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MEINUNG/044: WTO - Handelserleichterungen oder Handeslhalluzinationen? (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2014
REGulIEREN - ABER WIE?
Vom Sinn und Unsinn der (De-)Regulierung

Handelserleichterungen oder Handelshalluzinationen?
Was hat die Welthandelsorganisation noch zu bieten - außer Konflikten?

Von Jürgen Knirsch



Entging die Welthandelsorganisation (WTO) noch im Dezember 2013 auf ihrer letzten Ministerkonferenz in Bali "knapp dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit", so scheint sie in diesem Sommer ihren weiteren Fall fortzusetzen. Denn Ende Juli verstrich die Frist, den Beschluss von Bali über ein Abkommen für Handelserleichterungen zu konkretisieren.


Die WTO liefert unseren Medien nur noch selten Anlass zur Berichterstattung. Anfang August 2014 erlangte sie allerdings noch einmal kurz deren Aufmerksamkeit. Der Beschluss von Bali über ein Abkommen für Handelserleichterung (Trade Facilitation Agreement, TFA) wurde nicht fristgerecht umgesetzt. Auf Bali war 2013 nach schwierigen und kontroversen Verhandlungen ein Paket aus Beschlüssen zu Handelserleichterungen, Agrarfragen und Entwicklung verabschiedet worden. Dieses Bali-Paket nährte Hoffnungen, die WTO könne doch noch irgendwann ihre Doha-Handelsrunde zum Abschluss bringen.(1) War doch das Thema Handelserleichterungen Bestandteil dieser Runde, die 2001 gestartet wurde und ursprünglich zum 1. Januar 2005 ihren Abschluss gefunden haben sollte. Ziel dieser insgesamt zwanzig Bereiche umfassenden Doha-Runde ist es, die Märkte (vor allem bei landwirtschaftlichen und nicht-landwirtschaftlichen Gütern und Dienstleistungen) weiter zu öffnen, zudem sollen die Entwicklungsländer besser in das System des Welthandels eingebunden werden.

"Back to the dark"?

Wesentlicher Bestandteil des Bali-Kompromisspakets war - zumindest aus Sicht der Industrieländer - das beschlossene Abkommen für Handelserleichterungen. Maßnahmen zur Handelserleichterung sollten den grenzüberschreitenden Handel vor allem in den Entwicklungsländern schneller und effektiver machen und damit den Handelsfluss von den Industrienationen in die Entwicklungsländer deutlich erhöhen. Von "Handelshalluzinationen" spricht dagegen der Forscher Jeronim Capaldo von der US-amerikanischen Tufts University, der Abschätzungen über die Auswirkungen von Handelserleichterungen untersuchte.(2) Sein Ergebnis: Die offiziellen Schätzungen tendieren dazu, den Nutzen der Handelserleichterungen überzubetonen, deren Kosten aber zu ignorieren.

Für die Entwicklungsländer - allen voran für Indien - stand dagegen in Bali die Frage im Vordergrund, welche Rechte ihnen zustehen, die Ernährung ihrer Bevölkerung zu sichern - etwa durch Aufkäufe zu staatlich fixierten Preisen und Lagerung von Grundnahrungsmitteln durch den Staat.

Der in Bali beschlossene TFA-Text enthielt die Vorgabe, bis zum 31. Juli 2014 ein Protokoll anzunehmen, durch welches das TFA erst rechtswirksam werden würde. Als sich abzeichnete, dass eine Einigung über dieses Protokoll nur schwer zu erzielen war, gaben die USA die Lesart vor, wer die Konsequenzen eines Scheiterns zu verantworten hätte: Einzelne Entwicklungsländer. So erklärte am 25. Juli 2014 der stellvertretende US-Handelsbeauftragte Michael Punke: "[W]e are extremely discouraged that a small handful of Members in this organization [WTO] are ready to walk away from their commitments at Bali, to kill the Bali agreement, to kill the power of that good faith and goodwill we all shared, to flip the lights in this building back to dark".(3)

Nur ein weiteres Reißen einer Deadline? Oder mehr?

WTO-Generaldirektor Roberto Azevêdo musste am 31. Juli 2014 den WTO-Mitgliedern mitteilen, dass es nicht gelungen sei, fristgerecht eine Lösung zu finden, die den Graben zwischen den beiden unterschiedlichen Positionen überbrücken könne. Zwischen der einen Seite, die sagte, dass die Beschlüsse von Bali keinerlei Korrekturen zulassen, und der andere Seite, die diese Korrekturen einforderte. Für Roberto Azevêdo ist dieses erneute Nichteinhalten einer Frist nicht etwas, was schlicht übergangen oder durch das Setzen eines neuen Termins ausgeglichen werden kann - für ihn wird dieses Reißen ernsthafte Konsequenzen haben. Drohend wies er daraufhin, dass der "Drei-Säulen-Charakter" der WTO (Abkommen, Streitschlichtung, Monitoring) es erfordere, dass alle drei Säulen auch funktionieren müssen - falls nicht, so wären "the smallest nations [...] the biggest losers".(4)

Gabriels eindeutige Schuldzuweisung

Für das deutsche Wirtschaftsministerium (BMWi) steht der Schuldige für das Nichteinhalten der Deadline eindeutig fest: "Indien hat die Annahme eines Protokolls, mit dem entsprechende Vereinbarungen der Welthandelskonferenz auf Bali im vergangenen Dezember besiegelt werden sollten, blockiert". Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel äußerte sich am 1. August 2014 besorgt: "Die Bundesregierung bedauert sehr, dass in der WTO in Genf keine Einigung über die konkrete Anwendung des Abkommens für Handelserleichterungen erzielt werden konnte. [...] Gerade Schwellen- und Entwicklungsländer hätten von den in Bali beschlossenen Handelserleichterungen besonders profitiert." Die Konsequenzen für die weitere Arbeit der WTO - so das BMWi - seien "noch nicht abzusehen; dieser gravierende Rückschlag könnte jedoch die gesamte Doha-Entwicklungsrunde gefährden".(5)

Das eigentliche Problem: Die Gesamtverpflichtung

"WTO-Verhandlungen sind am Prinzip des 'Single Undertaking' ausgerichtet. Das bedeutet, dass Beschlüsse zu einzelnen Punkten einer Handelsrunde erst verbindlich werden, wenn Konsens zu allen Verhandlungsgegenständen besteht. Da die WTO-Mitglieder in entscheidenden Punkten noch keine Einigung erzielt haben, konnte die Doha-Runde bislang nicht zum Abschluss gebracht werden".(6) So erklärt die Homepage des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die Art und Weise, wie bei der WTO Handelsrunden beendet werden. In einem Kommentar für den SouthNorth Development Monitor (SUNS) zählt deren Chefredakteur Chakravarthi Raghavan nicht nur eine lange Liste von nicht-eingehaltenen WTO-Deadlines auf, weil die USA und andere Industrienationen einen Konsens verweigerten.(7) Er weist auch auf einen anderen, zentralen Konfliktpunkt hin: Ob das TFA, das Bestandteil der laufenden Handelsrunde sei und demnach im Rahmen einer Gesamtverpflichtung ausgehandelt werden müsse, allein verabschiedet werden könne. Mehrere Entwicklungsländer wie Indien, Südafrika, Bolivien, Kuba, Venezuela, Zimbabwe und die Salomon-Inseln haben betont, dass das TFA kein "stand-alone agreement" ist und dass es nur im Rahmen des Abschlusses der Doha-Runde in Kraft treten kann. Diese Sicht brachten sie bereits im letzten Jahr ein und forderten vergeblich, sie im Bali-Beschluss zu berücksichtigen. Würden sie jetzt dem TFA zustimmen, ohne bei anderen Verhandlungsbereichen der Doha Runde Zugeständnisse erzielt zu haben, hätten sie ihre Verhandlungsposition deutlich geschwächt.

Keine Heilung für den "kranken Mann des Multilateralismus"

Auch im zwanzigsten Jahr ihres Bestehens hat die WTO ihre Kinderkrankheiten nicht überwunden, sondern das Krankheitsbild verschärft: Die großen und substantiellen Probleme bleiben ungelöst, Wohlfahrtseffekte für alle - und vor allem für die ohnehin Schwachen - wurden nicht erzielt. Peter Wahls (Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung, WEED) ausführliche Analyse über die Krise und den Bedeutungsverlust der WTO endet mit der Feststellung: "[D]ie USA und - mit Modifikationen - auch die EU marginalisieren [die WTO] und etablieren stattdessen parallele und multiple Formate, mit denen sich die eigenen Interessen einfacher durchsetzen lassen als in der universalen WTO".(8) Die weiterhin berechtigten Kritikpunkte an der WTO werden durch die aktuellen Erfahrungen mit den bilateralen Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) beziehungsweise USA (TTIP) relativiert. CETA und TTIP dokumentieren, dass Verhandlungen durchaus noch undemokratischer und undurchsichtiger als bei der WTO durchgeführt werden können. Die gegenwärtige Schwäche der multilateralen Struktur der WTO dient denjenigen, die zur Durchsetzung ihrer Interessen auf bilaterale Abkommen setzen.


Autor Jürgen Knirsch ist Campaigner bei Greenpeace.



Literatur

(1) Siehe hierzu auch Francisco Mari, Tobias Reichert: "WTO meldet sich zaghaft zurück: 'Historischer' Einschnitt in der Handelspolitik knapp verhindert." In: Rundbrief 04/2013, S. 26f.

(2) Capaldo, Jeronim: Trade Hallucination: Risks of Trade Facilitation and Suggestions for Implementation. GDAE Working Paper 14-02, June 2014.
http://ase.tufts.edu/gdae/Pubs/wp/1402CapaldoTradeHallucination.pdf.

(3) Zitiert nach: Raghavan, Chakravarthi (with contributions from Kinda Mohamadieh): Misplaced claims of deadline sanctity for TFA. South-North Development Monitor (SUNS) #7855, 31 July 2014.
http://www.twnside.org.sg/title2/wto.info/2014/ti140801.htm.

(4) WTO: Azevêdo: Members unable to bridge the gap on trade facilitation. WTO News, 31 July 2014.
http://www.wto.org/english/news_e/news14_e/tnc_infstat_31jul14_e.htm.

(5) BMWI: Keine Einigung zu Handelserleichterungen. BMWI-Pressemitteilung, 1. August 2014.
http://www.bmwi.de/DE/Themen/aussenwirtschaft,did=648392.html.

(6) BMZ: WTO Doha-Runde. BMZ-Homepage.
http://www.bmz.de/de/was_wir_machen/themen/wirtschaft/welthandel/welthandelssystem/WTO/doha_runde.html

(7) Raghavan, Chakravarthi (with contributions from Kinda Mohamadieh): Misplaced claims of deadline sanctity for TFA. South-North Development Monitor (SUNS) #7855, 31 July 2014.
http://www.twnside.org.sg/title2/wto.info/2014/ti140801.htm.

(8) Wahl, Peter: "Der kranke Mann des Multilateralismus. Krise und Bedeutungsverlust der WTO - Ursachen, Hintergründe und Perspektiven." In: Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 98, Juni 2014.
http://www.zme-net.de/topic/71.ausgabe-98-juni-2014.html.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2014, Seite 18-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2014