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INTERNATIONAL/059: Chile - Prozess gegen Geheimdienstagenten der Diktatur (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. April 2012

Chile: Prozess gegen Geheimdienstagenten der Diktatur

von Marianela Jarroud



Santiago, 23. April (IPS) - Ein strafrechtliches Verfahren gegen 1.500 ehemalige Mitglieder der DINA, der Geheimpolizei der letzten Diktatur in Chile (1973-1990), soll weitere Einblicke in den wohl aktivsten Repressionsapparat des südamerikanischen Landes geben.

"Allgemein hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die DINA wie ein Killerkommando operierte. Deshalb wollen wir erreichen, dass ihre früheren Mitglieder als Angehörige einer illegalen Vereinigung Gegenstand der Ermittlungen werden", betonte der Menschenrechtsanwalt Boris Paredes.

Die in diesem Monat vom Zusammenschluss der Angehörigen Verhafteter Verschwundener (AFDD) eingereichte Klage stützt sich auf eine Namensliste, die der Generalstab des chilenischen Heeres im August 2008‍ ‍einem Richter überließ, der die Verbrechen in der Villa Grimaldi untersuchte. Die Villa Grimaldi war das größte Folterzentrum der Diktatur von Augusto Pinochet.

Die Liste enthält die Namen aller 1.500 DINA-Mitarbeiter einschließlich der zivilen Kräfte. Die DINA wurde 1977 aufgelöst und die Mitarbeiter in den Geheimdienst CNE integriert, der seinerseits vor dem Ende der Pinochet-Herrschaft aufgelöst wurde.

"Es ist wichtig, dass das Land weiß, wer in diesen beiden Institutionen aktiv war", sagte Paredes. Er fordert ein Gesetz, wie es bereits in Argentinien existiert, das die Menschenrechte schützt und Menschenrechtsverbrechen durch staatliche Akteure verbietet.


Alle wussten Bescheid

Der Jurist beruft sich auf Richter, denen zufolge es keinen einzigen DINA-Mitarbeiter gab, der über die Verbrechen der Geheimpolizei nicht im Bilde gewesen wäre. "Jeder Einzelne war ein Sandkorn im großen Getriebe der Tötungs-, Entführungs- und Foltermaschine", so Paredes.

Die AFDD-Sprecherin Gabriela Zúñiga kritisierte, dass bislang erst die "symbolischen" Figuren der Repression wie der DINA-Gründer General Manuel Contreras und der CNI-Chef Álvaro Corbalán zur Verantwortung gezogen worden sind. "Es gibt aber eine Vielzahl von Menschen, von denen wir nie erwartet hätten, dass sie damals mitgemacht haben", sagte die Aktivistin.

Als Beispiel nannte Zúñiga Rosauro Martínez, Abgeordneter der Regierungspartei Unabhängige Demokratische Union und paradoxer Weise Mitglied der Lateinamerikanischen Menschenrechtskommission sowie den Bürgermeister von Providencia, Cristián Labbé.

"In einer gesunden Gesellschaft, die auf politischer Ebene mit dem Kapitel der Menschenrechtsverletzungen abschließen will, sollten ehemalige Terroristen und Menschenrechtsverletzter nicht unbehelligt öffentliche Ämter bekleiden dürfen", so Zúñiga.

Nach Ansicht von Cath Collins, Leiterin der Menschenrechtsbeobachterstelle der Diego-Portales-Universität, war die DINA ein extrainstitutionelles System, das den Streitkräften die Möglichkeit geben sollte, sich von Menschenrechtsverbrechen zu distanzieren.

Verschiedene Gerichtsfahren und von AFDD gesammelte Dokumente belegen, dass die DINA zudem Angehörige ihrer eigenen Mitarbeiter umgebracht und Menschenrechtsverbrechen mit anderen südamerikanischen Diktaturen Südamerikas im Rahmen des 'Plan Kondor' koordiniert hatte.

Die Diktatur ließ 3.216 Menschen verschwinden. Insgesamt 38.254 Häftlinge überlebten Gefangenschaft und Folter, geht aus dem Menschenrechtsprogramm des chilenischen Innenministeriums hervor. Die Zahlen gründen auf Erkenntnissen einer Untersuchungskommission, die von 1991 bis 2004 von Raúl Rettig und 2004 bis 2011 vom inzwischen verstorbenen Bischof Sergio Valech geleitet wurde.


Nur wenige Menschenrechtsverletzer hinter Gittern

Wie die Menschenrechtsbeobachterstelle berichtet, dauern die Ermittlungen in 70 Prozent aller Fälle von Mord und Verschwindenlassen an. Im Zeitraum 2000 bis 2011 wurden insgesamt 824 Schergen der Diktatur vor Gericht gestellt und rechtskräftig verurteilt. 31 der Angeklagten sind in dem Zeitraum verstorben.

544‍ ‍der 793 Ex-Agenten, die noch am Leben sind, wurden Zielscheiben von Ermittlungen oder nach unbestätigten Angaben verurteilt. In 177 Fällen blieb den Verurteilten die Haftstrafe erspart, in 66 Fällen sitzen die Betroffenen hinter Gittern beziehungsweisem kamen in den Genuss einer Strafminderung beziehungsweise Strafumwandlung.

Dem Bericht ist ferner zu entnehmen, dass 47 respektive zehn der Menschenrechtsverletzer in den ausschließlich für Militärs vorgesehenen und recht luxuriösen Strafanstalten Punta Peuce und Cordillera einsitzen. Das gilt beispielsweise für Contreras und für den Ex-Brigadier Miguel Krassnoff, die zu 300 und 144 Jahren Gefängnis verurteilt wurden. (Ende/IPS/kb/2012)

Links:
http://es.wikipedia.org/wiki/Agrupaci%C3%B3n_de_Familiares_de_Detenidos_Desaparecidos
http://www.ipsnoticias.net/print.asp?idnews=100596

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2012