etwa 0,7% pro Jahr wachsen. Der Wachstumsabstand zwischen Ost und West entspricht damit in etwa der Differenz in der Bevölkerungsentwicklung (vgl. Tabelle 19). Konvergenz des gesamtwirtschaftlichen Outputs findet also zurzeit auch pro Kopf nicht mehr statt." (S. 22)

Damit setzt diese hier angeführte IWH-Analyse die kritische Sichtweise der Studie "Ostdeutschland 2020. Die Zukunft des 'Aufbaus Ost'" fort, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahre 2012 vorgelegt wurde. Nach Diskussion verschiedener ambivalenter Positionen zur Konvergenz kam sie - gemäß auch der Auffassung von Fisch (2010) - zu dem Ergebnis, dass "der Konvergenzprozess kein automatischer Prozess" ist und "ohne fortgesetzte Hilfen gefährdet sei." (S. 31) Diese Deutung hat sich infolge des Rückgangs der Gesamtinvestitionen in die ostdeutsche Verarbeitende Industrie (Plan 2013 = ./. 10,4 %) danach bestätigt.[2]

Tatsächlich sind die auch durch Umfragen dokumentierten Erwartungen in Ostdeutschland dreiundzwanzig Jahre nach der staatlichen Vereinigung nicht mehr tendenziell optimistisch zu nennen, sondern skeptisch bis differenziert pessimistisch geworden. Joachim Ragnitz fasst die auf alle Bundesländer erweiterten historischen Konvergenz-Untersuchungen im ifo-Dresden wie folgt zusammen:

"Was folgt hieraus für die Konvergenzperspektiven der neuen Bundesländer? Vermutlich nichts Gutes. Zum einen sind die Einflussmöglichkeiten der Landespolitik offenkundig begrenzt; vielmehr spielen singuläre Ereignisse und sektorspezifische Trends eine wichtige Rolle (die man freilich zu beeinflussen versuchen kann). Und zum anderen fehlt es in den ostdeutschen Ländern (von Berlin einmal abgesehen) an wirtschaftlichen Agglomerations-Zentren, die die Rolle eines Wachstumspols (wie es München oder Frankfurt sind) übernehmen könnten." (S. 2)

Die Schlussfolgerung für die ostdeutsche Unterentwicklungsregion ist allerdings zwiespältig:
"Angesichts der nicht unbeträchtlichen Unterschiede in der Wirtschaftskraft der westdeutschen Bundesländer scheint es überhaupt sinnvoll, vom Ziel einer Angleichung an das westdeutsche Durchschnittsniveau abzusehen und stattdessen unabhängig von derartigen quantitativen Zielgrößen zu versuchen, eine positive wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland und seinen Regionen anzustoßen." (S. 2) Also Wirtschaftsförderung ohne feste Zielgrößen der aufholenden Anpassung Ost-West.

Diesem Ratschlag folgen offenbar gegenwärtig die Politiker. Ein Blick in die Wahlprogramme der Bundestagsparteien reflektiert diese Ernüchterung. "Ostdeutschland ist in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien zumeist nur ein Randthema. Nur DIE LINKE und die Union haben der Zukunft der neuen Bundesländer eigene Kapitel gewidmet, wobei die CDU/CSU in ihren Aussagen sehr allgemein bleibt." Diese generelle Einschätzung zur Rolle Ostdeutschlands in den Wahlprogrammen durch die hier zitierte RLS-Studie ist zutreffend.[3]

Weiter heißt es dort: "Die Unionsparteien halten (wie DIE LINKE) den Solidarpakt II für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern für unverzichtbar und wollen die Schaffung neuer, hoch qualifizierter Arbeitsplätze weiter unterstützen. Ziel bleibe die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch eine auf die speziellen Bedürfnisse der neuen Länder zugeschnittene Förderung von Forschung und Entwicklung. Die SPD will die noch immer 'schmerzlichen ökonomischen und sozialen Ungleichheiten zwischen Ost und West' durch eine solidarische Politik überwinden. DIE GRÜNEN plädieren für eine staatliche Förderung der Forschungslandschaft im Osten Deutschlands sowie für die Unterstützung beim Technologietransfer und bei der Clusterbildung [...] Ziel linker Politik sei es, die soziale und ökonomische Spaltung Deutschlands in Ost und West zu überwinden und den Auftrag des Grundgesetzes und des Einigungsvertrages endlich Wirklichkeit werden lassen."

Die FDP fordert, den Solidaritätszuschlag bis 2017 und die Aufbauhilfen Ost bis zum Auslaufen des Solidaritätspaktes 2019 schrittweise vollständig abzubauen. (S. 15) Sie negiert damit die Auffassung jener anderen Parteien, die eine Fortsetzung der spezifischen wirtschaftlichen/finanziellen Unterstützung wegen der eingetretenen Rückstände in der Ost-West-Angleichung für sinnvoll oder zwingend halten.

Dabei tritt bei einigen Bundestagsparteien völlig in den Hintergrund, dass die bisher geleisteten finanziellen West-Ost-Transfers einen ostregionalen Importüberschuss begründeten, der sich auf Dauer in einem Zuwachs der Einnahmen in den westdeutschen öffentlichen Haushalten und Sozialversicherungskassen in Höhe von jährlich ca. 40 Milliarden Euro [4] niederschlug .

Das entspricht für einen Zeitraum von zwanzig Jahren in etwa einer kumulativen Größenordnung von 800 Mrd. Euro an kassenmäßigen Zusatzeinnahmen durch den West-Ost-Transfer und entsprechend hohen westregionalen privatwirtschaftlichen Produktionsleistungen. Wird diese Produktionsleistung nach Wegfall der West-Ost-Transfers nicht durch ostdeutsche Mehrleistung kompensiert, tritt kompensatorisch ein gesamtdeutscher BIP-Rückgang sowie ein ostdeutscher Minderverbrauch in dieser fehlenden Größenordnung ein.

Fazit: Die Polarisierung der öffentlichen Meinung in der Frage "Wirtschaftsförderung Ost" erscheint vor der Bundestagswahl 2013 zwingend, um die Konsequenzen und Perspektiven der künftigen Politik gegenüber der ostdeutschen Entwicklungsregion zu verdeutlichen. Dazu hat die AG "Alternative Wirtschaftspolitik" in den zurückliegenden Jahren durch ihre Memoranden und Sonder-Studien stets wesentlich beigetragen.

Gegenwärtig geht es im Zuge der innerdeutschen Solidarität nicht um eine isolierte Fixierung auf den Osten. Es geht nicht allein oder vorrangig um die immer noch vorhandenen volkswirtschaftlichen Rückstände Ost gegenüber West. Zunehmend sind auch gemeinsame sozialpolitische Herausforderungen in Ost und West zu lösen, die zur Überwindung der Disparitäten in den regionalen Lebensniveaus drängend sind.

In diesem Sinne ist eine generelle Neuordnung des Steuersystems sowie des föderalen Finanzausgleichs notwendig oder dringend geboten, die den verfassungsrechtlich geforderten regionalen Angleichungsprozess in Deutschland fördert und erleichtert.


Fußnoten
[1] IWH-Halle, Pressemitteilung Nr. 28/2013, Langfassung - Kurze Literaturangaben
[2] Vergl. Fußnote 1, S. 14
[3] Hildebrand/Weichhold, "Bundestagswahl 2013. Wahlprogramme der Parteien im Vergleich", RLS-Studie, Reihe Papers, Juli 2013
[4] Vergl. "Deutsche Zweiheit etc.", S. 103 - Kurze Literaturauswahl. Die Abgrenzung dieser Summe ist nach verschiedenen Quellen in ihrer Höhe schwankend.


Kurze Literaturauswahl:
  • AG Alternative Wirtschaftspolitik, "Deutsche Zweiheit - Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?- Bilanz der Vereinigungspolitik", PapyRossa 2010
     
  • Busch/Kühn/Steinitz, "Entwicklung und Schrumpfung in Ostdeutschland. Aktuelle Probleme im 20. Jahr der Einheit", VSA 2009
     
  • DIW, "Die Wirtschaft in Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Fall der Mauer", Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, 2/2009
     
  • IWH, "Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren", Sonderheft 1/2009
     
  • IWH-Halle, Pressemitteilung Nr. 28/2013, Langfassung

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Quelle:
© 2013 by Karl Mai
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2013